1968

Protest und Literatur

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Geburtstage sind vielleicht vor allem dazu da, um Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander in Beziehung zu setzen. 50 Jahre nach 1968 stellt sich also hauptsächlich die Frage, was davon bleibt, welche Spuren 1968 in Kultur und Literatur hinterlassen hat. Galt das Jahr aus Sicht vieler als kunstfeindliches, literarisch unproduktives Jahr und die Studentenbewegung gar als Ruin der deutschsprachigen Literatur, so hat sich dennoch „kaum ein Autor davon abhalten lassen, weiterzuschreiben“, so Thomas Anz, ganz im Gegenteil:

1968 war ein ertragreiches Jahr der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Die Literatur nach der Protestbewegung blieb von deren machtkritischen Impulsen geprägt. (Anz 1994, 93)

Blieb die Literatur nach der Protestbewegung von deren machtkritischen Impulsen geprägt, konservierte sie also gewissermaßen den Protest, so könnte man behaupten, die Literatur vor der Protestbewegung habe deren machtkritisches Potenzial entfacht oder wenigstens provoziert. Laut Leslie Fiedler, demzufolge eine der Hauptfunktionen der Literatur darin besteht, Haltungen zur Zeit hervorzubringen, waren es nämlich tatsächlich neben den „Junkies“ die Poeten, die wegweisende Impulse für eine neue Geisteshaltung und einen Umbruch setzten:

Den Poeten und den ‚Junkies‘ verdanken wir den Hinweis, daß die neue Welt, die der neue Mensch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewohnen soll, nur entdeckt werden kann durch die Eroberung des inneren Raumes: durch ein Abenteuer des Geistes, eine Erweiterung der psychischen Möglichkeiten des Menschen. Für dieses Abenteuer sind die Vorstöße in den Weltraum – Mondflüge und Marsexpeditionen – unbewußte Metaphern von der Art wie es die Entdeckungsfahrten waren für jenen Durchbruch zur Renaissance […]. (Fiedler 1969, 31)

Ging es einerseits um die Eroberung des inneren Raumes, so war dieser mit dem öffentlichen verknüpft. Die Grenzen zwischen dem Privaten und Politischen verschwammen wie exemplarisch an dem Konzept der Kommune I deutlich wird: Orgasmusschwierigkeiten und Vietnamkrieg, Alltag und Politik sollten Hand in Hand gehen.

1968 ist zur Chiffre für Protest und Revolution geworden. Man rebellierte gegen autoritäre Strukturen und restaurative Tendenzen der Nachkriegszeit und demonstrierte für Gleichberechtigung, Demokratie und eine neue Gesellschaftsordnung. Dabei waren die weltweiten Studentenbewegungen selbstverständlich nur eine Form des Protests. Durchaus von Vorteil ist es, 1968 nicht als nationales, sondern als internationales Ereignis in den Blick zu nehmen, um so die vielfältigen, auch literarischen, Gemeinsamkeiten und Beziehungen über nationale Grenzen hinweg zu berücksichtigen. Vorreiter und Vorbild waren die USA, wo man bereits 1964 für Meinungsfreiheit demonstrierte. Die wachsende Identifikation mit der amerikanischen Studentenbewegung in Deutschland ist einem Intellektuellen zu verdanken, der die Herstellung einer Verbindung zwischen der amerikanischen und deutschen Neuen Linken zu seiner Aufgabe erklärte und als „Vermittler“ eine zentrale Rolle wahrnahm: Herbert Marcuse. Die Demonstration gegen den Vietnamkrieg erklärte er zur „moralischen Pflicht“ auch aller deutschen Studierenden und Dozenten (vgl. Gilcher-Holtey 2000, 487).

Ziemlich einig ist man sich mittlerweile darüber, dass die Protestbewegungen, die 1968 gipfelten, transnationale Bewegungen waren, denn ihre Trägergruppen waren aufeinander bezogen und weltweit vernetzt. Ob die deutsche Studentenbewegung, der Pariser Mai, Prager Frühling, die Revolte der Schwarzen, vor allem nach der Ermordung Martin Luther Kings, oder auch die Proteste mexikanischer Studenten gegen einen korrupten Staat und nicht zuletzt die Hippiekultur – diese globale Zirkulation von Protestpraktiken und symbolischen Formen machen 1968 zur „ersten globalen Rebellion“ (vgl. Kraushaar 2000). Rudi Dutschke sprach unter Rückgriff auf Marcuses Formulierung einer „Globalisierung der revolutionären Opposition“ von einer „Globalisierung der revolutionären Kräfte“. Ob Kubanische Revolution, Maoismus oder die Kritik am Vietnamkrieg – aus nationalen Angelegenheiten wurden globale. 1968, heute auch zum Mythos erkoren, war also vor allem ein Ereignis, das sich durch internationalen Austausch charakterisiert, ja, wenn nicht gar konstituiert hat. Das Unbehagen in Kultur und Politik und der Protest als Konsequenz wurden zum gemeinsamen Nenner.

