Nordhühner und Südhühner

NS-Rassenideologie auf dem Hühnerhof

Von Oliver KohnsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Kohns

I.

Das Huhn ist kein klassisches politisches Symboltier. Während der Hahn aufgrund seiner ihm zugeschriebenen Wehrhaftigkeit immerhin über eine gewisse Dignität als Wappentier (etwa als Symboltier Frankreichs) verfügt, erscheint die Henne offenbar immer schon als ein reines Nutztier, das vor allem Eier und Fleisch, aber nur wenig symbolischen Mehrwert liefert. Dieser Eindruck ergibt sich jedenfalls aus der Lektüre des Artikels Henne, Huhn, Hun in Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigen Universal-Lexikon aller Wissenschafften und Künste aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hier erfährt man viel über den – vermeintlichen – medizinischen Nutzen der äußeren und inneren Anwendung von Hühnerfleisch – beispielsweise, dass man das „Gifft“ aus einer Pestbeule ziehen kann, indem man ein gerupftes lebendes Huhn darauf setzt ­ – und nur nebenbei auch etwas über die symbolische Bedeutung von Hühnern:

Die Henne ist wegen der Emsigkeit in Suchung ihrer Nahrung, ein Sinn-Bild des Fleisses und der göttlichen Vorsorge; wegen der Sorgfalt vor ihre Küchlein, ein Sinn-Bild der Mütterlichen Liebe, und der Vorsorge derer Obern vor ihre Unterthanen; und wegen ihre Gackens ein Sinn-Bild des eiteln Ruhms. (Zedler 1961 [1732–1750], XII, 1373)

Charakteristisch ist die Gender-Markierung: Der Henne werden aufgrund der im 18. Jahrhundert installierten Geschlechterordnung dezidiert häusliche Eigenschaften ­ – Emsigkeit, Fleiß, Mütterlichkeit – ­ zugeschrieben, was erklärt, warum sie keine Tradition als politisches Symboltier aufweist. Diese Gender-Markierung schreibt (mit misogyner Note) noch Hermann Pösches Das Leben der Hausthiere fest: „All ihr Verstand ist Mutterliebe, und Mutterliebe hat all ihren Verstand in sich aufgenommen“. Die Fähigkeit der Henne, Analogien sogar zu göttlichem Handeln hervorzubringen – in der noch im Zedler eine Erinnerung an die Hühnerorakel der römischen Antike herausklingt –, ist hier verlorengegangen. Nach dem Ende der „Episteme der Ähnlichkeit“, die den Zedler-Artikel noch prägt, wird das Huhn auf seine animalische Natur zurückgeworfen. In der Moderne werden Kategorien wie Emsigkeit und Sorgfalt als Anthropomorphismen kritisierbar; seit René Descartes ist das Tier (wie Jacques Derrida betont) dasjenige Wesen, das nicht antwortet und nicht verantwortlich ist, weshalb es seitdem nur noch eine Sprache über das Tier gibt, die wesentlich eine Sprache über die Mängel des Tiers ist. Petra Lutz hebt die mangelnde Fähigkeit des Huhns, „sich Überblick zu verschaffen“ hervor, weshalb dieses „zu potentieller Alarmbereitschaft und Überreaktion“ (Lutz 2012, 181) neige und demzufolge ebenso antiheroisch wie komisch wahrgenommen werde. Diese Beschreibung zielt auf die zentrale politische Allegorie des Huhns in der Neuzeit: auf das Hühnervolk, in der politischen und journalistischen Sprache populär in der Metapher des (aufgeschreckten) Hühnerhaufens. „Like a chicken with its head cut off“, sagt man im Englischen: Die Metapher des Hühnerhaufens bedeutet Kopf- und also Führungs-, Ziel- und Orientierungslosigkeit, Verwirrung und Lächerlichkeit, und dies stets im Plural, bedingt durch seine verwirrende und auseinanderstiebende Pluralität. Die politische Zoologie der Moderne spricht nicht mehr vom Huhn, sondern stets von Hühnern: Das Haushuhn symbolisiert die politische Masse, die zumindest aus konservativer Perspektive ebenso wie das Huhn genuin weiblich konnotiert und notwendigerweise durch eine Mangel an Vernünftigkeit und Selbstbeherrschung charakterisiert ist.

