Der Fortschrittsglaube

Bedrich Loewensteins meist überzeugendes Alterswerk über eine europäische Idee

Von Marius UhlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marius Uhl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich vorweg zu nehmen – Fortschritt gibt es für Bedrich Loewenstein nicht nur als Idee und auch nicht bloß im technisch-wissenschaftlichen Bereich. Insofern liegt seiner Ideengeschichte des Fortschritts auch ein ‚realer‘ Gegenstand zugrunde, der schwer zu messen und nicht immer exakt zu bestimmen ist. Weil Loewenstein jedoch auf die bloße Reduzierung des Fortschritts auf eine Idee verzichtet, gewinnt sein monumentales Werk – er spannt in Der Fortschrittsglaube. Europäisches Geschichtsdenken zwischen Utopie und Ideologie den Bogen von der Antike bis zur Gegenwart – an Leidenschaft, ohne an wissenschaftlicher Redlichkeit zu verlieren. Die Sympathie des Autors ist dabei klar verteilt: Sie gilt den liberalen Demokratien, während die totalitären Diktaturen die Idee des Fortschritts missbrauchen und pervertieren. Da mag es passen, dass Loewenstein, in Prag geboren, als Nicht-Marxist unter der kommunistischen Herrschaft besonders zu leiden hatte. Diese ‚marxistische‘ Erklärung der Gedanken durch die Umstände würde Loewenstein jedoch zurückweisen – es würde seinem Alterswerk auch Unrecht tun.

Zunächst geht es Loewenstein um den Fortschritt als Idee, wobei er den Durchbruch der Fortschrittsidee in der Aufklärung verortet. Zwar kannte bereits die griechische Antike verschiedene kulturelle Stadien oder die Wandlung zum Besseren, doch war das Leben der Völker ein Zyklus: Reiche kamen, Reiche gingen. Dass es aber einen Fortschritt gab – zum Beispiel die Übertragung der städtischen Mittelmeerkultur oder die römischen Institutionen an den barbarischen Westen – konzidiert Loewenstein immerhin. Das europäische Mittelalter – vom Autor zu weiten Teilen unter „Heilsgeschichte“ abgehandelt – konnte insofern zur Entwicklung des europäischen Fortschrittsglaubens beitragen, als der ewige Kreislauf der Antike durchbrochen wurde, weil die eschatologische Erwartung die Zeit linear strukturierte, da es eine gedachte Entwicklung zu etwas hin gab.

Gerade in den Kapiteln zum Mittelalter wird klar, was die europäische Perspektive meint: Byzanz, das Europa vor dessen zunehmender Verrechtlichung, Verschriftlichung und Monetarisierung zivilisatorisch sicher überlegen war, spielt in seinen Gedanken keine Rolle. Das begründet Loewenstein damit, dass der Fortschrittsglauben genuin westlich beziehungsweises europäisch geprägt sei, wie bereits der Untertitel (Europäisches Geschichtsdenken zwischen Utopie und Ideologie) verrät.

Obwohl nach Loewenstein das geschichtsphilosophische Theorem von einer Entwicklung hin zu einem Besseren der Aufklärung entspringt, fällt bei ihm die Querelle des Anciens et des Modernes gleichsam unter den Tisch. Er sieht den Konflikt bereits mit Bacon beendet: „Mit seiner radikalen Zukunftsorientierung war der Streit zwischen ‚Alten‘ und ‚Modernen‘ eigentlich entschieden“. Bacons durchaus ambivalente Rolle könnte Loewenstein dabei intensiver beleuchten: So vertrat der Engländer ein radikales Fortschrittsdenken (vgl. seine Utopie Nova Atlantis), doch waren seine Wissenschaftstheorie (etwa im Novum Organon) und auch seine praktisch-empirischen Beiträge alles andere als relevant für tatsächlichen Fortschritt. Das ist schade, denn Loewensteins Kenntnis der europäischen Geistesgeschichte ist mehr als beachtlich, ja gleichsam enzyklopädisch. Ihm gelingt es, alle bedeutenden europäischen Denker in seinem Werk zu erwähnen und ihre Gedanken auf das Thema Fortschritt hin abzuklopfen. So vermittelt er das Gefühl, dass jedem, der zum geistigen Erbe Europas einen Beitrag geliefert hat, sein gebührender Platz eingeräumt wird.

