Günter Grass und Ernst Jünger

Trotz aller Unterscheide zeigen sich erstaunliche Parallelen im Werk der beiden Schriftsteller

Von Gabriela OciepaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriela Ociepa

Günter Grass und Ernst Jünger bilden als ‚linker‘ und ‚rechter‘ Schriftsteller einen fast schon idealtypischen Gegensatz. Sie könnten in ihren ästhetischen Programmen und in ihrem politischen wie gesellschaftlichen Selbstverständnis kaum unterschiedlicher sein. Umso frappierender fällt Grassʼ intensive Beschäftigung mit Ernst Jünger auf.

In Mein Jahrhundert wird kein anderer Schriftsteller von Grass so ausführlich gewürdigt wie ausgerechnet Ernst Jünger. (Umgekehrt pries Ernst Jünger an Grassʼ Roman Das weite Feld „die wunderbare Sprache des Romans“). Bei Mein Jahrhundert handelt es sich um keinen geschlossenen Text, sondern um eine Sammlung 100 kurzer narrativer Prosastücke, von denen jedes für eines der 100 Jahre zwischen 1900 und 1999 steht und wichtige Entwicklungen oder Ereignisse des betreffenden Jahres literarisch verarbeitet. Nur die Jahre des Ersten Weltkrieges, 1914 bis 1918, werden auf eine in dieser Text-Sammlung ansonsten einmalige Art und Weise aus dem Gesamtgefüge dadurch herausgehoben, dass sie eine erzählerische Einheit bilden. Unter Zuhilfenahme einer narrationstechnischen Verfremdungssituation werden diese Jahre, Jahre des Schreckens und massenhaften Sterbens in den Schützengräben, einer Erzählerin in den Mund gelegt, die erst im Wohlstandsfrieden nach dem Wirtschaftswunder Mitte der 1960er-Jahre nach den Geschehnissen im Ersten Weltkrieg zu fragen beginnt und zu diesem Zweck zwei Zeitzeugen einlädt, die gegensätzlicher nicht sein könnten: die Kriegsschriftsteller Erich Maria Remarque und Ernst Jünger. Beide fungieren als Augenzeugen, werden aber nicht, wie eigentlich zu erwarten, als Gegensätze ausgespielt, sondern letztlich in einer Erinnerungsgemeinschaft vereint, die das Erleben gemeinsamer Schrecken über unterschiedliche politische Wertungen dieses Erlebens stellt. Gemeinsames Gedenken, so die Grassʼsche Botschaft, versöhnt.

Jünger und Remarque wären damit in Mein Jahrhundert die beiden meistgenannten Schriftsteller, würde Ernst Jünger dort nicht später noch einmal auftreten und so noch vor Remarque in die privilegierte Rolle des meistgenannten Autors gerückt werden: Jünger findet abermals Erwähnung im Kapitel „1984“, das dem symbolisch der Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich dienenden historischen Besuch des französischen Präsidenten François Mitterand und des deutschen Kanzlers Helmut Kohl auf dem ehemaligen Schlachtfeld von Verdun gewidmet ist. Jünger war tatsächlich an diesem Treffen beteiligt (ihn zu erwähnen aber ist die Entscheidung von Grass).

Wichtiger als solche Erwähnung ist der direkte literarische Einfluss von Jünger auf Grass. Jüngers Erzählung Aladins Problem von 1983 und Günter Grass’ Erzählung Unkenrufe von 1992 weisen in Thematik und erzählerischer Ausgestaltung verblüffende Parallelen auf. In beiden Texten wird der  Versuch unternommen, eine völkerübergreifende Gedenk- und Versöhnungs-Utopie fiktional auszugestalten. Beide wählen als Gegenstand dafür einen fiktiven Friedhof, der den ewigen Frieden der Verstorbenen sichern und ihnen posthum menschliche Gerechtigkeit widerfahren lassen soll.

Jüngers Erzählung ist der in Ich-Form verfasste Lebensbericht des Protagonisten Friedrich Baroh. Im Klappentext heißt es, Namen, Orte und Daten wären lediglich Motive, die keine Realität für sich beanspruchten, sondern nur entfernt an historisch reale Vorbilder anklängen. Der Text spielt an zwar verfremdeten, durch die Entfremdung hindurch aber noch deutlich erkennbaren Orten, deren bloße Nennung die Vertreibung der Deutschen aus Schlesien aufruft.

