Gibt es heute eine Internetliteratur?

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Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

In den 1990er-Jahren, als das Internet sich zum Massenmedium entwickelte, galten elektronische Literatur und Hypertexte als Genres der Zukunft. Sie wurden von der Medien- und Literaturwissenschaft mit großem Interesse verfolgt und mit eigens gegründeten Wettbewerben gefördert. Ein neues Medium, so dachte man, müsse doch neue literarische Formen hervorbringen. Die Möglichkeiten der Verlinkung, der Multimedialität und der Interaktion versprachen enorme kreative Potentiale.

Inzwischen denkt man bei der Verbindung der beiden Begriffe ‚Internet‘ und ‚Literatur‘ eher an Amazon und Gutenberg-DE, also an Kommerz und halbseriöse, leicht verfügbare digitalisierte Klassikertexte. Während etwa Computerspiele immer komplexer und artifizieller werden und zum Gegenstand der medien- und literaturwissenschaftlichen Forschung geworden sind, ist vom experimentierfreudigen Elan in Sachen professioneller Netzliteratur nicht viel geblieben – für sie existiert schlicht kein Markt.

Dennoch gibt es Felder, auf denen es gegenwärtig zu produktiven Wechselwirkungen zwischen Literatur und Internet kommt. Bei Blogs und Online-Tagebüchern handelt es sich nicht nur im Hinblick auf die Neudefinition von Privatheit im elektronischen Zeitalter um ein interessantes Phänomen. An Blogs lässt sich beobachten, wie traditionelle journalistische und diaristische Formen aufgegriffen und im neuen medialen Kontext transformiert werden. Auch was die Inszenierung von professionellen und nicht-professionellen Autoren betrifft, ist das Internet ein ergiebiger Untersuchungsgegenstand. Insbesondere Homepages von Slammern lassen sich mit hohem zeit- und kulturdiagnostischem Gewinn analysieren, da hier zwei neuartige literarische und mediale Inszenierungsformen, der Live- und der Internet-Auftritt, produktiv zusammenwirken. Die seit einigen Jahren bestehenden Schreib-Plattformen im Internet demonstrieren schließlich, wie die medienspezifischen Chancen der Interaktion und der Dezentralisation auf unterschiedliche Weise genutzt werden können.

Der Themenschwerpunkt der April-Ausgabe von literaturkritik.de geht einigen Facetten des gegenwärtigen Zusammenspielens von Internet und Literatur nach. Dokumentiert werden damit zugleich einige Veranstaltungen, die sich in den letzten Monaten in Marburg mit diesem Gegenstand beschäftigten. Ergebnisse eines Seminars am Institut für Neuere deutsche Literatur zum Thema „Internet-Literatur“ finden ebenso Berücksichtigung wie eine Lesung und Diskussion mit der Hypertext-Pionierin Susanne Berkenheger und die Tagung des Marburger Literaturforums zum Thema „Literarische Orte heute? Räume des Schreibens und Schauplätze der Fiktion in der Gegenwartsliteratur“.