Big Brother will be watching you

Boualem Sansals „2084. Das Ende der Welt“ erzählt die Zukunft als totalitäre Glaubensdiktatur

Von Rosa EidelpesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rosa Eidelpes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zukunft wird die ganze Welt von einem totalitären religiösen System beherrscht werden – diese dystopische Vision entwirft der jüngste Roman des frankophonen algerischen Schriftstellers Boualem Sansal, „2084. Das Ende der Welt“. 2015 im Gallimard Verlag erschienen, hat dieser in Frankreich einen raschen Aufstieg zum Bestseller hingelegt und wurde für zahlreiche Literaturpreise nominiert. Auf Deutsch liegt Sansals literarische Fiktion einer fundamentalistischen Glaubensdiktatur nun in der Übersetzung von Vincent von Wroblewsky vor.

Boualem Sansal gilt als einer der wichtigsten algerischen Autoren der Gegenwart. Neben seinen Romanen ist er vor allem für seine islamkritischen Schriften bekannt, in denen er vor einem jederzeit drohenden Umschlag des religiösen Islam in einen totalitären Islamismus warnt. In seinem Heimatland Algerien bekommt der Autor regelmäßig Morddrohungen, in Europa erfahren seine Thesen eine breite mediale Aufmerksamkeit, in Deutschland erhielt er 2011 für sein Werk den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Auch „2084“ ist als implizite Kritik islamischen Fundamentalismus zu verstehen, das Szenario des Romans unverkennbar an die Ideologie des IS angelehnt. „2084“ spielt im fiktiven Gottesstaat Abistan, wo die Bevölkerung der Religion des Gottes Yölah und seinem Propheten Abi huldigt, dem Abistan seinen Namen verdankt. Der totalitären Diktatur seiner literarischen Vorlage, George Orwells „1984“, steht Abistan in Sachen Unterwerfung um nichts nach: Mit allgegenwärtiger Überwachung und Kontrolle sowie einem fünf Mal täglich verabreichten narkotischen Brei werden die Menschen in Abistan gefügig gehalten. Minutiös ausgeführte religiöse Rituale und strenge soziale Hierarchien beherrschen den Alltag. Das Leben dreht sich um kollektive Gebete, öffentliche Beichtbekenntnisse und die regelmäßig inszenierte Massenhinrichtung all jener, die als Glaubenssünder und Gegner des Regimes gelten. Abistan liegt in einer unfruchtbaren, postapokalyptischen Welt aus Hitze, Stein und Wüstensand, gezeichnet von den Narben vergangener nuklearer Kriege. Doch nun ist der Feind besiegt und die Geschichte vom Regime aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Die Vergangenheit existiert nicht mehr, die Zukunft ist einzig als endlose Fortsetzung des Status quo denkbar, die Gegenwart ewig geworden: „Ein Datum hatte sich durchgesetzt, man wusste nicht wie und warum, es hatte sich in den Hirnen eingegraben und stand auf den Gedenktafeln nahe den Überresten: 2084.“

Der Roman folgt dem Protagonisten Ati auf seiner Suche nach den Grenzen dieser trostlosen Welt, nach einem Ort außerhalb des Systems und nach möglichen letzten Enklaven politischer Demokratie. Aber gibt es ein Jenseits? Abistan scheint grenzenlos und Abi ebenso unsichtbar wie sein kontrollierender Blick allgegenwärtig: „Bigaye“ ist sein verbotener Name, den sich die Bevölkerung hinter vorgehaltener Hand zuflüstert – die abistanische Variante von Orwells „Big Eye“, dem Auge des fiktiven Diktators. „Big Brother is watching you“, 1984 wie 2084, in Ozeanien wie in Abistan. Doch im Unterschied zu Orwell kontrolliert der Apparat in Abistan die Bevölkerung nicht mithilfe futuristischer Technologie, sondern durch den Zwang zur unaufhörlichen Einübung der religiösen Doktrin. Abistan ist zivilisatorisch und technologisch auf dem Stand des Mittelalters, Herrschaft wird nicht durch Abhörung oder Kameraüberwachung ausgeübt, sondern durch soziale Kontrolle und Denunziation. Ob die von der Bevölkerung gefürchtete telepathische Gedankenpolizei tatsächlich existiert, ist mehr als fraglich. Und den Regierungssitz der „Gerechten Brüderlichkeit“, eine majestätische Pyramide, ziert zwar das riesige Auge Abis, das mit scheinbar telepathischen Strahlen die Umgebung nach Gedankenverbrechen absucht, doch letztlich ist diese Form der Überwachung sekundär. Das System zwingt die Bevölkerung vielmehr zur pausenlosen Einhaltung eines religiösen Regelwerks. „Glauben“ heißt in Abistan, sich diesen Regeln und Ritualen bedingungslos zu unterwerfen, echte innere Glaubensüberzeugung ist dagegen gerade nicht erwünscht, „denn wenn man an eine Idee glaubt, kann man auch an eine andere glauben, an ihr Gegenteil zum Beispiel.“ Jede Form eigenen Denkens ist aber verboten. Um komplexe Gedanken gar nicht erst entstehen zu lassen, ist die Sprache Abistans, das sogenannte „Abilang“, auf die nötigsten Vokabeln reduziert. Erst als sich der lungenkranke Ati während eines Aufenthalts in einem Tuberkulosesanatorium von den religiösen Routinen befreit sieht, keimen in ihm erste Zweifel am System:

Nach und nach tauchte eine unbekannte Welt auf, in der seltsame, nie gehörte Worte gelten, vielleicht flüchtig erblickt, wie Schatten, die im Gewühl der Gerüchte vorüberhuschen. Ein Wort faszinierte ihn, es öffnete die Tür zu einem Universum von Schönheit  und unerschöpflicher Liebe, in dem der Mensch ein Gott war, der aus Gedanken Wunder machte. […] Eines Nachts hörte er sich unter der Bettdecke flüstern. […] er stotterte die Silben: Frei… heit.