Internationale Beziehungen, Austausch und Zirkulation charakterisieren auch den deutschen Literaturbetrieb um 1968, obwohl man schon den Tod der deutschen Literatur prognostizierte:

Jetzt also hören wir es wieder läuten, das Sterbeglöcklein für die Literatur. […] Der Leichenzug hinterläßt eine Staubwolke von Theorien, an denen wenig Neues ist. Die Literaten feiern das Ende der Literatur. Die Poeten beweisen sich und andern die Unmöglichkeit, Poesie zu machen. Die Kritiker besingen den definitiven Hinschied der Kritik. Die Bildhauer stellen Plastiksärge her für die Plastik. Die ganze Veranstaltung schmückt sich mit dem Namen der Kulturrevolution, aber sie sieht einem Jahrmarkt verzweifelt ähnlich. Die Sekunden, in denen es Ernst wird, sind selten und verglimmen rasch. Was bleibet, stiftet das Fernsehen: Podiumsdiskussionen über Die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft. (Enzensberger 1968, 187)

Hans Magnus Enzensbergers Engagement für die Kultur- und Literaturzeitschrift Kursbuch ist ein Paradebeispiel. Eine gesellschaftspolitische Funktion sprach er, dessen politische Kontakte bis in die UdSSR und nach Kuba reichten, der Literatur ab. Der Essay Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend plädiert zwar am Ende für eine Literatur, die sich von gesellschaftspolitischen Fragen und Funktionen distanziert, spricht sich aber für eine Literatur aus, die nach ästhetischen Maßstäben zu beurteilen sei. Auch ein Blick in die Ausgaben des Kursbuch zeigt: Literatur war mehr lebendig als tot. Und Enzensberger erwies sich als aktiver Literaturvermittler: Er übersetzte Literatur aus dem Russischen (Velimir Chlebnikov) und Schwedischen (Peter Weiss) und arbeitete mit dem iranischen Germanisten Bahman Nirumand zusammen, der im Kursbuch Aufsätze veröffentlichte und für dessen kritisches Buch über den Iran, Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder die Diktatur der Freien Welt, er ein Nachwort verfasste, wie übrigens auch für Bartolomé de Las Casas‘ Kurzgefaßten Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder. Leistete Enzensberger hier also durch Publikation, Übersetzungen und beleuchtende Paratexte ein Stück weit Literaturvermittlung um 1968, so trifft dies auch auf Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla zu, die 1969 die Anthologie Acid. Neue amerikanische Szene herausgaben und so einem deutschen Publikum amerikanische Underground-Literatur näherbrachten.

Vorreiter amerikanischer bzw. globaler Protestkultur der 60er Jahre ist zweifellos die Beat-Bewegung: Am 7. Oktober 1955 fand in San Francisco das „Six Gallery reading“ statt, währenddessen Allen Ginsberg zum ersten Mal öffentlich Howl vortrug, und das die Beat-Poeten schlagartig ins Rampenlicht der Öffentlichkeit rückte. Materielle Werte wurden in Frage gestellt, die Beatniks plädierten für Spontaneität, Bewusstseinserweiterung, eine Wende nach Innen durch psychedelische Drogen und fernöstliche Meditationspraktiken – Ideen, die für eine amerikanische ,counter culture‘, die Hippiekultur, maßgeblich waren.  Jack Kerouac, gerne als „Vater der Hippies und Gammler“ bezeichnet, stellt in On the road die Frage, was bleibt, wenn man die Menschen von Flüssen trennt. Bürokratie – ist die Antwort. Ebenso sollen seine Romane The Dharma Bums – man beachte den Titel der deutschen Übersetzung Gammler, Zen und hohe Berge – und The Subterraneans – in der deutschen Übersetzung Engel, Kif und ferne Länder – die Hippie-Bewegung beeinflusst haben. Auch Allen Ginsberg, der 1967 mit dem LSD-Guru Timothy Leary am ,Summer of Love‘ im Golden Gate Park teilnahm, wurde zu einer zentralen Figur der Hippiekultur.

Allerdings scheint es nicht nur einen Autor als Vater dieser ,counter culture‘ zu geben, sondern gleich mehrere – auch Hermann Hesse oder Henry David Thoreau zählen dazu. Nicht zuletzt wird auch immer wieder die Künstlerkolonie auf dem Monte Verità zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Inspirationsquelle genannt. Und die Wurzeln liegen noch tiefer, so manch einer verortet sie sogar in der Romantik: Die Hippie-Bewegung kann als „romantische Kontinuität“ im 20. Jahrhundert betrachtet werden, denn die Attribute phantastisch, metaphysisch, sinnlich, überschwänglich, abgründig, irrational, spontan und schöpferisch charakterisieren beide Bewegungen (vgl. Tripold 2012, 261).