Die Erzählung des ersten von vier Teilen setzt nach dem 2. Weltkrieg in Liegnitz ein, das seit 1945 Legnica heißt, also in einer durch die Westverschiebung Polens polnisch gewordenen früheren deutschen Stadt. Der dort noch immer lebende Deutsche Baroh ist letzter Nachkomme des durch den Heerführer berühmt gewordenen schlesischen Adelsgeschlechts der Blüchers und wählt nach dem Abschluss des Gymnasiums eine für die Familientradition typische militärische Laufbahn in der Armee – bei der es sich nun freilich um die polnische Volksarmee handelt. In der Kriegsschule lernt er einen jungen Hauptmann mit dem deutsch-polnischen Namen Jagiello Müller kennen. Der ermöglicht ihm die Flucht nach Westberlin. Nach dem Studium steigt Baroh in das Bestattungsunternehmen seines Onkels ein und arbeitet sich dort im zweiten Teil der Erzählung hoch, um im dritten Teil mit zwei gleichgesinnten Freunden das Bestattungsunternehmen ,Terrestra‘ zu gründen, dessen Ziel die völkerübergreifende Pflege des Totenkultes in einer anatolischen Totenstadt ist. Barohs Idee entsteht bezeichnenderweise auf dem Weg nach Verdun, „der Hauptstadt des Friedens“. Das Projekt ‚Terrestra‘ speist sich aus dem Unbehagen an der modernen Begräbniskultur und verspricht als international angelegtes Unternehmen die Befriedigung des Bedürfnisses nach einer wirklich gesicherten ewigen Ruhestätte. Es wird zum überwältigenden kommerziellen Erfolg. Die Begräbnisstätte wird angelegt in den in Tuffstein geschlagenen Felsenstädten bei „Ürgüp, in der Mitte von Anatolien“, einem Ort, der als Musterbeispiel eines interkulturellen Ortes dienen mag (und durchaus dem Grassʼschen Interesse für Orte mit national heterogener Geschichte – wie Danzig – entspricht). Dort sollen Gräber „auf ‚ewige‘ Dauer“ verpachtet werden. Am Ende, so das Versprechen, wäre die Welt vereint im Totengedenken. Obwohl das Geschäft floriert, zieht Baroh, abgestoßen vom Kommerz, sich schließlich in mystisch anmutende neue Aufgaben und Sphären zurück, deren konkrete Gestalt nur diffus angedeutet wird.

Gewalt und Tod, Krieg und Verlust sind ‚Urerfahrungen‘ von Grass wie Jünger. Beide begannen ihre schriftstellerische Karriere als tabubrechende Bürgerschrecke, die diese Erfahrungen verarbeiteten. Das Werk beider lebt von der – stilistisch sehr unterschiedlichen – Verarbeitung grauenhaft hässlicher Wirklichkeit, eine wenn auch jeweils andere Ästhetik des Hässlichen ist beiden nicht fremd. Vergleicht man nun die Unkenrufe mit Aladins Problem zeigen sich trotz aller Unterschiede in Stil und Handlung zahlreiche Übereinstimmungen. In beiden Texten münden deutsch-polnische Lebensgeschichten in der von der Zeit des Nationalsozialismus und ihren Folgen, insbesondere der Vertreibung der Deutschen im Zuge der Westverschiebung, geprägten langen Nachkriegszeit in ein utopisches Friedhofsprojekt. Wendet Baroh sich jedoch bei Jünger von Schlesien aus ins Universelle (und schließlich sogar Transzendentale), bleibt bei Grass der deutsch-polnische Fokus als konkreter Bezugspunkt stets erhalten. Grass bleibt bei aller Visionskraft Realist, Jünger in aller Realitätskritik Visionär.

Jüngers ,Terrestra‘ mit dem an das lateinische ,terra‘ (Erde) angelehnten, science-fiction-haft anmutenden Namen, in dem die Erde zur planetarischen Einheit verschmilzt, entspricht bei Grass in etwas kleinerem Maßstab eine ,Deutsch-Polnische Friedhofsgesellschaft‘, die nach den Wunden, die Krieg und Vertreibung beiden Seiten, den Deutschen wie den Polen, geschlagen haben, Aussöhnung zumindest der Toten in einem gemeinsamen Friedhofsprojekt ermöglichen soll. Beide Projekte wachsen über die Erwartungen der Protagonisten hinaus. Ihnen droht, in Kommerz und groß dimensionierten Alltagsgeschäften zu stranden und durch ihren eigenen Erfolg korrumpiert zu werden. Wo Jüngers Projekt jedoch ins Phantastische wächst und schließlich nur durch mystische Weiterungen relativiert werden kann, bleibt das Grassʼsche Projekt immer zurückgebunden an die bürokratisch und menschlich schwierige Wirklichkeit.