Stark ist der Roman in den reflexiven Passagen, in denen man Atis Gedankengängen in Form innerer Monologe folgt. Im Moment des selbständigen Denkens wachsen seine Zweifel am System heran zur Idee freien Willens, zum Verlangen nach individueller Selbstbestimmtheit und schließlich zur inneren Revolte. Im Verlauf seines Erkenntnisprozesses meint man, in Ati zunächst einen Kierkegaard’schen Gedanken über Religion reifen zu sehen: Er erkennt, dass es ohne ein sich selbst erkennendes Bewusstsein auch keinen Glauben geben kann, sondern nur religiöses Dogma. Ohne Individuum keine echte Religiosität. Seine Gedanken führen Ati schließlich konsequenterweise weiter zu einem radikalen Atheismus: „Das war die Erklärung, er war wie Gott, alles kommt von ihm und löst sich in ihm, das Gute und das Böse, das Leben und der Tod. In Wirklichkeit existiert nichts, nicht mal Gott, er allein ist.“

Doch solche gelungenen, gleichermaßen philosophischen wie poetischen Textstellen sind leider in ein nicht ganz so geglücktes Romanganzes eingebettet: Der Versuch Sansals, ein düsteres Science-Fiction-Szenario mit einer gleichnisartigen Erzählstruktur zu paaren, wirkt stilistisch unentschlossen. Inkonsistent ist auch die Erzählerstimme, die mal aus Innenperspektive der Welt von 2084 und ihrer Figuren berichtet, im nächsten Moment jedoch auf die Metaebene wechselt und in belehrendem Ton über das Geschehen urteilt. Die Charaktere der Romanfiguren bleiben unentwickelt, Dialoge und Handlung sind oft nur schematisch ausgearbeitet und gegen Ende des Buches werden die Ereignisse geradezu sprunghaft gerafft. Von einer Welt zu erzählen, in der die Zeit stillt steht und nichts mehr passiert, sei nicht leicht, bekannte Sansal in einem Interview – und das ist dem Roman auch anzumerken.

„2084“ ist seit seinem Erscheinen oft mit Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ verglichen worden. Beide Bücher imaginieren die drohende Übernahme westlicher Demokratien durch den radikalen Islamismus. Doch ihre Perspektiven auf das Phänomen sind unterschiedlich: Houellebecq spürt mit analytischem Blick die Zusammenhänge zwischen dem Versagen europäischer Politik und dem Erstarken fundamentalistischen Gedankenguts auf. Es sind die Schwachstellen des westlichen Liberalismus, die in „Unterwerfung“ dem islamistischen Fundamentalismus überhaupt erst das Einfallstor öffnen. „2084“ legt dagegen in doppelter Hinsicht einen Zeitsprung in die Vergangenheit hin: Einerseits ist Abistan eine rückständige, mittelalterliche Zivilisation, andererseits knüpft das religiöse Regime in Sachen totalitärer Kontrolle nahtlos an Orwells Diktatur von 1984 an. Der Bezug zur jüngsten Gegenwart ist in „2084“ dagegen weitgehend von Nostalgie geprägt, die Romanfiguren suchen nach den Resten eines utopisch anmutenden 20. Jahrhunderts, nach dessen demokratischer Freiheit, Zivilisiertheit und kultureller Vielfalt sie sich sehnen. Doch wäre es nicht interessanter gewesen, auch in der literarischen Fiktion der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der islamistische Fundamentalismus eben gerade kein vormodernes Phänomen ist, sondern dem 21. Jahrhundert entspringt – und sich auch dessen Technologien und mediale Formen aneignet? Der Philosoph Slavoj Žižek hat zudem jüngst den Gedanken in den Raum gestellt, der radikale Islamismus sei auch in ideologischer Hinsicht als pervertierter Modernismus zu verstehen und damit trotz seines altertümlich anmutenden Inhalts letztlich ultramodern. In „2084“ bleiben die Verbindungslinien zwischen der politischen Gegenwart des Westens und dem islamistischen Fundamentalismus aber außen vor. So bleibt der Eindruck, dass Sansals futuristisches Szenario der Wirklichkeit hinterherhinkt. Die Realität des radikalen Islamismus ist Sansals Abistan bereits jetzt technologisch und ideologisch einen Schritt voraus.

Titelbild

Boualem Sansal: 2084. Das Ende der Welt.
Übersetzt aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky.
Merlin Verlag, Gifkendorf 2016.
288 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783875363210

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