Science-Fiction, Mystery, Drama

„Wir sind die Flut“ von Sebastian Hilger steht zwischen den Genres

Von Nadja WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadja Weber

Die Bewegungen des Meeres sind älter als die Menschheit selbst: Ebbe und Flut werden von den Gravitationskräften zwischen Mond und Erde bestimmt. Bei einem Ausbleiben der Gezeiten wäre eine der Grundkräfte der Physik aus den Fugen geraten. Ein solches Szenario lässt an einen komplizierten Wissenschaftsthriller denken oder an einen apokalyptischen Spielfilm. Wenn mit dem Meer auch die Kinder des anliegenden Dorfes spurlos verschwinden, wird daraus Science-Fiction oder Mystery, eine aufwändige und kostspielige Hollywoodproduktion. Doch der Film, dessen Handlung auf dieser Grundlage fußt, spielt nicht in San Francisco oder Los Angeles, sondern im fiktiven Windholm, einem deutschen Küstenort. Wir sind die Flut (2016) ist eine Abschlussarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg und wurde mit einem vergleichsweise niedrigen Budget produziert. Sebastian Hilgers erster Langfilm überrascht mit einem durchaus gewagten und unüblichen Drehbuch.

Tatsächlich sticht das Debüt von Hilger aus dem Programm des 12. Festivals des deutschen Films in Ludwigshafen hervor. Während sich die meisten Filme um familiäre und psychologische Themen drehen, wird Wir sind die Flut als „Science-Fiction-Thriller“ angekündigt. Er lief in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ auf der 66. Berlinale und wurde bereits für mehrere Preise nominiert; in Ludwigshafen für den Publikums- und den Filmkunstpreis. Hilgers Werk zeichnet sich nicht nur durch eine außergewöhnliche Story, sondern auch durch originelle Kameraeinstellungen und eine moderne Nachbearbeitung aus, die ein eher junges Publikum ansprechen. Darüber hinaus lebt er von einer eingängigen musikalischen Untermalung, die zusammen mit vielen düsteren Szenen zur Spannung beiträgt. Die zahlreichen Landschafts- und Naturaufnahmen wurden zum Teil auf der nordfriesischen Insel Pellworm, zum Teil in einem Braunkohleort in Nordrhein-Westfalen gedreht.

Beim Filmfestival war auch der Produzent Edgar Derzian zu Gast, der sich im Anschluss an die Vorführung an einem Publikumsgespräch beteiligte. Um die Handlung „einigermaßen glaubhaft“ zu gestalten – so Derzian – habe man sich eine wissenschaftliche Beratung zu Hilfe genommen. Tatsächlich wird der Zuschauer zu Beginn des Films mit Begriffen wie „Gravitationskonstante“ und „Phasen-konjugierender SBS Spiegel“ konfrontiert.

Der Protagonist Michael Wiedmer (Max Mauff) ist Physiker an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er sich in einem Forschungsprojekt mit den Geschehnissen in Windholm beschäftigt. Er führt das Ausbleiben der Flut auf eine Gravitationsanomalie zurück und möchte Messdaten aus dem Küstenort sammeln, um seine These zu belegen. Als die Forschungskommission seinen Antrag ablehnt, macht er sich auf eigene Faust auf den Weg in das militärische Sperrgebiet. Begleitet wird er von seiner Ex-Freundin und ehemaligen Kommilitonin Jana (Lana Cooper), die nach einem persönlichen Verlust vor geraumer Zeit aus dem Projekt ausgestiegen war. Sie muss sich durch die Nachforschungen mit ihrer belastenden Vergangenheit auseinandersetzen und versteht besser als Micha, worum es in Windholm eigentlich geht.

