Das Verbrechen lesen

Wie man einen verdammt guten Krimi schreibt (oder auch nicht) zeigen Clemens Peck und Florian Sedlmeier

Von Klaus-Peter WalterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Peter Walter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

22 Jahre lang, vom Erscheinen des Grundwerkes bis zur letzten Ergänzungslieferung, hat der Verfasser dieser Zeilen das Loseblatt-Lexikon der Kriminalliteratur LKL herausgegeben. Oftmals fragte er sich vergeblich, warum ihn trotz seiner lebenslangen Liebe zur lateinischen Sprache in der römischen Antike angesiedelte Detektivromane so wenig zu fesseln vermochten. Die Falco-Romane von Lindsey Davis etwa oder die SPQR-Serie von John Maddox Roberts. Ihnen schien etwas Entscheidendes, etwas klassisch Detektivisches zu fehlen, was andere Krimigenres wie zum Beispiel den Klosterkrimi oder alles, was später spielt, ganz selbstverständlich auszuzeichnen scheint. Nur was? Was unterscheidet den altrömischen Ermittler vom allseits beliebten Ermittler im englischen Landhauskrimi?

Der von Clemens Peck von der Universität Salzburg und Florian Sedlmeier von der Freien Universität Berlin 2015 herausgegebene Sammelband „Kriminalliteratur und Wissensgeschichte: Genres – Medien – Techniken“ enthält neben vielen anderen hochinteressanten Erträgen der Forschung auch implizit plausible Antworten auf die Frage nach der mangelnden Faszination des gleichwohl nicht unbeliebten „Vintage-Krimi-Genres“. Dieses Ungenügen hat, so zeigt sich, mit den Arbeitsbedingungen des Detektivs zu tun, die sich anscheinend so einfach nicht in ferne Vergangenheiten zurückrechnen lassen. Ein delator, ein Zuträger – so die retrospektiv erfundene lateinische Bezeichnung für den damals nicht existenten antiken Schnüffler – ist eben doch noch nicht ganz ein moderner Detektiv, und wenn dieser Eindruck erweckt werden soll, dann muss das Genre mit offenkundigen Anachronismen spielen. Will man, mit anderen Worten, ein Verbrechen „lesen“, muss es eine lesbare Schrift geben und jemanden, der sie entziffern kann.

Folgt man den zehn in „Kriminalliteratur und Wissensgeschichte“ zusammengestellten Beiträgen, so ist die Voraussetzung für das Funktionieren detektivischer Arbeit eine zweckdienliche Aufbereitung des für die Ermittlung notwendigen Wissens, eine Wissensorganisation. Parallel dazu braucht es eine hochentwickelte staatliche Organisation mit komplexer Administration, denn strenge Spielregeln müssen gelten, wenn ein Verbrechen die Balance zwischen Gut und Böse erst durcheinanderbringen und wenn ein Ermittler sie dann zuverlässig wiederherstellen soll. Der im Vergleich mit der Gegenwart weitaus geringere politische wie epistemologische – erkenntnistheoretische – Organisationsgrad antiker Gesellschaften, in denen die wechselnde Gunst von Caesaren und anderen Despoten die gesellschaftlichen und politischen Spielregeln permanent infrage zu stellen drohte, unterscheidet sich stark von den streng hierarchisierten und durchorganisierten Ordnungen, wie sie uns bereits in den im Mittelalter spielenden Klosterkrimis entgegentreten. Das Wissen im Mittelalter war bereits stark systematisiert – Voraussetzung für eine erfolgreiche Detektion nach festen Regeln. Umberto Eco wusste das und wandte es in Der Name der Rose gekonnt an. Im Altertum dagegen fehlte eine moderne Erkenntnisgewissheit nach unserem Muster. Ähnlich verhält es sich übrigens mit Mark Twains Pudd’nhead Wilson, auf den noch einzugehen sein wird. Dieses Werk  spielt in einer politisch instabilen Phase der US-Geschichte und einer Zeit noch kaum entwickelter Kriminaltechnik. Obwohl es unangefochten als Genreklassiker anerkannt wird, lässt es, ähnlich wie mancher im alten Rom spielende Krimi, begeisterte Krimi-Leser in der Regel reichlich kalt.

