Berauschend polyphon

Wenn unbändige Erzählfreude und intellektueller Scharfsinn sich glücklich fügen: Alain Mabanckous Roman „Zerbrochenes Glas“

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Frankreich gehört Alain Mabanckou, der 2012 auf Vorschlag der Académie Française mit dem „Grand Prix de Littérature Henri Gal“ für sein Gesamtwerk ausgezeichnet wurde, zu den illustren Namen der aktuellen Literatur. In Deutschland allerdings ist der 1966 im kongolesischen Pointe-Noire geborene Autor, der inzwischen in Paris und den USA lebt, wo er als Professor für frankophone Literatur an der University of California in Los Angeles lehrt, noch weitgehend unbekannt. Ob sich dies mit der Übersetzung seines in Frankreich 2005 erschienenen Werkes „Zerbrochenes Glas“ ändern wird? Zu wünschen wäre es. Denn Alain Mabanckous Texte sprühen nicht nur vor Erzählfreude und mitunter tragischer Komik, sie sind zudem von einem Autor geschrieben, der seine transnationale Biografie unter anderem dazu nutzt, die ihm begegnenden Phänomene aus kritischer Distanz zu beobachten. Sein Roman „Zerbrochenes Glas“ ist hierfür das beste Beispiel – und hat noch dazu einen, sagen wir, pädagogischen Vorteil: Denn er könnte die vielen Studierenden der Literaturwissenschaft davon überzeugen, dass Intertextualität nicht nur ein Modebegriff ist, sondern tatsächlich viel mit Literatur, nicht zuletzt mit zeitgenössischer Literatur zu tun hat.

Gewiss: Man kann Mabanckous Roman auch ohne einen Begriff von Intertextualität lesen. Dann liest man ihn als eine Sammlung burlesker Porträts, die der Ich-Erzähler Zerbrochenes Glas, eine in einer Bar in Brazzaville gestrandete verkrachte Existenz, über andere in derselben Bar gestrandete und nicht minder verkrachte Existenzen anfertigt und in sein Heft schreibt. Ein Heft, das ihm Sture Schnecke, der Besitzer der Bar „Angeschrieben wird nicht“, in die Hand gedrückt hat, weil er Zerbrochenes Glas für einen Dichter hält, was wiederum damit zusammenhängt, dass Sture Schnecke exzessiven Alkoholkonsum als untrüglichen Hinweis auf dichterisches Genie ansieht, seit ihm Zerbrochenes Glas von einem Dichter erzählt hat, der sich fast zu Tode gesoffen hat. Dass Sture Schnecke hier einem Fehlschluss aufsitzt, ist Zerbrochenem Glas natürlich klar, und dennoch füllt er die Seiten seines Heftes, weil er Sture Schnecke nicht enttäuschen möchte und weil Mabanckous Anlage des Romans es eben erfordert. Denn unter dem Vorwand des quasi „erzwungenen“ Schreibens kann der Ich-Erzähler die Geschichten der allesamt vom Schicksal gebeutelten Existenzen erzählen, ohne ihnen den Anschein eines Zusammenhangs geben zu müssen. Dem ein oder anderen Leser mögen diese gescheiterten, dem Palmwein zugeneigten Männer und Frauen zwar als „Proletarier aller Länder“ erscheinen, die „nicht begriffen haben, dass sie sich zusammenschließen müssen“, aber Opfer-Täter-Logiken lässt Mabanckou gar nicht erst aufkommen – woran seine konsequent intertextuelle Schreibweise nicht ganz unbeteiligt ist.