Ein ähnlicher Vergleich wird auch in Joan Didions eindringlichem Essay Slouching Towards Bethlehem (1968) gezogen, in dem die Autorin einen kritischen Blick auf ein vor allem durch LSD narkotisiertes Haight-Ashbury wirft, der Wiege der Hippie-Kultur:

Anybody who thinks this is all about drugs has his head in a bag. It’s a social movement, quintessentially romantic, the kind that recurs in time of real social crisis. The themes are always the same. A return to innocence. The invocation of an earlier authority and control. The mysteries of the blood. An itch for the transcendental, for purification. Right there you’ve got the ways that romanticism historically ends up in trouble, lends itself to authoritarianism. When the direction appears. How long do you think it’ll take for that to happen? is a question a San Francisco psychiatrist asked me. (Didion 1981, 125)

Endet die ,counter culture‘ schließlich doch wieder in autoritären Strukturen, die sie eigentlich aufzubrechen versuchte, so ist ihr subversives Potenzial nicht zu unterschätzen. Marcuse, der die Hippie-Bewegung wegen der Weigerung, an den Segnungen der Gesellschaft im Überfluss teilzunehmen, zum interessanten, aber auch zum politischen Phänomen erklärte, äußerte sich zuversichtlich, dass die neue Sensibilität gegenüber effizienter und ungesunder Vernünftigkeit und ihre neuen instinktiven Bedürfnisse und Werte zum Aufbau einer neuen Gesellschaft beitragen würden. (Marcuse 1971, 190) Ironischerweise lässt Godard in seiner Filmsatire Weekend (1967) eine im Wald lebende Kommune von Hippies zu Kannibalen werden.

Auch hier zeigt sich, dass die sich in Kalifornien entwickelte ,counter culture‘ kein nationales Phänomen war, sondern dass sich Haight-Ashbury zum „globalen Schaufenster der Gegenkultur“ (Frei 2008, 59) etablierte, um schließlich auch in die Kunst einzugehen. So zum Beispiel in Roger Peyrefittes Roman Les Américains (1968), der von der Reise eines Studenten durch die USA während der 60er Jahre erzählt.

Ist 1968 also zum Teil aus der Literatur „entsprungen“ und blieb die Literatur nach 1968 von machtkritischen Impulsen der Protestbewegung geprägt, so stellt sich abschließend noch die Frage nach dem 68er-Roman. Doch der ist leider gar nicht so leicht zu finden. In der deutschen Literatur um 1968 bricht man zwar mit Schreibweisen, was selbstverständlich auch als Protestform verstanden werden kann, so zum Beispiel in Brinkmanns Keiner weiß mehr (1968) oder in Hubert Fichtes Die Palette (1968) oder Wolf Wondratscheks Früher begann der Tag mit einer Schußwunde (1969), doch zu einer konkreten Thematisierung, Aufarbeitung und Reflexion der historischen Ereignisse um 68 scheint es erst später, als Nachhall, zu kommen, beispielsweise in Uwe Timms Heißer Sommer (1974), Bernd Cailloux‘ Das Geschäftsjahr 1968/69 (2005) oder Robert Menasses Don Juan de la Mancha (2007).

Betrachtet man 68er-Literatur, also Literatur um das Jahr 1968 und über 1968, ebenfalls als globales Phänomen, so zeigt sich der Protest auch hier als gemeinsamer Nenner: Schreibt Uwe Timm über die westdeutsche Studentenrevolte, so thematisiert James Baldwin die Diskriminierung von Schwarzen in den USA.

Literatur:

Thomas Anz (1994): Von der Studentenrevolte bis zur deutschen Einheit. Das Jahr 1968 und die Folgen für Literatur und Gesellschaft. In: Eichholz Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung 31/3. S. 89-94.

Joan Didion (1981): Slouching towards Bethlehem. In: Dies.: Slouching towards Bethlehem. New York. S. 94-132.

Hans Magnus Enzensberger (1968): Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15. S. 187-197.

Leslie A. Fiedler (1969): Die neuen Mutanten. In: Rolf Dieter Brinkmann; Ralf-Rainer Rygulla (Hgg.): Acid. Neue Amerikanische Szene. Darmstadt. S. 16-31.

Norbert Frei (2008): 1968: Jugendrevolte und globaler Protest. München.

Ingrid Gilcher-Holtey (2000): Der Transfer zwischen den Studentenbewegungen von 1968 und die Entstehung einer transnationalen Gegenöffentlichkeit. In: Berliner Journal für Soziologie 10/4. S. 485-500.

Wolfgang Kraushaar (2000): 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur. Hamburg.

Herbert Marcuse (1971): Liberation from the Affluent Society. In: David Cooper (Hg.): The Dialectics of Liberation. Harmondsworth. S. 171-192.

Thomas Tripold (2012): Die Kontinuität romantischer Ideen. Zu den Überzeugungen gegenkultureller Bewegungen. Eine Ideengeschichte. Bielefeld.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz