Die Chanson de geste als Ergebnis fränkisch-romanischen Kulturkontakts?

Nils Borgmann untersucht den Einfluss germanischer Heldenepik auf die Herausbildung der Chanson de geste

Von Reinhard BerronRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Berron

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Matière de France war die Chanson de geste neben dem Artusroman (der Matière de Brétagne) die erfolgreichste epische Gattung der französischen Literatur des Mittelalters. Der Chanson de geste werden etwa 80 Texte zugeordnet, die sich auf verschiedene Zyklen verteilen lassen. Als deren bedeutendster gilt die Karlsgeste mit der berühmten „Chanson de Roland“, deren Stoffe und Figuren aus der Karolingerzeit stammen. Dieser historische Abschnitt scheint somit das heroic age der französischen Heldenepik zu bilden. Da die Karolingerzeit, wie auch die vorausgehende Herrschaft der Merowinger, jedoch eine Phase fränkischer und somit germanischer Dominanz darstellte, kam v.a. in der älteren Forschung die These auf, dass die Entwicklung der Chanson de geste ähnlich zur germanischen Heldenepik verlaufen sei und die Stoffe durch Heldenlieder vermittelt worden seien. Mit dieser These, der zugehörigen Forschungsgeschichte und den Anhaltspunkten, die sich hierfür in den altfranzösischen und mittelhochdeutschen Texten finden, setzt sich Nils Borgmann in seiner Dissertation auseinander.

Insgesamt ist die Chanson de geste in der Germanistik nicht besonders präsent: obwohl sie als Dichtung der Franken hätte aufgefasst werden können, stieß sie schon bei den Romantikern aufgrund der vermuteten kürzeren Tradition auf erstaunlich wenig Interesse. Die romanistische Forschungsgeschichte zur Chanson de geste verlief in drei Schüben: Zunächst wurde von der ‚traditionalistischen‘ Epenforschung ein germanischer Einfluss bejaht; die Positionen bewegten sich dabei zwischen der These einer Übernahme einer bestimmten Haltung („L’épopée française, c’est l’esprit germanique dans une forme romane.“) und Pio Rajnas Annahme einer germanischen Herkunft der Inhalte. Die sogenannte Individualismus-These Bédiers beruhte dagegen auf der Vorstellung, dass die Chansons de geste eigene Schöpfungen gewesen seien, die durch Kleriker und Jongleurs im sozialen Raum der Pilgerstraßen gestaltet wurden. Sie wurde Mitte des 20. Jahrhunderts erschüttert durch das Auffinden von Taufakten, die älter waren als die früheste schriftliche Bezeugung der „Chanson de Roland“ und in denen zahlreiche Brüderpaare wie deren Protagonisten Olivier und Roland genannt wurden; ähnliche Ergebnisse brachte der Fund der im 11. Jahrhundert entstandenen „Nota Emilianense“ im spanischen Kloster San Millán de la Cogolla, die ebenfalls auf Kenntnis der Karlsgeste schließen lässt. In der Folge entstand Ramón Menéndez Pidals Monographie „La ‚Chanson de Roland‘ et la tradition épique des Francs“, die den ‚Neutraditionalismus‘ begründete, der zufolge die Chanson de geste als Geschichtsüberlieferung des Volkes fungiert habe und in der Menéndez Pidal ein säkulares Verständnis epischer Dichtung vertrat. Hinweise auf die Herkunft germanischen Einflusses verzeichnet er nicht.

Als problematische Punkte der These, dass die französische Heldenepik auf germanischen Einfluss zurückzuführen sei, stellt Borgmann v.a. die Überlieferungschronologie und die Geschichte der germanischen Idiome in Frankreich heraus. So seien Übereinstimmungen von Motiven aus dem „Nibelungenlied“, „Wolfdietrich“ und „Ortnit“ mit einigen altfranzösischen Dichtungen mehrfach erkannt worden, da aber die Chronologie der Werke nicht eindeutig zu klären sei, könne nur schwer über die Entlehnungsrichtung befunden werden. Auch die Parallelen zwischen Dietrichepik und der „Chanson de Guillaume“ seien nur schwer zu bewerten angesichts der historischen Vorbilder, dem Ostgotenkönig Theoderich (5. Jh.) und Wilhelm von Aquitanien (8. Jh.). Ein Ausweg scheint sich durch Thordis Hennings‘ Konzept der „subliterarischen generischen Entlehnungen“ zu ergeben; die von einer Übernahme im Stadium der Mündlichkeit in einem zweisprachigen Kulturraum ausgeht. Borgmann sieht aber ein Spannungsverhältnis zwischen den Begriffen ‚generisch‘ und ‚subliterarisch‘, da hier ein Gattungsbewusstsein bei mündlichem Erzählen postuliert werde, das er anzweifelt. Das zweite Problem der Argumentation ist die Sprachgeschichte in Frankreich, der Borgmann ein eigenes Kapitel widmet. Er fragt nach der Bevölkerungsstruktur und damit verbunden nach der Fortdauer des Westfränkischen im romanischen Raum, was für die Beurteilung der Möglichkeit von germanischem Einfluss auf die Chanson de geste entscheidend ist. Dabei sei der genaue Ablauf der kulturellen Vereinigung von Romanen und Germanen kaum zu bestimmen. Der Anteil der Franken an der Gesamtbevölkerung in der Karolingerzeit werde von den Historikern neuerdings auf nur noch etwa zwei Prozent geschätzt. Dennoch scheint die Verbreitung der Chanson de geste mit dem Siedlungsgebiet der Franken übereinzustimmen: diese siedelten im Allgemeinen nicht südlich der Loire. Überdies habe eine Untersuchung gezeigt, dass im 9. Jahrhundert in der Nordhälfte Frankreichs 90 Prozent aller Namen germanischen Ursprungs waren, in der Südhälfte dagegen nur 50 Prozent. Im Prinzip werde noch für das 9. Jahrhundert eine fränkisch-romanische Mehrsprachigkeit angenommen.

Die Parallelen von Chanson de geste und germanischer Heldenepik waren einerseits durch Namens- und andererseits durch Motivparallelen aufgefallen. Als mögliche Übernahme von Figuren aus der germanischen Epik untersucht Borgmann vergleichend die Darstellung von Figur und Rolle bei Walther, Wieland, Hugon und Alberich. Dabei kommt er zu unterschiedlichen Schlüssen: Die Gemeinsamkeiten der „Chanson de Roland“-Figur Gualter de l’Hum mit dem Protagonisten der international weitverbreiteten Walthersage (z.B. „Waltharius“ und „Thidrekssaga“) führt er auf rudimentäre Kenntnis aus oraler Tradition zurück. Der Schmied Wieland, der in der Chanson de geste Galant heißt, wird dort zwar auch als Handwerker dargestellt, aber ansonsten so wenig charakterisiert, dass keine Bezüge verfolgt werden können. Die Vorstellung, dass Hugdietrich aus dem Wolfdietrich-Epenkreis mit Hugon in „Parise la duchesse“ identisch sein könnte, müsse von einer merowingischen Sage ausgehen, deren Themen Verleumdung, Verrat, Verbannung, Exil u. Rückkehr des legitimen Thronerben gewesen seien. Beide Namen bezeichneten einen Herrscher im Osten, historische Bezüge seien aber unsicher. Die Figuren des im „Ortnit“ auftretenden Zwergenkönigs Alberich und des in der späten  Chanson de geste „Huon de Bordeaux“ (1260-68) auftretenden Feenkönigs Auberon, haben das Leben im Wald, magische Fähigkeiten und das Christentum gemeinsam. Angenommen wird trotz des Datierungsproblems eher französischer Einfluss auf das deutsche Epos. Insgesamt erachtet Borgmann aber die „Annahme der langen Latenz einer germanischen Sagenfabel auf französischem Boden“ nirgends für überzeugend.

