Zeitgenössisch Lesen

Luisa Bankis und Michael Scheffels Sammelband denkt Philologie von der Lektüre her

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Anfang der 2000er Jahre gärt in der Literaturwissenschaft eine Debatte um ihre Methoden und – mit Pathos gesprochen – ihr Wesen. Die turns der letzten Jahrzehnte (linguistic, spatial, visual, postcolonial, translational und Co.), deren gemeinsamen Nenner Claudia Liebrand und Rainer J. Kaus 2014 in der „kulturwissenschaftlichen Erneuerung“ der Literaturwissenschaften festmachten, wurden als Verunsicherung der Identität der Disziplin wahrgenommen; auf die Drehungen und Wendungen folgte Schwindel, dessen diskursiven Niederschlag Nicolas Pethes einmal ironisch als „catastrophic turn“ bezeichnete.

Nach der Katastrophe kam die Rückbesinnung, die Re-Philologisierung – oder, in der Rhetorik des drittmittelgebundenen Wissenschaftsmarketing gesprochen: der philological turn. Dass mit der konservativ klingenden Rückbesinnung das Versprechen festen Bodens nicht notwendig einhergeht, zeichnet die Vertreter der philologischen Wende aus. Ob mit Rückgriff auf Peter Szondis Über philologische Erkenntnis (1962) oder in der Nachfolge von Werner Hamachers Für – Die Philologie (2009), die seit einiger Zeit beobachtbare Wende entzieht der Literaturwissenschaft den Status als (objektive) Wissenschaft und stellt die eigene, philologische – und nach Naturwissenschaftsstandard prekäre – Erkenntnismethode in den Mittelpunkt. Prekär ist die Epistemologie der Philologie nicht nur in Hinblick auf ihr, von Szondi betontes, nur prozessual zu denkendes Konzept von Wissen. Ebenso unterbestimmt, problematisch ist das Metholodogische ihrer Methode selbst. An genau diesem Punkt setzt der von Luisa Banki und Michael Scheffel herausgegebene Sammelband Lektüren. Positionen zeitgenössischer Philologie an – und das mit Emphase.

Einem Motto gleich lassen die beiden Herausgeber die Einleitung zum Band mit einem Zitat aus Hamachers programmatischem Aufsatz beginnen: „Die Verlegenheit nicht zu wissen und vielleicht nie wissen zu können, was sie treibt, ist die Philologie selbst.“ Banki und Scheffel ziehen aus Hamachers bewusst gewählter Doppeldeutigkeit die doppelte Fragestellung des Bandes: Einerseits widmen sich die versammelten dreizehn Aufsätze der Frage „was jemand, der Literaturwissenschaft betreibt, tut“ – andererseits der „weitaus weniger darstellbaren und keinesfalls gesichert objektivierbaren Frage, was dieses Tun antreibt.“ Die vorläufige, im Titel schon ausgesprochene Antwort auf die erste Frage ist in ihrer fast demütig zu nennenden Geste erfrischend: Philologie ist zuallererst Lektüre, diese ist das „Proprium der Literaturwissenschaft“. Diese Reduktion auf eine Praxis – an anderer Stelle bestimmen Banki und Scheffel sie auch als „Konfrontation mit dem Text“ – bedeutet bezogen auf die Beiträge des Bandes nun gerade keine Verengung des Blickfeldes oder gar einen normativen Zuschnitt der Disziplin, sondern eine qua Fokussierung lesenswerte Auseinandersetzung mit einer (vielleicht sogar der) primären Aufgabe der Philologie. Lektüre soll, so die programmatische Einleitung, in ihrer doppelten Dimension – materiell und ideell – ernst genommen werden, um Möglichkeiten für einen literaturtheoretisch belastbaren Begriff der Lektüre aufzuzeigen und zu skizzieren.