Einen Hühnerhaufen stellen daher insbesondere diejenigen dar, die im Verdacht stehen, die Autorität eines Führers nicht anzuerkennen. In diesem Sinn bezeichnet Adolf Hitler die „intellektuellen Schichten“ in einer Geheimrede vor 400 deutschen Pressevertretern am 10. November 1938 als ein „Hühnervolk“. Zu diesem Hühnervolk gehören Hitler zufolge all jene, die das Selbstbewusstsein des Volks schwächen, indem sie an seiner Führung (das heißt am „Führer“) zweifeln. Indem Hitler voraussetzt, dass das (angestrebte) „tiefe Selbstbewußtsein“ des Volks nur durch die „selbstsichere Überzeugung“ erlangt werden könne, „daß erstens in Deutschland das Volk selbst einen Wertfaktor darstellt und daß zweitens die Führung dieses Volkes richtig ist“, dann zeugt jede Kritik an der Führung von einer Ich-Schwäche, die das „Selbst“ des Volkes (das wesentlich an der Anerkennung der Führung hängt) jederzeit gefährden kann. Das „Hühnervolk“ der Intellektuellen ist so – im Gegensatz zum „wahren“ Volk – nicht nur selbst führungs- und kopflos, es gefährdet die Führung auch aller anderen, es gefährdet seinen Status als Volk und droht, auch dieses in ein Hühnervolk zu verwandeln. Das Huhn ist daher per se pathologisch, es ist krank und verbreitet Krankheit: In diesem Sinn wettert Hitler gegen die (wiederum feminin markierte) „Hysterie der Masse und […] besonders die Hysterie unserer intellektuellen Schichten“, gegen diese „überzüchtete[], intellektuelle[] und hysterische[] Schicht“, die man – wenn man sie nicht doch auch bräuchte – „eines Tages […] ausrotten oder so was“ könnte.

II.

An der antiakademischen Stoßrichtung der NS-Ideologie konnte kein Zweifel bestehen; umso größer war der Druck auf systemkonforme Wissenschaftler, ihre Loyalität und die Nützlichkeit ihrer Forschung für das Regime unter Beweis zu stellen (vgl. Sieg 2001, 257). Einen „intellektuellen“ Zweifel an der Führung konnte dem Biologen Erich Jaensch und seinen Schülern jedenfalls kaum nachgesagt werden. Jaenschs tierpsychologische Untersuchung über Hühner kann als Versuch charakterisiert werden, die Kritik des „Führers“ am Hühnervolk wissenschaftlich zu differenzieren und gleichzeitig absolut buchstäblich zu verstehen. Indem Jaensch die Hitler’sche Differenz zwischen dem an sich „selbstbewussten“ deutschen „Volk“ und dem „hysterischen“ Hühnervolk in die Welt der Hühner hineinprojiziert, gelingt ihm – in seiner Perspektive – zweierlei: Erstens ein naturwissenschaftlich fundierter Beweis für die universelle Gültigkeit der NS-Rassenideologie – nicht nur beim Menschen, sondern bei allen biologischen Wesen –, und daraus folgt zweitens, dass die Beschäftigung mit Hühnern als „Aufklärungsmittel“, das heißt  als didaktisches beziehungsweise propagandistisches Instrument nützlich ist, um das Rassendenken auch in Bezug auf Menschen zu veranschaulichen.

Jaenschs These lässt sich schnell zusammenfassen. Der Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Annahme, dass es für die „psychologische Typenforschung […]  verschiedene menschliche Grundformen gibt, darunter südliche und nördliche Grundformen, d.h. solche, die mehr den geobiologischen Faktoren, den Lichtverhältnissen, den Lebensbedingungen des Südens oder mehr denen des Nordens angepaßt sind“. Das Stichwort „Anpassung“ verdeutlicht den Anschluss an das Paradigma der Darwin’schen Evolutionstheorie und markiert den Anspruch, psychologische Beobachtungen auf biologische Faktoren zurückzuführen. In einem zweiten Schritt behauptet Jaensch am Beispiel des Huhns die universelle Gültigkeit dieser „Grundformen“. „Unsere Untersuchungen zeigen nun“, schreibt Jaensch, „daß es bei den Hühnern etwas ganz Entsprechendes gibt: Südformen, die den menschlichen Südformen in elementaren Grundeigenschaften wesensverwandt sind, und Nordformen, die Grundmerkmale der menschlichen Nordformen teilen.“

Die Forschergruppe um Jaensch hat Versuche mit vier verschiedenen Hühnerrassen durchgeführt, um diese These zu belegen. Als Nordhühner bezeichnet Jaensch die Wyandotte (oder „Norweger“) und die Hamburger Goldsprenkel („Norddeutsche“), als Südhühner führt er die italienische Leghorn („Italiener“) und die Andaluza negra („Spanier“). Diese Hühnerrassen hat Heinrich Ermisch in seiner (bei Jaensch angefertigten) Dissertation über Psychophysische und psychologische Untersuchungen zu verschiedenen Hühnerrassen auf eine Art und Weise charakterisiert, die ihre Anleihen bei hergebrachten Nationalstereotypen nicht verhehlen kann. Die norwegischen Hühner weisen demzufolge „eine ruhige, feste Haltung“ auf und zeigen anders als die spanischen und italienischen „keinen Futterneid“ (Ermisch 1936, 212). Die deutschen Hühner werden von den anderen Hühnern („außer den Norwegern“) „gehackt und verfolgt“, sie verteidigen sich jedoch geschickt und zeigen einen ausgeprägten Sinn für Gemeinschaftlichkeit: „Kam es einmal vor, daß ein Tier allein im Stall eingesperrt war, so versuchte es dauernd, laut gackernd, zu seinen Gefährten zurückzukommen.“ Die italienischen und spanischen Hühner seien dagegen „sehr vorlaut in ihren Bewegungen“ und von „großer Aufgeregtheit“, teilweise „sehr zutraulich“, aber auch mit einer „großen Neigung, übelzunehmen“: Kurzum, die „Südhühner“ bilden das hysterische Hühnervolk par excellence. „Die südlichen Hennen der Gruppe B sind weit labiler, sprunghafter und wendiger als die Hennen der nördlichen Gruppe A“, schreibt Ermisch: „Es fehlt ihrem Verhalten die innere Stabilität der nördlichen Rassen“.

Die Unterscheidung zwischen Nordhühnern und Südhühnern ist unübersehbar entlang ideologischer Differenzen und Polemiken konstruiert: Die Beschreibung von Nord- und Südhuhn versammelt Klischees und Stereotypen von Selbst- und Gegnerbild. Auffällig ist der Widerspruch zwischen der ideologischen Prägung der Texte Jaenschs und seiner Schüler und dem darin immer wieder erhobenen Anspruch auf strenge, objektive Wissenschaftlichkeit. Diesen Anspruch erhebt Jaensch insbesondere in seiner immer wieder wortreich versuchten Hinrichtung der Philosophie des Neukantianismus, die er polemisch als idealistischen und wirklichkeitsfremden Gegensatz zu seinem Projekt einer „empirischen Psychologie“ darstellt. Während der Neukantianismus ein „um Wirklichkeit und Wahrheit unbekümmerte[r] Pseudoidealismus“ sei, decke die „empirische Psychologie“ als der „natürliche Antipode“ zur idealistischen Philosophie nicht weniger als „die Wirklichkeit und Wahrheit […] im Bereiche der menschlich-seelischen Tatsachen“ auf.

Die Wahrheit der seelischen Tatsachen wird Jaensch zufolge wesentlich von seiner psychologischen Typenlehre ausgesprochen, die er bereits Ende der 1920er Jahre entwickelt und immer weiter ausgearbeitet hatte. Jaensch unterscheidet zwei Grundformen (die sich in verschiedene Subtypen differenzieren), die gewissermaßen verschiedene Relationen zwischen Subjekt und Welt personifiziert verkörpern. Die „organischen oder integrierten Grundformen (J-Formen)“ auf der einen Seite – das „J“ soll wohl nicht für Jaensch, sondern für „Jünglingstypus“ stehen – sind entweder (J1) „unbedingt nach aussen [sic] integriert[]“ und neigen aus Mangel „an innerer Festigkeit“ zur Konzentration auf seine Außenseite oder (J2) „bedingt nach aussen integriert[]“ und ist fokussiert auf seinen Inneres „in Gestalt von Werten und Idealen“, oder (J3) „rein nach innen integriert“ und lässt sich gar nicht von äußeren Umwelteinflüssen, sondern lediglich von seinem „Trieb und Willensleben“ steuern. Auf der anderen Seite gibt es die nicht integrierte Grundform, beziehungsweise den „Auflösungstypus“ (S1 und S2), der sich durch die „Labilität, die Aufgelockertheit und Aufgelöstheit aller psychischen und psychophysischen Funktionen“ auszeichnet. Die Typologie Jaenschs zeichnet sich aus heutiger Perspektive vor allem durch ihre hochgradige Apodiktik, Willkür und Begründungsarmut aus. Die verschiedenen Typen werden jeweils buchstäblich als natürlich gegeben vorausgesetzt, argumentative Energie wird nur noch in die hauchfeine Differenzierung der Untertypen beziehungsweise in deren Anwendung investiert.