Diese Vorgehensweise ist immer interessant, sie hat allerdings auch ihre Tücken: Loewenstein arbeitet kein methodologisches Fundament heraus, trennt Begriffe wie „Glaube“ und „Idee“ nicht sauber und selbst Fortschritt und Fortschrittsidee verschwimmen. Durch den kaleidoskopartigen Aufbau seines Werkes fehlt ihm zuweilen der rote Faden, beispielsweise wenn der Autor gar bis hin zur Suche nach den Gründen für den Ersten Weltkrieg abschweift. Die Stärke dieser Vorgehensweise zeigt sich hingegen darin, dass es Loewenstein insgesamt gelingt, einen überzeugenden Sinnzusammenhang von der Antike bis zur Gegenwart herzustellen.

Wenngleich er den wahren Beginn des Fortschrittsglaubens in der Aufklärung zu sehen scheint – so richtig verortet er den Beginn (sofern es ihn gibt) dieses Glaubens nicht. Dazu passt seine Aussage, dass der „eigentliche Impetus zur Formulierung der Fortschrittsidee […] nicht einfach aus der Quelle der neuen Wissenschaftskonzepte [kam], sondern vielmehr aus dem Zusammenspiel von Intellekt und aktivistischem Glaubensverständnis“. Dieses fehlende Sich-Festlegen auf beziehungsweise das Verschwimmen der Begriffe „Idee“ und „Glaube“ mag auf die angerissene essayistische Form des Werkes zurückzuführen sein. Eine ausführlich ausgearbeitete wissenschaftliche Fragestellung fehlt, sodass es auch nicht die zentralen Thesen gibt, die Orientierung bieten würden. Das Werk bleibt schwer greifbar, jedes Kapitel steht gleichberechtigt neben den anderen.

Bedingt durch die essayistische Form trifft Loewenstein seine (wenigen) Fehlurteile en passant, das heißt ohne wirkliche Begründung. Beispielsweise schreibt er: „Philosophisch brachte die Aufklärung kaum Neues gegenüber den griechischen Sophisten“. Das ist schon allein deshalb nicht zutreffend, berücksichtigen wir den von Denis Diderot, aber vor allem von Claude Adrian Helvétius, Baron d’Holbach und Julien Offrey de La Mettrie vertretenen Materialismus oder verorten wir Immanuel Kant in der Aufklärung. Loewensteins Wertungen können aber auch Spaß machen, etwa wenn er Georg Wilhelm Friedrich Hegels Weltgeist als „maßloses Apriori“ bezeichnet.

Überhaupt ist Loewensteins Aufklärungskritik zu harsch: Das Gewissen als lumen naturale oder göttlicher Instinkt ist ihm Ideologie und auch sonst versucht er, die Aufklärer an dem kranken zu lassen, was diese eigentlich kritisierten – waren ihre Ansichten nicht auch ein bloßer Glaube? Hier verwischen die Grenzen zwischen unterstellter und tatsächlicher Ideologie, denn die Aufklärer hatten für ihre Ansichten meist rational nachvollziehbare Gründe. Das Sich-Berufen auf die Vernunft stilisiert Loewenstein jedoch zu einem „Diktat im Namen ‚der Vernunft‘“, einen „Szientismus“, der zur „Grenzüberschreitung vom Faktischen zum Normativen“ führe. Dies ist mit Sicherheit übertrieben, auch wenn die Aufklärung in manchen Fällen zur Überbetonung oder Überschätzung der Vernunft neigte. So scheibt Loewenstein zu Recht, dass die Ursache aller Irrwege in Geschichte und Moral eben nicht unbedingt Irrtümer intellektueller Art oder „erreurs physiques“ waren.

Trotz der Aufklärungskritik – Loewenstein ist ein liberaler Geist und den Beginn des Fortschrittsbewusstseins macht er in der Aufklärung fest. Begriffe wie „Zivilisation“ und „Fortschritt“ werden hier (von den Physiokraten) geprägt. Auch wie ‚modern‘ das 18. Jahrhundert schon denken konnte, wird deutlich: „Das 18. Jahrhundert glaubte, wie wir gehört haben, dass das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, Arbeit und friedlicher Tausch, die schrittweise Vermeidung von blutiger Gewalt das Gesetz des Fortschritts bildet.“ Manch einer wäre geneigt, dieser Ansicht spontan zuzustimmen.

Stark ist Loewensteins Passage über die Französische Revolution: Hier zeigt er, wie ein Begriff – in diesem Fall „Freiheit“ – missbraucht werden kann und den Zusammenhang mit dem realen Hintergrund verliert. Nicht nur der Vergleich mit der Sowjetunion und der DDR bieten sich an – auch heute sprechen Despoten von „Demokratie“ oder „Menschenrechten“ und haben für beides doch nur Verachtung übrig. Loewenstein zeigt, dass keine Idee vor ideologischer Vereinnahmung oder Degradierung zum politischen Schlagwort gefeit ist.

Er schreibt keine reine Ideengeschichte. Für ihn sind Ideen in ein „Bedingungs- und Interdependenzgeflecht von Herrschaft, Wirtschaft und Kultur“ eingebunden, und auf dieses Geflecht kommt er besonders dann zurück, wenn ihm eine Epoche als prägend für den Fortschrittsglauben erscheint (zum Beispiel die Aufklärung oder das 20. Jahrhundert).

Klar wird auch, dass es für Loewenstein tatsächlichen Fortschritt gibt. Dieser vollzieht sich bei ihm als dynamischer Prozess, der sich nicht von selbst einstellt, sondern immer wieder neu vom Menschen in Gang gebracht werden muss. Wie genau das geschieht, dafür gibt es kein Patentrezept, gerade weil Absicht und Wirkung oft differieren, wie Loewenstein zeigt: Häufig stellt sich Fortschritt unbeabsichtigt ein. Gerade aber der Aspekt, dass der Mensch den Fortschritt in Gang bringen muss, ist aktueller denn je, vor dem aktuellen Hintergrund der politischen Entwicklungen in der Türkei oder der Bürgerkriege im Mittleren Osten. Dort scheint es – in Kategorien des Fortschritts gedacht – eher zu einer Rückentwicklung zu kommen.

Loewensteins eigener Fortschrittsbegriff entspringt keiner strikten Definition, sondern lässt sich aus dem Sinnzusammenhang einzelner Passagen erahnen. Allgemein gesprochen lässt sich Fortschritt für Loewenstein nicht auf Wissenschaft und Technik reduzieren – eine solche Ansicht neige zu Kulturblindheit. Doch was ist Fortschritt dann, denn unbestreitbar sind kulturelle Fortschritte schwer zu messen. Ist Fortschritt nur eine „Sache der Wertung“, gar ein Axiom (Robert Alexander Nisbet)? Erst am Ende seines Werkes nennt Loewenstein mögliche Fortschrittskriterien, die da lauten: Ausweitung von Teilhabechancen, höhere Leistungskraft politischer Institutionen im Sinn von „good governance“, Öffnung der Gesellschaften nach innen und außen, Verhandlung statt Zwang. Wer diesen vorsichtig formulierten Kriterien zustimmt, wird auch verstehen, warum nicht bloß der Fortschrittsglaube, sondern auch der tatsächliche Fortschritt europäische Wurzeln hat. Und dafür ist es auch legitim, wenn der Autor die konkreten Inhalte des Fortschritts in der Schwebe lässt.