Als angenommene Motivparallelen überprüft Borgmann u.a. die Verbindung von heroischem Verhalten mit Gefühlsäußerungen, die Bewährung in der Fremde, die Brautwerbung und den Moniage. Der älteren Forschung zufolge wurde der Einfluss romanischer Dichtung angenommen, wo sich Gemeinsamkeiten bzgl. „heroischer Verhaltensweisen und Gefühlsäußerungen“ zeigten, wie sie in der Dietrichepik und der Wilhelmsgeste zum Einsatz kämen. Der Einsatz der Motive ‚maßloser Zorn‘ und ‚Verlassenheit‘ des Helden stehe bei Dietrich stets am Ende, bei Guillaume dagegen erhöhten sie die Spannung vor dem letzten Kampf, somit sei deren Intention eine andere. Gegen eine direkte gegenseitige Beeinflussung sprächen überdies die sich verändernden Konventionen der Affektschilderung und die Verwendung desselben Motivs bei anderen Figuren, z.B. bei Roland. Auch die Bewährung in der Fremde als Motiv sei unterschiedlich ausgestaltet, da sich der germanische Held zunächst allein bewähre und dann eine neue Gefolgschaft um sich versammle, während durch die Ausfahrt des Chanson-de-geste-Helden ins Land der Heiden immer auch eine Kritik an den Defiziten des heimischen Feudalsystems ausgedrückt werde. Auch die Durchführung der Brautwerbung, soweit man davon sprechen kann, unterscheide sich deutlich: In der französischen Epik nehme sich meist eine heidnische Prinzessin des sich in der Fremde aufhaltenden Helden an, konvertiere und ziehe mit ihm. Für das Motiv des Moniage, den Rückzug aus der Welt, sei, da das Motiv das Christentum voraussetzt und es in den romanischen Texten häufiger Verwendung findet, eher eine Entlehnung aus dem Französischen anzunehmen. Wo das Motiv in der deutschen Epik auftritt, werde es oft mit komischen Momenten verbunden („Rosengarten zu Worms“); die Entlehnung aus dem Französischen sei durch die zeitliche Abfolge nicht möglich. Eine frühe Bezeugung für das Moniage-Motiv könnte im altenglischen „Beowulf“ zu finden sein. Borgmann schließt auf mögliche Anknüpfungspunkte, die aber unter dem mündlich vermittelten Einfluss romanischer Vorbilder zu detaillierterer Ausgestaltung gelangten.

Aus der Auseinandersetzung mit den Forschungspositionen und in der Folge seiner philologischen Argumentation schließt Borgmann, dass das karolingische heroic age keine älteren fränkischen Stoffe zugelassen habe. Der einzige anzunehmende Transfer dieser Art sei der „Waltharius“. Zum Bedauern des Rezensenten verbleibt der Erkenntniswert vorwiegend im romanistischen Bereich: Die deutschen Texte werden zumeist nur als Vergleichsgröße herangezogen, dabei würden Motive wie das Brautwerbungsschema, die Ausfahrt in die Fremde oder der Moniage die Möglichkeit eröffnen, Bezüge zwischen den Chansons de geste und der Spielmannsepik zu diskutieren. Dennoch machen die Breite des einbezogenen Textcorpus, das von altfranzösischen und mittelhochdeutschen bis zu altenglischen und altnordischen Texten reicht, sowie die Verbindung der philologischen Arbeitsweise mit Erkenntnissen aus der historischen Sprachwissenschaft und der Geschichtswissenschaft die Untersuchung Borgmanns zu einer beachtenswerten komparatistischen Studie.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Nils Borgmann: Matière de France oder Matière des Francs? Die germanische Heldenepik und die Anfänge der Chanson de Geste.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2013.
160 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783825362010

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