Das wesentliche Ziel der psychologischen Typologie ist in Jaenschs Perspektive eben auch nicht eine hochgradige Differenzierungsfähigkeit. (Wer diese einfordern würde, müsste eine „rein“ theoretische Perspektive einnehmen und die Zuordnung zu einem „Auflösungstypus“ riskieren.) Die Stärke von Jaenschs Typologie liegt vielmehr in ihrer Funktionalität, ihrer Anwendbarkeit durch ihre Fähigkeit zur polemischen Zuspitzung. Carl Schmitts Urteil über die Reduktion der Weltgeschichte auf den Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat im Kommunistischen Manifest trifft auch auf Jaenschs Psychologie, die sich im Extremfall auf den Gegensatz zwischen integriertem und nicht integriertem Persönlichkeitstypus reduziert: „Die Vereinfachung bedeutet eine gewaltige Steigerung der Intensität“ (Schmitt 2010 [1923], 71). Die Möglichkeit der konzentrierten Zuspitzung auf letztlich nur eine Unterscheidung unterstreicht Jaensch ausdrücklich als zentrale Aufgabe seiner Wissenschaft: „Gemäss ihrer engen Arbeitskameradschaft mit der Medizin erforscht die Typenlehre die menschlichen Grundformen hauptsächlich auch daraufhin, inwieweit sie Ausdruck eines gesunden, starken und aufsteigenden oder aber eines kranken, entarteten und niedergehenden Lebens sind“.

Durch diese Fähigkeit zur Zuspitzung hebt sich Jaenschs Ansatz insbesondere von den prominenten NS-Rassetheorien seiner Zeit ab. In Hans F.K. Günthers kanonischer Rassenkunde des deutschen Volkes (1922) differenziert sich die deutsche Bevölkerung in nicht weniger als vier Rassen: nordisch, westisch, ostisch und dinarisch; Ludwig Ferdinand Clauß streicht die dinarische und tauscht sie gegen die fälische Rasse ein. Gegenüber diesen komplexen und umstrittenen Rassenkategorien (vgl. Kohns 2008) bietet Jaenschs Ansatz eine radikale Vereinfachung. Der Gegensatz zwischen ‚integriert‘ und ‚nicht integriert‘ beziehungsweise zwischen ‚nach außen‘ und ‚nach innen‘ integriert (der mit der Unterscheidung zwischen Nordhuhn und Südhuhn parallel verläuft) verwandelt das unübersichtliche Feld verschiedener Tableaus in jeweils klare Unterscheidungen zwischen einem unverkennbar positiven und einem negativen Wertbegriff. Jaensch vollzieht jedoch nicht allein eine Vereinfachung der konkurrierenden Rassensysteme, sondern behauptet zugleich eine naturwissenschaftliche Verifizierung seiner Integrationstypologie, nicht zuletzt durch die Experimente mit den Hühnern. Die streng naturwissenschaftliche Methodik hebt die psychologische Anthropologie in der Perspektive Jaenschs über die Rassenkunde hinaus (Geuter 1985, 187).

