Martin Luther, der vertraute Fremde

Armin Kohnle und Volker Reinhardt versuchen, das Ferne nah und das Vertraute fremd erscheinen zu lassen

Von Thorsten DietzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Dietz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Lutherjubiläum ist auch ein medialer Kampf um Aufmerksamkeit: Welche Perspektive auf Martin Luther wurde noch nicht ausprobiert? Was lässt sich überhaupt noch neu entdecken? Was kann man dem heutigen Leser ohne Peinlichkeit als herausfordernd, zukunftsträchtig oder wenigstens relevant verkaufen?

Nicht wenige Arbeiten zum Reformationsjubiläum wählen bewusst den Zugang zu einem Luther, der heute irritierend fremd erscheint. So fand kaum etwas in der Reformationsdekade von 2007 bis 2017 so viel Aufmerksamkeit wie Luthers schroffer Antijudaismus. Aber zugegeben, neu war das Thema nicht, und ehrlich gesagt ist es leider auch keine Kunst, judenfeindliche wie menschenverachtende Aussagen aus den Abgründen der europäischen Geschichte auszugraben. Offensichtlich ist solche Verfremdung darauf angewiesen, dass es überhaupt noch eine Art von Nähe gibt, die für eine Schockerfahrung à la „Das hat der wirklich gesagt?“ offen ist. Das Abarbeiten an Fremdheit gelingt nur da sinnvoll, wo es sich vor dem Hintergrund vermeintlicher Vertrautheit abheben kann.

Das wird nicht einfacher in dem Maße, wie historische Gestalten vorneuzeitlicher Epochen allzumal im kulturellen Gedächtnis verblassen. Dass sich Luther heute noch entlarven lässt, zeigt insofern auch, welche Gegenwärtigkeit er noch besitzt. Dass es für nachhaltige Skandalisierung vielleicht doch nicht mehr reicht, lässt darauf schließen, dass die Vertrautheit mit dem Reformator zunehmend weniger als gegeben vorausgesetzt werden kann.

Volker Reinhardt hat mit Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation eine vielbeachtete Lutherdarstellung verfasst, die konsequent einen italienischen Blick von außen zur dominanten Perspektive erhebt. Nun ist es nicht so, als wäre diese katholische Dimension der Reformationszeit nicht längst Teil der Lutherforschung. Aber tatsächlich, so konsequent ist der römische Blick noch nie als Leitperspektive verwendet worden, was ein echtes Alleinstellungsmerkmal von Reinhardts Lutherbuch ist.

Konzentriert wie unterhaltsam führt Reinhardt dem Leser die römische Befindlichkeit im Vorfeld der großen Kirchenkrise vor Augen: Der Kampf um dynastischen Einfluss, die finanziellen und politischen Interessenskonflikte der Kirche im Clinch mit den anderen Großmächten ihrer Zeit, nicht zuletzt die Angst vor dem Machtverlust der römischen Zentrale, die das Stichwort des Konziliarismus seit dem 15. Jahrhundert wecken konnte.

Diese mit sich selbst beschäftigte Macht- und Kulturelite muss sich auf einmal mit einem deutschen Mönchsprofessor und seinen theologischen Anfragen beschäftigen, weil dessen religiöse Kirchenkritik zum Zündstoff für lange schon bestehende deutsch-italienische Animositäten wird. Reinhardt zeigt uns Luther und den Verlauf der Reformationsgeschichte im Visier seiner römischen Gegenspieler (beispielsweise der päpstliche Legat Aleandro, Kardinal Cajetan oder Nuntius Vergero). In dieser Perspektive erscheint Luther als ungezügelter Barbar, als der Sinnlichkeit verfallener Biertrinker oder als kulturfeindlicher Polterer. Luthers Gegner waren so fest vom Zivilisationsvorrang der Italiener überzeugt, dass es in der kritischen Aufbruchsphase der Reformation so gut wie keine intensive Beschäftigung mit seinen theologischen Fragen gegeben hat. Viel zu sehr stand Luther für teutonische Wut, wie sie sich etwa auch entladen konnte in der Zerstörung der Heiligen Stadt durch deutsche Söldnertruppen im Jahr 1527 (Sacco di Roma). Der Erfolg eines solchen Unholds zeugte aus römischer Sicht allenfalls vom geistig-kulturellen Tiefstand einer zersplitterten deutschen Nation, die in verblendetem Zorn die überlieferten Ordnungen infrage stellte.

Volker Reinhardts Luthergeschichte ist durch diesen italienischen Blick auf Luther so erfrischend, diese selbstverständliche Beheimatung der Erzählperspektive in der Mitte Europas mit ihren Renaissancekünstlern, ihren humanistischen Netzwerken und Adelseliten. Dieser Standort macht die deutschen Erregungen, die da vom Rande der Zivilisation her religiös befeuert wurden, auf eigentümliche Weise wieder interessant und exotisch.

Ein solcher Zugang hat seinen Preis. Aus theologischer Sicht vermisst man am Ende doch die gewohnte Schlüsselbedeutung der religiösen Gegensätze. Die Macht der Kulturgegensätze wird so stark veranschlagt, dass all dies auch hätte stattfinden können, wenn Luther kein besonders tiefgründiger Theologe gewesen wäre. Als Fazit empfiehlt Reinhardt mehr Misstrauen gegenüber der Macht der Vorurteile, weniger Selbstinszenierung und mehr Interesse am wirklichen Verständnis des anderen. Dergleichen ließ sich auch schon in den Büchern zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Rat gewinnen. Doch ohne Zweifel ist Reinhardt eine der interessantesten Lutherbücher im Umfeld dieses Jubiläums gelungen. Dass diese Verfremdung so gut funktioniert, liegt nicht zuletzt am heute noch bemerkbaren breiten Strom klassisch-protestantischer Erinnerungspflege.

Ein schönes Beispiel solcher Vertrautheitsliteratur ist das Lutherbuch des Leipziger Lutherforschers Armin Kohnle. Bei seinem Werk Martin Luther. Reformator, Ketzer, Ehemann handelt es sich um eine großformatige Bildbiographie. Mehr als 120 Bilder, Karten und Gemälde machen Luthers Leben greifbar und anschaulich.

Die Verortung Luthers in der frühen Neuzeit und die kritische Aufarbeitung allzu unmittelbarer Nutzbarmachung des Wittenberger Theologen sind für Kohnle wie für jede andere ernstzunehmende Lutherdeutung heute selbstverständlich. Man wird es fast als Besonderheit bezeichnen müssen, dass Luther gleichwohl als lebendiger Gesprächspartner heutiger Frömmigkeit ‚gerettet‘ werden soll.

Kohnles Darstellung möchte eine Hinführung zu Luther für Menschen sein, die für die Vertiefung vertrauter Anbindung der eigenen Frömmigkeit an die Person des Reformators einen anschaulichen Zugang suchen. Luther soll als Identifikationsfigur nicht preisgegeben, sondern erhalten werden. Dass die theologischen Gedanken desselben allein so etwas nicht mehr tragen können, ist Kohnle auch klar. Darum geht es immer wieder um Luther – als Menschen. Als Sohn seiner Eltern, als Ehemann seiner Käthe, als Vater seiner sechs Kinder, als Freund seiner Mitarbeiter wie Berater der Fürsten. Ecce Luther, möchte man sagen – seht, welch ein Mensch!

Wer heute eine konzentrierte wie informative Ereignisgeschichte des Lebens Luthers lesen möchte, ohne allzu viel Theologie-, Sozial-, oder Ideengeschichte, der ist mit Kohnles kundiger Führung durch das Leben Luthers bestens bedient. Die Darstellung ist durchweg dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung verpflichtet. Beim Bildmaterial werden auch viele populäre Vorstellungen des 19. Jahrhunderts verwendet, die Luther noch ein wenig bürgerlicher, menschlicher, bisweilen auch monumentaler erscheinen lassen als die herben Cranach-Bilder des 16. Jahrhunderts.

Auch bei schwierigen Fragen bemüht sich Kohnle um eine konsequente Ermöglichung heutiger Luthernähe. So werden dessen unsägliche Aussagen über Juden und Türken nicht verdrängt, aber doch historisch entschärft. Vorschnelles Urteilen nach heutigen Standards lege einen fremden Maßstab an Luther an. Das mag man in manchen Fragen so sagen, ist jedoch im Blick auf Luthers Umgang mit Juden wie auch mit Ketzern des protestantischen Bereichs eine zu glatte Lösung. Luthers Feindseligkeitsbereitschaft sprengte auch den Rahmen des damals Üblichen. Wenn man sich die ganze Härte seiner Vertreibungsphantasien gegenüber den Juden vor Augen führt, kann es nicht überzeugen, heutige Kritik an Luther einfach der politischen Korrektheit unserer Zeit anzulasten oder als ungeschichtlich zurückzuweisen.

Als evangelischer Christ darf man sich nicht nur auf Luther berufen, man müsse es auch, so Kohnle abschließend. Nun, vielleicht lautet die entscheidende Frage mehr, ob und vor allem wie man das kann. Luther ist im Jubiläumsjahr 2017 zu fremd für ungebrochene Identifikation, und doch noch vertraut genug, um mit der Entdeckung seiner Fremdheit Aufmerksamkeit zu erzielen. Es spricht nicht viel dafür, dass sich diese Ambivalenz auflösen lassen wird in Richtung der einst ungebrochenen Identifikationsbereitschaft mit „unserem“ Luther. Aber auch als Stoff möglicher Wiederaneignungen hat die Reformationsgeschichte ein Potenzial, das man nicht vorschnell abschreiben sollte.

Titelbild

Armin Kohnle: Martin Luther. Reformator, Ketzer, Ehemann.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2015.
224 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783374041077

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Titelbild

Volker Reinhardt: Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
352 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406688287

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