Mit den Kindern büßt das Dorf seine Lebendigkeit und zugleich seine Zukunft ein, denn in dem Küstenort scheint die Zeit geradewegs stehen geblieben zu sein. Von der Außenwelt abgeschirmt, entwickelt sich die Ortschaft nicht weiter, Gebäude und öffentliche Plätze verfallen und die Erwachsenen haben ihren 18 Jahre zurückliegenden Verlust nicht annähernd verarbeitet. Die verbliebene Bevölkerung ist skeptisch und abweisend gegenüber den Neuankömmlingen und ihrer Forschung. Nur eine Person will Micha und Jana um jeden Preis helfen: Hanna (Gro Swantje Kohlhof) ist die einzige Jugendliche des Ortes und hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihrer Heimat wieder Leben einzuhauchen. Sie, die ohne andere Kinder aufwachsen musste, hofft auf Unterstützung und Aufklärung.

Doch Micha interessieren zunächst nur Zahlen und Werte, bis er erkennen muss, dass sich manche Phänomene nicht berechnen lassen und die Geschehnisse auch mit seinem Leben verknüpft sind. Nach und nach entwickelt sich der Fall von einem Forschungsprojekt zu seiner eigenen Geschichte. Mit dem Protagonisten wechselt auch der Film seine Perspektive; nicht wissenschaftliche Erklärungen stehen im Vordergrund, sondern die Menschen und ihre Schicksale. Zu diesen zählt auch die Geschichte des Grundschülers Matti, der bereits vor allen anderen ahnte, dass das Meer verschwinden würde. Wie ist das möglich? Wir sind die Flut gibt keine Antworten, vielmehr wirft der Film Fragen auf und stimmt nachdenklich.

Derzian betont, dass die Interpretationsmöglichkeiten vom Zuschauer selbst abhingen. Der Film besitzt verschiedene Facetten und behandelt unterschiedliche Themen, er vereint Drama, Mystery, Thriller und Liebesgeschichte. „Je öfter man ihn sieht, desto mehr kann man in ihm entdecken“, resümiert der Produzent. Neben spannungsreichen Elementen vermittelt der Film auch eine tiefere Botschaft und ergänzt die metaphorischen Bilder durch philosophische Ansätze. Mit der nächsten Generation verlieren die Menschen auch ihre Zukunft, ihre Träume und Ziele. Das Wasser, das als Symbol für Lebendigkeit gilt, verschwindet und spiegelt so die Verlorenheit der Erwachsenen wider. Hanna erklärt einer Gruppe von Touristen, die auf das Watt blicken: „Es gibt Menschen, denen macht die Leere Angst. […] Wenn die auf die Leere blicken, dann haben sie nicht das Gefühl, dass sie rausschauen, sondern in sich selbst hinein.“

Sebastian Hilgers Debüt gelingt es, die bedrückende Atmosphäre eines traumatisierten Ortes zu kreieren und das Gefühl des Stillstands auf sein Publikum zu übertragen. Die Eintönigkeit in Windholm führt dazu, dass man jegliches Zeitgefühl verliert und leicht vergessen kann, dass sich Micha und Jana nur wenige Tage dort aufhalten. Nicht nur aus diesem Grund fühlt man sich durch den Film in eine andere Welt versetzt.

„Wir wollten mehr erzählen als die Realität“, fasst Derzian den Anspruch des Films zusammen. Wir sind die Flut gleicht einem Märchen: an manchen Stellen phantastisch, an manchen Stellen zu konstruiert. Und obgleich sich der/die ZuschauerIn die Ereignisse in Windholm letztendlich selbst erklären muss, entlässt ihn/sie der Film mit einer positiven Botschaft, die wohl so manchen skeptischen Betrachter zu versöhnen vermag.

Wir sind die Flut
Deutschland 2016
Regie: Sebastian Hilger
Darsteller: Max Mauff, Lana Cooper, Gro Swantje Kohlhof
Produzenten: Anna Wendt, Fabian Winkelmann
Produktionsstätten: Filmakademie Baden-Würrtemberg, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf
Länge: 84 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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