Der wissenschaftliche Anspruch ist demnach hoch: Mit naturwissenschaftlicher Objektivität sollen die Experimente mit den Haushühnern die „Wirklichkeit und Wahrheit“ der Methodik der Integrationstypologie sowie der Differenz der psychologischen „Grundformen“ in Nord- und Südausprägungen empirisch belegen. Die empirischen Untersuchungen Jaenschs und seiner Doktoranden belegen – scheinbar jedenfalls – ein unterschiedliches Pickverhalten der Hennen aus dem Norden gegenüber denjenigen aus dem Süden. In einer Versuchsanordnung konnten die Hühner zwischen vier Futterschalen in einem Raum wählen – wobei die Frequenz des „Hin- und Herwechsels“ gemessen und tabellarisch festgehalten wurde. Als Ergebnis dieses Versuchs hält Jaensch fest, dass „die Südhühner […] eine größere Zahl von Wechseln ergeben als die […] Nordhühner.“ Ein weiterer Versuch untersucht die „die einfachste und wichtigste Handlung der Hühner, das Picken der Körner“ und misst die Geschwindigkeit des Pickens in „Pickschlägen“ pro Minute. Die „Nordrassen“ picken, so das Ergebnis des Versuchs, langsamer als die „Südrassen“ (172,8 zu 217,2). Jaensch zögert nicht, dieses Versuchsergebnis in sein Schema zu integrieren und findet eine Interpretation, das langsame Picken gleichzeitig auf Menschen zu übertragen und als Beweis für die Höherwertigkeit der „Nordrassen“ zu behaupten: „Wie bei den Nordhühnern, so pflegen auch bei den menschlichen Nordrassen, darunter namentlich auch das Sprechtempo, langsamer und gemessener zu sein als bei den Südrassen. […] Hier eine sinnvoll abgewogene, nur auf das Ziel gerichtete, jeden unnötigen Aufwand vermeidende Bewegung, dort eine unangemessene Kraftvergeudung“. Die höhere Pickleistung der „Südhühner“ wird so als Zeichen der seit jeher tierpsychologisch mit der Henne assoziierten Kopf- und Ziellosigkeit gedeutet, die geringere Pickleistung der „Nordhühner“ dagegen als Zeichen von Konzentration und Willensstärke: Die wissenschaftlich objektive „Wirklichkeit und Wahrheit“ Jaenschs besteht kurzum darin, das tierpsychologische Klischee für die „Südhühner“ zu bestätigen, um die „Nordhühner“ mit einer gewissermaßen über-hühnlichen Verstandesleistung auszustatten. Jaenschs „tiefschürfende Arbeit“ hätte „keinem Satiriker so gut […] gelingen können“ (Kumpf 1990, 116), resümiert Martin Kumpf nicht ganz zu unrecht.

III.

Es liegt nahe, die Hühnerexperimente Jaenschs und seiner Schüler als ein Exempel für irreguläre Einflussnahme politischer Ideologie in die naturwissenschaftliche Forschung zu interpretieren. Allerdings ist diese Einflussnahme erst aus heutiger Perspektive so einfach zu erkennen: Frappierend an Jaenschs Thesen über Nord- und Südhühner ist gerade, dass sie innerhalb des Wissenschaftsdiskurses der 1930er Jahre als exakte Wissenschaft verstanden werden konnten (und Jaensch sogar seine gesteigerte Objektivität gegenüber der ideologischen Perspektive Cohens behaupten konnte). Ulrich Sieg hebt hervor, dass die Arbeiten Jaenschs einige Beachtung fanden, weil Jaensch als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und Herausgeber der deutschen Zeitschrift für Psychologie über  ein hohes institutionelles Ansehen verfügte und das Projekt der biologischen Fundierung der Psychologie wissenschaftlich en vogue war. Sieg interpretiert die Forschung Jaenschs als Zeichen für den Reputations- und Niveauverlust der Wissenschaften im Dritten Reich: Im Gefolge der Vertreibung jüdischer und oppositioneller Wissenschaftler sei die Wissenschaftslandschaft im Nationalsozialismus durch eine „Homogenisierung der wissenschaftlichen Diskurse“ charakterisiert gewesen, außerdem vielfach nicht einmal bemerkt worden, dass der „Anschluß an internationale Entwicklungen verloren“ (Sieg 2001, 258) ging.

Diese Beobachtung ist zweifellos zutreffend: Jaenschs Argumentationsniveau ist stellenweise erstaunlich dürftig. Dennoch bleibt darauf hinzuweisen, dass die Thesen Jaenschs und seiner Schüler nichtsdestotrotz eine ansonsten selten so unverhüllt adressierte Wahrheit über die Grenze zwischen Mensch und Tier in der Zeit des Nationalsozialismus aussprechen. Der Holocaust wurde – wie zuletzt nochmals Andrew Benjamin in seiner Studie Of Jews and Animals herausgearbeitet hat – vorstellbar und durchführbar durch die Gleichsetzung von Juden mit Läusen, durch die Menschen auf das „non-human in the human“ reduziert werden konnten. Die Studien Jaenschs und seiner Schüler über Hühner führen vor, dass diese Reduktion keineswegs nur in Bezug auf Feindfiguren (wie „die Juden“) durchgeführt wurde, sondern dass sich auch das positiv besetzte Selbstbild der „Nordrasse“ einer Reduktion auf das Nichtmenschliche im Menschen verdankt.