Die Geschichte der Kriminalistik, so zeigt der Sammelband, ist die Geschichte von Methoden und Techniken der Systematisierung, Formalisierung und Organisation von Wissen, das zur Ermittlung gebraucht wird und diese überhaupt erst ermöglicht. Wesentlich hierbei ist die Entwicklung weg von individuellen Kenntnissen und Fertigkeiten wie Erinnerung, Erfahrung oder Intuition eines einzelnen Ermittlers hin zu Wissensarchiven, auf die ein oder mehrere Ermittler, bei Bedarf unabhängig voneinander, jederzeit Zugriff erlangen können.

Die kriminalistisch verwendbare Perfektionierung und Optimierung von Organisationssystemen setzte etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein und führte zu unseren heutigen vernetzten Datenbanken mit ihren sehr spezifischen Suchmaschinen. Eine vor über 100 Jahren eingeführte, alphabetisch geordnete Verbrecherkartei war seinerzeit eine bahnbrechende Neuerung, versagte aber bereits, wenn sich ein Verbrecher eines Falschnamens bediente. Manche, wie der berüchtigte Lombroso, glaubten, das Problem biologisch lösen zu können und suchten nach dem „geborenen Verbrecher“, typisierten und kategorisierten aber dort, wo Individualisierung – also die Fahndung nach dem einzelnen Verbrecher, seiner „Masche“, seinem modus operandi – gefragt war. Nützlich bei den Ermittlungen wurde die penible Körpervermessung durch das System Bertillon, doch besser noch war die Daktylografie. Sie ermöglichte Typisierung und Kategorisierung von Daten und gleichzeitig die Individualisierung, die Anwendung auf den einzelnen Delinquenten, den es zu finden oder zu identifizieren galt. Diese an Umwegen reiche Wissensgeschichte schlägt sich in der Kriminalliteratur besonders markant nieder, deren hier vielfach zitierte Referenzfigur Sherlock Holmes ist (man möchte fast sagen, natürlicherweise). Es ist jedoch ein weiter Weg von seinen legendären Verbrecheralben, den Scrapbooks, bis zu modernen Datenbanken. Die Scrapbooks waren vom Meister jedoch ausschließlich zum privaten Gebrauch bestimmt. Die Vernetzung der darin gesammelten Fakten erfolgte nirgendwo sonst als in seinem Hochleistungsgehirn. Ein Zugriff wäre wohl selbst für Holmes’ getreuen Mitbewohner Dr. Watson nicht gegeben gewesen, einfach weil der das verwendete, zum Teil intuitive Ordnungssystem nicht kannte.

Der Sammelband widmet sich vielen zum Teil populären, zum Teil eher abgelegenen Themen wie der „Kriminalliteratur und Evidenzproduktion im Familienblatt Die Gartenlaube“ oder „Der Wissentransformation durch Biometrie“, also dem System Bertillon oder, um nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen, der Großstadtliteratur im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts. Es ist immer wieder verblüffend zu sehen, wie stark sich das Thema Epistemologie bis tief in Textstrukturen hinein auswirkt, ja diese oft sogar bedingt oder erzwingt. Besonders zu nennen sind hier die Beiträge der beiden Herausgeber, nämlich der über Mark Twains Pudd’nhead Wilson (deutsch unter anderem unter dem Titel „Querkopf Wilson“) und der über Balduin Grollers „Wiener Sherlock Holmes“-Figur Dagobert Trostler, der im deutschsprachigen Raum vor allem durch eine sechsbändige Reclam-Ausgabe Anfang des 20. Jahrhunderts Popularität erlangte.

Clemens Peck arbeitet sehr gut den Unterschied zwischen Conan Doyles Meisterdetektiv und dessen Wiener Konkurrenten Detektiv Dagobert heraus. Dagobert klärt kaum wirkliche Verbrechen auf, sondern allenfalls Anschläge auf den guten Ruf seiner Freunde Violett und ihres Mannes, des Bankiers Grumbach, oder den Ruf von deren gutbürgerlichem Wiener Umfeld. Während Dr. Watson eine Doppelfunktion erfüllt, nämlich die einer handelnden Figur und gleichzeitig die des Erzählers, tritt Dagobert nur als Erzähler auf, der seine Fälle nahezu ausschließlich im Rauchsalon seiner Freunde vorträgt. Dieser Rauchsalon gewährt eine Art Schutzatmosphäre, die zum einen vor der Zeugenschaft neugieriger Dienstboten bewahrt und außerhalb derer der Detektiv zum anderen kaum tätig werden kann. Dagobert tritt selten tatsächlich in Aktion, zumal ihm auch ein XXL-Antagonist wie Professor Moriarty bei Holmes fehlt. Und wenn Dagobert wirklich einmal nach draußen gelangt, treibt er hilflos in einem steuerlosen Nachen durch die Welt. Er ist ein Reputationsdetektiv, der den guten Ruf seiner Gesellschaftsschicht beschützt und wahrt. Diesen Ruf vermag die institutionalisierte Polizei kaum zu erkennen, geschweige denn zu verteidigen. Beschert, so wäre im Sinne des krimibegeisterten Lesers zu fragen, die Rettung eines Rufes dem Leser wie dem Detektiv dieselbe Befriedigung wie die Überführung eines Mörders? Wohl kaum!