Wie Jünger geht Grass von deutsch-polnischen Verstrickungen aus, wird jedoch historisch konkret, wo Jünger nur die enigmatische Lebensgeschichte des deutschen Adeligen in der kommunistischen Volksrepublik imaginiert: Bilder der Zerstörung von Danzig, die brennenden Häuser der Altstadt, Knochenfunde in den Kirchengruften, das Konzentrationslager Stutthof und anderes mehr verweisen viel deutlicher auf die leidvolle und von deutscher Schuld belastete Geschichte als Jüngers eher abstrakte Reflexionen eines intellektuellen Militärs in geistunfreundlicher Kasernenumgebung, die dem klassischen Plot deutscher Bildungsgeschichten entsprechen: Der Einzelne arbeitet sich bei Jünger aus einer ihm unangemessenen Umgebung heraus und durchbricht als das transzendentale Ich der idealistischen Tradition der deutschen Philosophiegeschichte die Hemmungen einer nur realen Wirklichkeit.

Grass hingegen spaltet sein Personal deutsch-polnisch und dialogisch auf: In symmetrischer Konstruktion begegnen einander 1989 in Gdańsk ein Deutscher und eine Polin, beide aus ihrer Heimat vertrieben, er aus, sie nach Gdańsk. Sie hatte als Kind Wilno, er Danzig verlassen müssen. Beide sind nun verwitwet, „durch Tod des Ehegefährten freigestellt und abermals mündig“, beide nach einem Leben in jeweils einer der beiden Hälften des bis 1989 gespaltenen Europa. Selbst die Namen spiegeln die Konstruktion wider: Er heißt Alexander, sie heißt Alexandra. Die beiden sind deutlich als Zwillingswesen angelegt. Beide beschäftigen sich  beruflich mit der Vergangenheit, beide studierten Kunstgeschichte. Sie sind vom Erzähler daraufhin angelegt, einander zu entsprechen und zu ergänzen. Selbst noch ihre äußere Gestaltung erweist in ihrer Stereotypenhaftigkeit den Konstruktions- und Modellcharakter der beiden füreinander geschaffenen Figuren: Bei ihr, Alexandra, handelt es sich selbstverständlich um eine attraktive, eine schöne und elegante, eine vielleicht sogar zu elegante Polin, bei ihm, Alexander, um einen vom ‚linken‘ Zeitgeist auch äußerlich geprägten hageren Deutscher mit der „rundglasige[n] Brille in nußbrauner Fassung“, die ihm erlaubt, „gelehrtenhaft dreinzuschaun“.

Ihre gemeinsame, so ähnliche und doch wiederum spiegelverkehrt unterschiedliche Geschichte führt zwangsläufig zu wechselseitiger Reflexion und intensivem Austausch über das Vergangene und den Umgang mit ihm. Insbesondere der Deutsche Alexander hat sich von den organisierten deutschen Vertriebenen abzusetzen und persönliche Erfahrung durch historisches Wissen um Schuld und Zusammenhänge zu relativieren, aber auch um den Fortgang der Geschichte seither: „Mir allerdings war nur Trauer möglich, die sich durch mittlerweile geschichtlich gewordene Tatsachen relativiert hat.“ Erst der gemeinsame Rückblick am Lebensabend und unter steter deutlicher Nähe des Todes erlaubt ihm eine neue biographische Authentizität und die Utopie einer Heimat, die zwar verloren, aber doch im Tod durch einen Akt symbolischer Versöhnung wiedergewonnen werden könne: „die uns eigentümliche Heimat ist schuldhaft und endgültig vertan worden –, aber das Recht der Toten auf Heimkehr könnte, sollte, dürfte angemahnt werden.“  

Daraus entsteht die „erdgebundene Versöhnungsidee“ einer Deutsch-Polnischen Friedhofsgesellschaft, deren Ziel es ist, Deutschen aus Danzig zu ermöglichen, sich im nun polnischen Gdańsk bestatten zu lassen. Am Ende wird die in der Erzählanlage anvisierte versöhnende Symmetrie jedoch ebenso aufgegeben und in ein Außerhalb des Textes verlagert (wie bei Jünger der Ort der mystischen Transzendenz) mit dem Ergebnis, dass diese Idee einer Versöhnung durch die Möglichkeit einer Rückkehr der Toten in die Erde ihrer Heimat vorerst nur für die Deutschen gelten soll. Die mit Blick auf Alexandra eigentlich notwendige Erweiterung der Deutsch-Polnischen Friedhofsgesellschaft zu einer Deutsch-Polnisch-Litauischen wird hintangestellt.