Ein Beispiel: Das erste Porträt, die erste Geschichte handelt von einem sexuell frustrierten Ehemann, der regelmäßig Prostituierte aufsucht, woraufhin ihn seine Frau eines Abends aussperrt, das Türschloss auswechseln lässt und den vom heimkehrenden Ehemann zum Aufbrechen der Tür herbeigerufenen Feuerwehrmännern erzählt, ihr Mann würde sie betrügen, trinken, sie schlagen, und sich zudem an seiner Tochter vergreifen. Der gegen diesen Vorwurf wehrlose Ehemann landet in einem berüchtigten Gefängnis, wo er dermaßen systematisch missbraucht wird, dass er nach seinem Aufenthalt nur noch mit Pampers herumlaufen kann. Ein zu Unrecht in Gänze entwürdigter Mann in Pampers. Dieses Bild lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Im Text jedoch sieht die Sache ganz anders aus. Denn als der Pampers-Mann sich im Gespräch mit Zerbrochenem Glas gegen den Vorwurf, sich an seiner Tochter vergangen zu haben, verwahrt, tut er dies mit folgenden Worten: „kannst du dir vorstellen, dass ich so etwas mache, hm, kannst du dir vorstellen, dass ich, ausgerechnet ich, den Vorhof der Kindheit besudele, kannst du dir vorstellen, dass ich die Knospen abreiße und auf Kinder schieße, das kann nicht sein“. Nun mögen nur die wenigsten Leser bemerken, dass der „Vorhof der Kindheit“ auf den Titel eines recht erfolgreichen Romans des in Frankreich sehr erfolgreichen Patrick Modiano anspielt und dass „Reißt die Knospen ab. Schießt auf die Kinder“ die französische Übersetzung eines Romantitels des japanischen Nobelpreisträgers Kenzaburo Oe lautet. Was aber jeder Leser merkt, ist, dass kein Mensch sich je mit diesen Worten gegen den Vorwurf des Kindesmissbrauchs wehren würde, dass aus diesen Worten mithin fremde Stimmen klingen, ob man deren Herkunft nun identifiziert oder nicht. Was dies bewirkt, ist klar – nämlich eine gewisse Unklarheit: Da wo er seinen Zuhörer dringend von seiner persönlichen und moralischen Integrität überzeugen müsste, fängt der Pampers-Mann an zu „zitieren“, und das auch noch, ohne das Zitat zu markieren, was nicht selten unter plagiieren firmiert. Für wie glaubwürdig können wir nun aber Plagiatoren halten? Hat der Pampers-Mann am Ende doch seine Tochter…?

Mabanckou löst diese Frage nicht auf, er betont sie auch nicht, entwickelt keine subtilen Psychologien, die der Leser zu verstehen aufgerufen wäre. Er begnügt sich vielmehr damit, zu erzählen, ohne Punkte, nur mit Kommata und in einem so furios voranrauschenden Text, dass dem Leser nichts anderes übrig bleibt, als mit dem Strom zu schwimmen – obwohl er ständig merkt, wie turbulent, vielstimmig, chaotisch dieser Strom eigentlich ist.

Dass sich diese Polyphonie zur Produktion durchaus verstörender Mehrdeutigkeit eignet, zeigt das Beispiel des Pampers-Mannes. Dass sie sich aber auch hervorragend für satirische Zwecke nutzen lässt, zeigt der Beginn des Romans, der zugleich den fulminanten Höhepunkt des Textes abgibt. Mit mitreißender Verve und virtuoser Dynamik entlarvt Mabanckou dabei auf wenigen Seiten nicht nur den Phrasen dreschenden Politikbetrieb – ein durchaus internationales Phänomen. Auch die französischen Elitehochschulen, amerikanische Universitäten, brainstorming-Techniken und nicht zuletzt die korrupten Regime des postkolonialen Afrika bleiben in diesem Rundumschlag nicht verschont.

Wie der Autor dies alles durch eine wahre Zitatenflut bewerkstelligt, die vom Zola’schen „J’accuse“ („Ich klage an“) über Shakespeares „Sein oder Nichtsein“ bis hin zu de Gaulles am Ende des Algerienkrieges geäußerten „Ich habe euch verstanden“ reicht, möge jeder Leser selbst herausfinden. Der Genuss, den diese Lektüre bereitet, sei hier jedoch schon erwähnt.

Dass „Zerbrochenes Glas“ für die Übersetzer Holger Fock und Sabine Müller stets ein Genuss war, ist zu bezweifeln. Zu vielfältig sind die Anspielungen, nicht alle der zahllosen Titel und Werke, die Mabanckou in sein intertextuelles Geflecht einarbeitet, liegen in deutscher Übersetzung vor – angefangen beim Namen der Hauptfigur „Zerbrochenes Glas“, der dem Lied „Verre cassé“ des kongolesischen Sängers Lutumba Simaro entnommen ist. Vielleicht ist diese Vielfalt der Anspielungen auch der Grund, warum „Verre cassé“, obwohl bereits 2005 erschienen, erst jetzt übersetzt wurde, nachdem Mabanckous „Mémoires de porc-épic“ (2006) bereits 2011 („Stachelschweins Memoiren“) und „Black Bazar“ (2009) bereits 2010 („Black Bazar“) den Weg ins Deutsche gefunden haben. Die Mühe des preisgekrönten Übersetzerduos hat sich auch im Falle von „Verre cassé“ aber zweifelsfrei gelohnt. Ihnen gilt, ganz wie dem Autor: Chapeau!

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Alain Mabanckou: Zerbrochenes Glas. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2013.
224 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783954380060

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