Das wissenschaftliche Projekt der Tierpsychologie, zu dessen prominenten Vertretern Jaensch in den 1930er Jahren zählte, spielte eine besondere Rolle in dieser Reduktion, insofern diese aus methodischen Prinzipien wie aus ideologischen Motiven wesentlich an den Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier fokussiert ist. Die Tierpsychologie zeigt „uns den Organismus besonders in der Instinktlehre als einen von der Erbmasse her gegliederten und fixierten Ablauf“, schreibt Johannes von Allesch im ersten Band der 1937 gegründeten Zeitschrift für Tierpsychologie: „[E]rst indem wir diesen Zusammenhang entdecken, verstehen wir nun auch den Menschen“ (von Allesch 1937, 132). Von Allesch umschreibt präzise den Ausgangspunkt der Tierpsychologie, die durch die Experimente Edward Thorndikes – einem der Vordenker des Behaviorismus – mit Hunden und Katzen auf den Rang „einer exaktem experimentellen Laborwissenschaft“ erhoben wurde. Das Interesse der Tierpsychologie richtet sich folglich auf die „Erforschung der höheren Wahrnehmungsleistungen und der Gesetze des Verhaltens in größeren Bereichen und im Ganzen, also der Taxien, der Triebe und Instinkte“: Alles, kurzum, was experimentell und exakt als leitend für das Verhalten von Tieren bestimmt werden kann und was – unterhalb der Ebene des Bewusstseins – ebenso auch das menschliche Verhalten lenken könnte. Als Einheit dieser Leitungsebene unterhalb derjenigen des Bewusstseins postuliert von Allesch die „organismischen Prozesse“, die „nicht mehr in anorganische Vorgänge aufgelöst werden können“ und also „eine Eigentümlichkeit der lebenden Substanz ausmachen“. An die Stelle des Ich, das durch eine Fülle unbewusster Vorentscheidungen („Triebe und unbewußte Gesamteinstellungen, Zwangsverläufe und unbewußte Handlungsdeterminanten“) ausgehöhlt erscheint, tritt die „Lebensfunktion“ als eine gewissermaßen elementare Steuerungsfunktion in jedem lebendigen Wesen durch das Leben selbst. Der klassischen Gefahr der Anthropomorphisierung – der Projektion menschlicher Psyche in tierische Gestalt – begegnet die Tierpsychologie im Jahr 1937 somit konsequent mit der methodischen Projektion niedriger „Lebensfunktionen“ auf komplexeste Lebewesen: „Wir müssen den Menschen von der Amöbe her sehen, um vielen Irrtümern zu entgehen, die uns bisher immer zu schaffen machten“, schreibt von Allesch. Wenn die NS-Wissenschaftler das Verhalten von Tieren strikt in Analogie zu den Vorurteilen über Menschen begreift, dann liegt dies darin begründet, dass sie den Menschen grundsätzlich von seiner animalischen Natur her verstehen.