So weit die programmatische Ansage. Dem Medium Sammelband geschuldet nehmen die einzelnen Beiträge diese doppelte Fragestellung unterschiedlich stark auf. Dezidiert programmatische Beiträge zu spezifisch philologischen Lektürepraktiken (etwa von Judith Kasper, Jürgen Paul Schwindt und Jenny Willner) stehen neben Erkundungen an den Grenzen der Disziplin, etwa zum Verhältnis von Interpretation und Digital Humanities (Marcus Willand), zur Relation von Rhetorik und Hermeneutik (Ursula Kocher) oder zu Ähnlichkeiten zwischen dem Freud’schen Verfahren der Traumdeutung und dem, was philologische Lektüre „antreibt“ (Franziska Humphreys). Andere, nicht minder lesenswerte, Beiträge nehmen die Fokussierung des Bandes auf philologische Lektürekonzepte zum Anlass für darüber hinausgehende Reflexionen: Christoph Königs Aufsatz Zur Kreativität philologischer Erkenntnis widmet sich (auf den Spuren Szondis wandelnd) der Idee der Philologie überhaupt, Nassima Sahraouis Geschichtsphilologie der Lumpensprache ist, der Titel deutet es bereits an, dann doch mehr Auseinandersetzung mit der Benjamin’schen Geschichtsphilosophie, und Denis Thouards Die Reduktion des Lesens reflektiert allgemein über den Verlust der Lesefähigkeit unter dem Paradigma der digitalen Informationsverarbeitung.

In Hinblick auf das Anliegen des Bandes – die Fokussierung auf Lektüre als „Proprium der Literaturwissenschaft“ stechen zwei Beiträge besonders heraus: Judith Kaspers Skizze einer den Rest konstitutiv denkenden Lektürepraxis und Jürgen Paul Schwindts Programm eines „athematischen Lesens“.

Judith Kaspers Artikel Aufmerksam für die Reste. Gesten der Nachlese in Film, Psychoanalyse, Kulturtheorie und Dichtung nimmt die kulturhistorische Figur der Ährensammlerin (und mit ihr die Praxis der Nachlese) als Ausgangspunkt, um Lektüre gleichsam als arte povera zu skizzieren. Nachlese als Modell philologischen Lesens betont die Unabschließbarkeit der Interpretation, es sei – so Judith Kasper – „ein Nachdenken über […] Momente von Aufmerksamkeit in Bezug auf Textphänomene, die sich dem verstehenden Ganzen und dem Ganzen als Horizont des Verstehens schlechterdings entziehen. Es geht darum, das Übrige als etwas zu denken, das konstitutiv zum Lesen gehört, aber in keiner Sammlung aufgeht.“ Die Absage an das Phantasma der Ganzheit ist als Topos philologischer Methodenlehre nun kein Novum, schon Friedrich Schleiermacher hatte Verstehen bekanntlich als unendliche Aufgabe verstanden. Interessant an Kaspers Entwurf ist die Perspektivenverschiebung, die den Rest als konstitutiv fasst, die Nachlese – und damit die Suspension der Sinnschließung – geradezu zum Paradigma der Literaturwissenschaft erhebt: Die Nachleserin ist „keine Ergänzung […], sondern sie ist das, was nach dem Ganzen übrig bleibt“.

Kasper skizziert die Nachlese ausgehend von Agnès Vargas Dokumentarfilmen Les glaneurs et la glaneuse (2000) und Deux ans après (2002), der von der Regisseurin selbst betriebenen filmischen Nachlese. In letzterem interviewt Varga den Psychoanalytiker Jean Laplanche, der eine – für Kaspers Argument wichtige – Ähnlichkeit von Nachlese und psychoanalytischer Tätigkeit bekundet. Beide hätten mit „einer Armut, einem Mangel zu tun“ und seien „in einem Zustand des Nicht-Wissens“ bezüglich dessen, was letztlich in der Tätigkeit ‚aufgesammelt‘ werde. Die Analogie von Nachlese und gleichschwebender Aufmerksamkeit des Psychoanalytikers geht nicht gänzlich auf: Die Nachleserin auf dem Weizenfeld wird ihre Aufmerksamkeit wohl auf liegengebliebene Ähren richten, der Psychoanalytiker dagegen soll, wie Freud in seinen Ratschlägen für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung schreibt, alle Erwartungen und Neigungen „ausschalten“, um so der Gefahr zu entgehen, „niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß“.

Kasper kommentiert die von ihr vorgenommenen Übertragungen von Psychoanalyse zur Nachlese selbstreflexiv, indem sie darauf verweist, dass ihr Verfahren im Nachdenken über die Nachlese das „Erscheinen von Überschüssen“ auch selbst hervortreibt und diese „für die Reflexionen über einen lesenden Umgang mit Resten, die nicht zuletzt auch durch diese Übertragungen vermehrt werden“, nutzbar macht. Die Aktivität des Nachlesens selbst treibt Reste hervor, nachlesende Lektüre ist unabschließbar.