Lobend hervorzuheben ist außerdem Loewensteins Differenzierung in politischen und wirtschaftlich-technischen Fortschritt, die sich spätestens im 19. und 20. Jahrhundert vollzog. Auf das noch heute existierende antiliberale Verständnis mancher Industriegesellschaft weist er explizit hin: Wirtschaftswachstum und technischer Fortschritt führen nicht automatisch zu Demokratie (als Beispiel könnten wir das heutige China nennen). Die eigentlich starke Analyse Loewensteins wird teils zu politisch, beispielweise schreibt er: „Immer bedarf es demokratischer Kontrolle, aber vielleicht sollte diese nicht durch Plebiszite überstrapaziert werden.“

Ambivalent bleibt die langfristige Wirkung des Amerikanismus, den Loewenstein mit Pragmatismus (für jedes Problem gibt es eine praktikable Lösung) und mit dem technischen Durchbruch verbindet. Dass er den Amerikanern eine „naiv-selbstbewusste Identifizierung mit dem Guten und der eigenen Geschichte mit dem Fortschritt“ attestiert, darf nicht über sein insgesamt positives Amerikabild hinwegtäuschen. So betont er zum Beispiel, dass die Menschheit den amerikanischen Gründervätern die „Abschaffung von staatlichem Zwang und die Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften“ verdanke. Die (europäische) Identifizierung von Amerikanismus und Technokratismus nennt er eine „Halbwahrheit“, im amerikanischen Wertesystem sieht er mehr als Technik und Geschäft: „Einen ungebrochenen Glauben an Demokratie, die mehr war als formale Verfahrensregeln oder eine populistische Parole, als Vision für die ganze Welt, besaßen 1945 eigentlich nur die Vereinigten Staaten.“: Dem „Imperium auf Einladung“ stellt er das sowjetische Oktroi gegenüber: „Eine Partei, die auf totale Vernichtung des Gegners zielte, hatte nichts aus der Sackgasse des Faschismus gelernt.“

Und heute? „Wir zahlen für die arbeitsteilige Spezialisierung der Zivilisation nicht nur mit Entfremdungsgefühl, sondern auch mit tatsächlichem Verlust individuellen Einflusses auf eine anonymisierte Welt objektiver Zwänge.“ Hier und an anderen Stellen zeigt sich Loewenstein als Fortschrittsskeptiker, der großes Misstrauen gegenüber jeglicher Fortschrittsutopie (Karl Marx,  Wladimir Iljitsch Lenin) hegt. Letztlich verweist diese Skepsis auf die Ambivalenz des Fortschritts selbst.

Insgesamt hat Loewenstein mit Der Fortschrittsglaube ein starkes Alterswerk vorgelegt, das leider in einer unwürdigen Ausgabe herausgegeben wurde. Die vorliegende Ausgabe von 2015 wurde gegenüber der Erstausgabe 2009 erweitert und völlig überarbeitet. Ein zweites, erklärendes Vorwort hätte daher gutgetan. Viel schlimmer an dieser Ausgabe jedoch ist, dass sie völlig lieblos publiziert wurde. Da es sich um so etwas wie die Essenz von Loewensteins wissenschaftlichem Werk handelt, tut der Verlag dem Autor mit dieser Edition Unrecht. Bereits im Text auf dem Buchrücken findet sich ein Fehler und es gibt Seiten, die nicht weniger als zehn Kommafehler enthalten, was den Lesefluss mitunter erheblich stört.

Der inhaltlichen Qualität soll dies keinen Abbruch tun und jedem, der sich für Ideengeschichte interessiert, sei dieses Buch empfohlen.

Titelbild

Bedrich Loewenstein: Der Fortschrittsglaube. Europäisches Geschichtsdenken zwischen Utopie und Ideologie.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2015.
520 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783534266661

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