Was bei von Allesch indes noch als methodologisches Apriori der Tierpsychologie erscheint, wird bei Jaensch zu einer dogmatischen Wahrheit – und damit zum Ausgangspunkt für absurdeste Gleichsetzungen zwischen Menschen und Hühnern. Auch bei Jaensch werden alle Lebewesen durch eine „Lebensfunktion“ gesteuert. Sowohl Nord- als auch Südrasse (der Hühner wie der Menschen) werden bei Jaensch von einer Energie angetrieben, die ihr Verhalten definiert. Das Handeln der „Südrassen“ wird bei Jaensch durch Attribute charakterisiert, die diese Energie gewissermaßen in Reinform, als pure Verschwendung und Verausgabung ihrer selbst zum Vorschein treten lassen: „Ihr Gesamtverhalten macht […] oft den Eindruck des Planlosen, Aufgeregten und Zersplitterten“ (Jaensch 1939, 230); „ein schnelles, oft aufgeregtes Losrennnen“, „ein ununterbrochenes Rucken des Kopfes, das wie sinn- und zwecklos oder auch ungeschickt anmutet und den Eindruck erweckt, als seien diese Tiere aufgeregter als die Nordhühner“; sie „laufen […] mit ruckartigen und häufigen Bewegungen des Kopfes“ und zeigen eine „größere Pickgeschwindigkeit“ bei einem „unverhältnismäßig große[n] Kraftaufwand beim Picken“. Im Gegensatz zu dieser nicht intentional gerichteten, nicht zweckmäßigen Energieverpuffung bei den „Südvölkern“ trifft die Energie der „Nordrassen“ bei Jaensch stets mit einer Rationalisierung zusammen: Sie ist immer bereits nutzbare und genutzte Energie. Das Handeln der „Nordrasse“ ist demgemäß „planvoll, eindeutig zielgerichtet, sinnvoll, ökonomisch, und ohne unzweckmäßigen Kraftaufwand“, sie gehen „ruhig und gemessen“ mit „ruhige[r], feste[r] Haltung“ und bewegen sich „gleichmäßig schreitend mit gleichmäßigen Bewegungen des Kopfes […] auf dem kürzesten Weg dem Ziele zu“; entsprechend wirken die „Kopfbewegungen der Nordhühner ruhig und gestatten […] auch noch bei großer Geschwindigkeit ein verhältnismäßig sicheres Zielen und Picken“. Während die Energie bei den „Südrassen“ leer verschwendet wird, wird sie bei den „Nordrassen“ stets in Nutzen verwandelt, das heißt in Arbeit transformiert. Das Nordhuhn – ebenso wie der Nordmensch – arbeitet, während sich das Südhuhn nutzlos vergeudet.

Implizit widerspricht Jaensch damit dem Diktum Martin Heideggers, „[d]as Tier und alles bloß Dahinlebende kann nicht arbeiten“ (Heidegger 2000 [1934], 239): Das – nordische – Tier arbeitet hier immer, nur nicht im Sinne eines idealistischen Arbeitsbegriffs im Sinne einer selbständigen und freien Herstellung und Bearbeitung von Umwelt, sondern eher im modernen Sinn einer fabrikartigen Arbeit als Betätigung von immer gleichen, exakt messbaren Handlungen. Entsprechend hebt Jaensch die „besondere Veranlagung [des Nordhuhns, O.K.] zur ‚Leistung‘“ hervor und nennt dieses kurzerhand „Leistungshuhn“, in Analogie zu Ludwig Ferdinand Clauß’ Formel des „Leistungsmenschen“. Die gesamte Beschreibung der „Nordrasse“ bei Jaensch greift daher (wie bereits bei Clauß) durchgehend auf die Kategorien aus Max Webers Interpretation der protestantischen Arbeitsethik zurück, die Weber zufolge um Werte wie Arbeit, Leistung und Nützlichkeit kreiste. Wenn der Nationalsozialismus insgesamt – ich zitiere Werner Hamacher – als „eine politische Mytho-Theologie der Arbeit“ (Hamacher 2002, 161) bezeichnet werden kann, dann ist davon selbst die Tierpsychologie des Nationalsozialismus betroffen, die bei Erich Rudolf Jaensch wesentlich eine mythologische Erzählung über den Gegensatz von arbeitenden zu nicht-arbeitenden Rassen entwickelt. In diesem Sinn kann sowohl die Beschreibung der Süd- wie die der Nordhühner gewissermaßen als eine Figuration von politischer Masse interpretiert werden: Das Südhuhn erscheint ganz im klassischen Sinn der Hühnermetaphorik als Bild der kopflosen, rein animalischen Masse; das Nordhuhn dagegen als Figuration der Massenarbeit in einer Fabrik, in der jede Bewegung, jeder Pickschlag einem festen Nutzen und Zweck im Sinne der gemeinschaftlichen Arbeit am Körper des Hühnervolks dient. Die Nordhühner – und mit ihnen die idealisierten „Leistungsmenschen“ des Nordens – werden in dieser mythologischen Erzählung auf lebende Maschinen reduziert: Darin liegt möglicherweise eine ungewollt ausgesprochene Wahrheit der Forschungen Jaenschs.

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