Als Ort der Versöhnungsgräber ist der ehemalige Park des 25. Jahrestages der Volksrepublik Polen auserkoren, genau der Ort, wo sich vor 1945 (und noch bis 1949) die Vereinigten Friedhöfe befunden haben. Wie bei Jünger soll der Ort der Gräber an versunkene historische Vielfalt erinnern, Gemeinsamkeit im Tod ermöglichen. Und wie bei Jünger wird bei Grass aus der Idee respektive Utopie rasch ein hartes Geschäft ˗ ,Bungagolf‘ ˗, in dem die Gründer bloß ein Störfaktor sind. Aber die Verwirklichung ihrer Idee  lässt sich nicht aufhalten, auch sie selbst vermögen das nicht. Schließlich wird dem Paar statt der Geschäftsführung der Deutsch-Polnischen Friedhofsgesellschaft der Ehrenvorsitz über dieselbe vorgeschlagen. Die Kontrolle über die Finanzen wird ihnen entzogen. Wie bei Jünger hat sich die Idee im Zuge ihrer Ausführung zur kapitalistischen Karikatur ihrer selbst verselbständigt.

Bei Jünger tritt an dieser Stelle die bereits aus früheren Werken bekannte mystische Figur Phares in Aktion und ruft Baroh in überirdisch höhere Sphären, die es ihm erlauben, die Wirklichkeit zu transzendieren. Ein solcher deus ex machina ist für Grass weder weltanschaulich noch ästhetisch möglich – wo es Jünger um eine die Wirklichkeit übersteigende Schreibweise geht, legt Grass Wert auf Sinnlichkeit und Immanenz. Kritik an dem Projekt wird deshalb nicht aus seiner Gegenüberstellung mit dem Transzendentalen heraus möglich (aus dem heraus Jüngers Ich-Erzähler bereits auf die ‚Terestra‘ wie auf etwas Überwundenes zurückblickt), sondern durch den Erzähler, der die Geschichte Alexandras und Alexanders im Auftrag seines ehemaligen Schulkameraden Alexander aus dessen Tagebuch rekonstruiert (wie bei Jünger also aus dem Rückblick erzählt). Er kommentiert diese mit Worten, die sein Nicht-Einverständnis dokumentieren: „[D]as ist eine Furzidee.“ Erfolgte bei Jünger der Rückblick auf die science-fiction-haft anmutende Geschichte aus einem transwirklichen Jenseits, erlaubt sich Grass fast so, als wollte er noch möglichst viel von Jüngers Erzählkonstruktion in seinen Text transponieren, einen Rückblick aus einer Zukunft, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Unkenrufe (1992) nur Science-Fiction sein konnte: Der Erzähler rekonstruiert das Geschehen im Jahre 1999. Dies ermöglicht ihm den nötigen Abstand, um zu bewerten, was als Utopie noch durch seine Ablehnung hindurch als eine Vision lebendig bleibt, die an der Realität zwar scheitert, ihre utopische Kraft aber noch im Scheitern behält.

Grassʼ Erzähler überblendet dieses Scheitern mit der Geschichte der von Grass abgelehnten politischen Entwicklungen wie beispielsweise der deutschen Einheit, genauer: der Art und Weise, wie diese zustande kam: „Hat nicht der lautverstärkte Ruf ,Wir sind ein Volk!‘ das Geflüster der Liebenden, ihr leises ,Wir sind ein Fleisch‘ übertönt?“ Damit entsteht ein Widerspruch zwischen historisch-ökonomischer Entwicklung und der privaten Liebesgeschichte von Alexandra und Alexander. Wie bei Jünger driften individuelle Biographie und Entwicklung des Projekts auseinander, wie bei Jünger gerät das Projekt in die Hände der Geschäftemacher (denen Grass ja auch die von ihm abgelehnte Art und Weise der deutschen Wiedervereinigung vorhält), während die Helden sich der weiteren Entwicklung entziehen. Wo bei Jünger freilich der männliche Einzelne sich aus der Welt hinaus transzendiert, wächst bei Grass das Paar zusammen und als „ein Fleisch“ in ihrer erotisch-sinnlichen Begegnung aus ihrer Welt (und dem Projekt) hinaus. Selbst der eher ablehnende Erzähler kann seine Faszination dieser Liebe gegenüber nicht verbergen: „Fast bewundere ich, wie die beiden, gehoben von ihrer Idee, mehr und mehr abseits ihrer Nationen lebten, oder sich ihnen überstellt begriffen.“