Florian Sedlmeiers Untersuchung „Eindeutigkeit und Ähnlichkeit, Bruch und Kontinuität“ in Mark Twains Pudd’nhead Wilson zeigt, wie die Fingerabdruck-Technik die Lösung eines Falles von Kindsvertauschung ermöglicht und gewährt gleichzeitig einen Blick ins Versuchslabor neuartiger Kriminaltechniken sowie auf ihre möglichen gesellschaftlichen Implikationen. Die Sklavin Roxy vertauscht ihren neugeborenen Sohn mit einem gleichaltrigen Kind, um den eigenen Sohn vor dem Verkauf als Sklaven zu schützen. Als der eigenwillige, allseits verspottete Fingerabdrucksammler Wilson dieser Vertauschung auf die Spur kommt und sie in einem spektakulären Prozess nachweist, muss er sich die Frage stellen, woran die Identität der vertauschten Knaben überhaupt festzumachen sei. Liegt sie in der Vererbung? Genügt schon der Vergleich der Fingerabdrücke oder erfordert es mehr Wissen? Und hat seine Erkenntnis Konsequenzen für die Sklaverei? Wird sie von seinen Erkenntnissen bestätigt oder infrage gestellt? Mit anderen Worten: Bestätigt oder kritisiert der Autor das politische System, welches auf Sklaverei fußt? Als Privatmann und Künstler war Mark Twain ein klarer Gegner der Sklaverei, sein Buch, das der Gattung tale (Geschichte) zugeordnet ist und das das Krimigenre parodiert und satirisch zu überwinden sucht, wirkt dagegen in seiner vielfältigen motivischen und epistemologischen Verästelung seltsam ambivalent. Es vermittelt nicht die Sicherheiten, die der Krimi-Leser und Fan zu seiner Befriedigung erwarten darf. Sedlmeier zufolge markiert Pudd’nhead Wilson „den geeigneteren Beginn einer Kriminalliteraturgeschichte Nordamerikas, weil in ihm die Bedingungen der Brüche und Kontinuitäten einer politischen, rechtlichen, sozialen und ökonomischen Ordnung verhandelt werden, in der unterschiedliche Wissensformationen auf dem Prüfstand stehen, die primär den Bürgerkrieg und mithin das System der Sklaverei betreffen und die nordtransatlantische Institutionalisierung einer positivistischen Kriminologie nationalkulturell rückbinden“.

Dem literaturwissenschaftlich Interessierten bietet „Kriminalliteratur und Wissensgeschichte“ eine Fülle neuer Erkenntnisse. Vladimir Nabokovs Roman Lolita einmal unter dem Aspekt des Geständnisses als Beitrag zur Kriminalliteratur zu untersuchen, ist ebenso überraschend, originell und verdienstvoll wie der Beitrag über Friedrich Dürrenmatts Der Verdacht im Hinblick auf die Shoa.

Als wertvoll erweist sich der Sammelband darüber hinaus auch für den Schreibenden – der Verfasser dieser Zeilen nimmt sich da nicht aus. Hier kann ein Autor auf literarische Strukturen, Methoden und Schreibweisen aufmerksam werden, die er vielleicht immer schon anwendet, über deren Vorhandensein er sich aber vielleicht noch gar nicht bewusst ist. Jeder Beitrag schließt benutzerfreundlich mit einer ausführlichen Bibliografie.

Titelbild

Clemens Peck (Hg.) / Florian Sedlmeier: Kriminalliteratur und Wissensgeschichte. Genres, Medien, Techniken.
Transcript Verlag, Bielefeld 2015.
244 Seiten, 32,99 EUR.
ISBN-13: 9783837628876

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