In dieser Geste der nie zu einem Ende kommenden Lektüre trifft sich Kaspers Aufsatz mit Jürgen Paul Schwindts programmatischem Entwurf Das athematische Lesen. Schwindt konstatiert einerseits eine „zunehmende Entfernung der Literaturgeschichtsschreibung vom Akt des Lesens“, andererseits, dass „die traditionelle Literaturgeschichtsschreibung ihren Gegenstand überhaupt verfehlte“. Der Literaturgeschichte setzt er eine letztlich mikroskopische Lektürepraxis entgegen: Aufmerksamkeit auf die „Idiorhythmie der Texte“, ihren Selbstentwurf eines Raums und „in den Raum hinein“ sowie auf das „Unwahrscheinlichste, [die] Sinnbildung und Sinnstiftung“. Schwindts Ansatz ist der Performativität des Textes verpflichtet, dem Nachvollzug der Herstellung von Bedeutung, Thema und Inhalt. Dichtung zeige, wie der Altphilologe am Beispiel von Catulls Gedicht auf Lesbias Sperling ausführt, „die Welt im Beugefall, im Augenblick ihrer Aneignung durch die Dichtung“. Athematisches Lesen skizziert Schwindt als Lesepraxis, die die Rhetorizität eines jeden Textes in den Mittelpunkt hebt; nicht Inhalt der Rede, sondern Herstellungs- und Ordnungsprozess einer Rede, die Welt verarbeitend Welt sein soll, sind Gegenstand der Literaturwissenschaft.

Damit besitzt sein Entwurf gewisse Ähnlichkeiten zu anderen zeitgenössischen Projekten der (allgemeinen) Literaturwissenschaft, etwa zu Anselm Haverkamps Figura cryptica oder auch zu den Poetologien des Wissens. Letzteren würde er mit der Depotenzierung des epistemologischen Anspruchs begegnen; nicht nur die Produktion von Wissen durch spezifische rhetorische beziehungsweise mediale Verfahren ist Analysegegenstand der Literaturwissenschaft, die Analyse muss darüber hinausgehend die „imaginäre Topographie unserer eigenen Lektüre“ im Bewusstsein behalten. Die von ihm vorgeschlagene Lektürepraxis gegen (klassische) Rhetorik und Dekonstruktion abgrenzend, kommen für Schwindt Signifikat und Signifikant nur „augenblicksweise“ zusammen, der Leseakt ist von Ereignissen geprägt: philologisches Lesen als Changieren zwischen der Materialität der Zeichen, ihrer Ordnung auf der Fläche, ihrem Klang und ihrer Rhythmik einerseits, der Semiose andererseits. Der pragmatische Einwand, eine solche mikroskopische und das Subjekt einbeziehende Lektürepraxis stehe in Konflikt zu den (mehr oder minder gelungen) quantifizierten Ansprüchen an literaturhistorische Proseminare, ist freilich naheliegend, überzeugend aber nur, wenn Modulbeschreibungen schon zu Maßgaben erklärt wurden.

In Schwindts Beitrag wird zudem in einem Seitenhieb explizit, was im Rest des Bandes – mit Ausnahme von Marcus Willands Beitrag – eher implizit bleibt und dem ganzen Band etwas fast Unzeitgemäßes gibt: Die Gegenspieler zur philologischen Lektüre sind nicht mehr nur und nicht so sehr die kulturwissenschaftlichen turns, sondern die Digital Humanities. Ihrer Fokussierung auf Quantifizierung stellen die Sammelbandaufsätze das Nicht-Quantifizierbare entgegen. Die dabei aufgerufenen Topoi wurden bereits genannt, es sind etwa die Unausschöpflichkeit des Textes, die Subjektivität des Lesenden oder die Prozessualität der Erkenntnis. Es ist, als würden die versammelten Beiträge unter einem Motto stehen, das Literaturwissenschaftler aus einem anderen Buch kennen: „Had we but world enough and time“. Der Gegenspieler hat Rechenpower.

Titelbild

Luisa Banki / Michael Scheffel (Hg.): Lektüren. Positionen zeitgenössischer Philologie.
WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2017.
240 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-13: 9783868217162

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