Wie aber kann, wie soll dies enden? Grass kann die Liebe nur zu einem finalen Ende führen, einer raschen Bewegung aus dem genossenen Augenblick in einen bei ihm transzendenzfreien Tod hinein. Das alte Glücks- und Sehnsuchtsmotiv „Neapel sehen und sterben“ wird zur Grundmelodie des deutsch-polnischen Todes, der Alexandra und Alexander endgültig vereint: „Na, wenn ich schon gesehn hab Neapel, kann ich ja sterben gleich.“ Ein Autounfall zwischen Rom und Neapel führt sie jenem raschen Ende entgegen, das den Erzähler überhaupt erst zum Erben der hinterlassenen Aufzeichnungen macht. Noch im Tod freilich wird das Projekt der Deutsch-Polnischen Friedhofsgesellschaft relativiert, vielleicht sogar auf eigenartige Weise transzendiert: Die beiden werden auf einem italienischen Dorffriedhof namenlos begraben. Wie bei Jünger sind sie am Ende weit jenseits dessen, was sie ursprünglich vorhatten.

Beide Autoren lassen die utopische Idee literarisch scheitern am ökonomischen Zug der Moderne, denen die Hauptfiguren beider Erzählungen am Ende entgehen. Scheitern ist, so könnte man sagen, in das jeweilige Projekt eingeschrieben und stellt sich dann ein, wenn das Utopische einer Kommerzialisierung zum Opfer fällt, sich die Moderne in dem durchsetzt, was gegen sie gerichtet war. Den Helden bleibt dann nur noch der rettende oder tödliche Auszug aus der Welt.

In ihrer gegen ihre Zeit (bei Grass gegen die ‚moderne‘ Ökonomisierung der Nachwende-Welt, bei Jünger gegen die Moderne schlechthin) gerichteten Stoßrichtung bezeugen beide Erzählungen Defizite in der kollektiven Wahrnehmung und Erinnerung, die auf einen partiell tabuisierten Umgang mit der Geschichte zurückzuführen sind. Vielleicht ist hier Jünger mit seiner verwirrenden Platzierung des ersten Teils von Aladins Problem in einem leicht irreal wirkenden polnischen Schlesien noch ‚tabubrechender‘ als Grass, der seinem, dem Leser bereits bekannten Lebensthema Danzig treu bleibt. Jedenfalls entwickeln beide von der schwierigen deutsch-polnischen Geschichte, beide von einst deutschen und heute polnischen Schauplätzen aus ihre Geschichte. Bei allen Unterschieden rühren sie damit an das kollektive Gedächtnis mindestens zweier europäischer Völker – und zwar zu Zeitpunkten, zu denen die gemeinsame Aufarbeitung naher Vergangenheit noch weniger weit entwickelt war als heute.

Sie schreiben sich in die Wunde des Vergessens, in die Tabus oft noch gegeneinander gerichteter gemeinsamer Verdrängung ein. So kommt es zu den erstaunlichen Parallelen zwischen dem ‚linken‘ Großautor Grass und dem ‚rechten‘ Großautor Jünger – und natürlich auch deshalb, weil Grass Jünger gelesen und daraus seine Schlüsse gezogen hat: Er holt Jüngers ins Transzendentale weisende Utopie auf den Boden der deutsch-polnischen Wirklichkeiten zurück, um von dort aus dem revanchistischen Denken eine klare Absage zu erteilen, dem Jüngers Text mit seiner Evokation eines deutschen Schlesien sich stellenweise gefährlich nähert. Und dies sowohl inhaltlich als auch durch die für Grass durchaus typische Ausgestaltung des unzuverlässigen Erzählers, der in seiner gebrochenen Haltung einem anderen Geschichtsbild verpflichtet ist, als der bis zuletzt ernst bleibende, monolithische Erzähler Ernst Jüngers. Wo Jünger auktoriale Würde inszeniert, die letztlich transrealer Stützung bedarf, konzentriert sich Grass auf die humane Vergänglichkeit scheiternder Menschen. So finden seine Protagonisten ein reales Grab in fremder Erde, während Jüngers Held die Welt verlässt, um in ein Unbestimmtes zu verschwinden, das kein Grab ist, sondern dessen Leugnung.