Auf Kollisionskurs mit der Gegenwart

Alfred Lichtensteins Gedicht „Der Sturm“ rührt an den Grenzen der Sprache und ist damit wieder aktuell

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Der Sturm

Im Windbrand steht die Welt. Die Städte knistern.
Halloh, der Sturm, der große Sturm ist da.
Ein kleines Mädchen fliegt von den Geschwistern.
Ein junges Auto flieht nach Ithaka.

Ein Weg hat seine Richtung ganz verloren.
Die Sterne sind dem Himmel ausgekratzt.
Ein Irrenhäusler wird zu früh geboren.
In San Franzisko ist der Mond geplatzt.

Vor 100 Jahren schrieb Carl Zuckmayer über einen jungen expressionistischen Schriftsteller:

Er ist nun abseits, wie alle, die Wesentliches zu sagen haben, (…) während geschickte Mittelmäßigkeit in bunter Kulissenbeleuchtung paradiert. (…) Aber er wird, wenn alle glänzenden Augenblickspropheten (…) längst zerstäubt sind, noch Menschen aufreißen mit seiner brennenden Wahrhaftigkeit.

Der Gelobte ist der zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren verstorbene Alfred Lichtenstein. Und man kann wohl sagen: Er ist immer noch mehr oder weniger ‚abseits‘. Doch in der Tat ist gerade heute seine Lyrik wieder aktuell, bringt gerade heute wieder Wesentliches zum Ausdruck.

Zwar gehört Lichtenstein zu den bekannteren Dichtern des Expressionismus der frühen 1910er Jahre, doch stand er im Schatten prominenterer Namen wie Georg Heym oder Jakob van Hoddis, die ihn in den Augen mancher überstrahlten. Wie auch andere Lyriker seiner Generation – August Stramm oder Georg Trakl etwa – fiel er dem Ersten Weltkrieg zum Opfer, dessen literarische und insbesondere lyrische Verarbeitung seine letzten Texte motivierte.

Eines der zahlreichen Gedichte, in denen Lichtensteins besondere poetische Kraft zum Ausdruck kommt, ist „Der Sturm“ von 1914. Im Frühjahr des Jahres beendet, entstand es noch vor Ausbruch des Krieges und gleichwohl im Todesjahr des Autors, der nur wenige Wochen nach der Generalmobilmachung im September 1914 an der Westfront fiel.

Bereits mit der Wahl des Titels des nur aus zwei vierzeiligen Strophen bestehenden Gedichts wird ein zentrales Thema expressionistischer Dichtung besetzt. Der Sturm fegt Bestehendes fort, er zerstört und bricht auf. Er ist das Dynamische, das den verhassten Stillstand verdrängt und auslöscht. Die prominenteste Verarbeitung dieser Konnotation findet sich wohl in Jakob van Hoddis‘ „Weltende“, wo es ebenfalls Naturgewalten sind, die die gegebene Ordnung aufbrechen.[1] Und eben auch bei Lichtenstein. Auch hier stehen die Welt und ihre Städte „im Windbrand“, doch Lichtensteins Sturm vermag mehr als dem Bürger „vom spitzen Kopf den Hut“ zu blasen oder „Eisenbahnen von den Brücken“ zu stürzen.

Denn dieser Sturm ist Unwetter und Feuersturm zugleich – auch in ein und demselben Wort. Er ist nicht nur Windbrand, sondern eben auch Windbrand, weshalb die Städte längst im Feuer „knistern“, wie wir im ersten Vers lernen.[2] Der Sturm kommt nicht erst, er ist längst da, und wird nun im zweiten Vers mit Emphase („der Sturm, der große Sturm“) begrüßt. Durch die eigentümliche Schreibweise der Grußformel („Halloh“) und insbesondere ihrer Schlusssilbe[3] wird das Brandmotiv implizit wieder aufgegriffen und unterstrichen. Erst nach dieser gleichsam expositorischen Eröffnung mit Vorstellung des Themas widmet sich das Gedicht der sprachlichen Verarbeitung seines Sujets.

Gleich im darauffolgenden Vers wirkt sich die zerstörerische Kraft des Sturms bereits unmittelbar auf den semantischen Gehalt der Sprache aus. Der Vers, der zunächst chiffrenartig wie eine absolute Metapher erscheint, ist bei näherer Betrachtung zumindest mehrdeutig – verweigert sich also der Reduktion auf eine einzige klare Botschaft. Wohl fliegt hier zwar ein Mädchen, doch bleibt unbestimmt, wie dies geschieht. Naheliegend scheint die Assoziation mit dem Sturm und damit die Vorstellung, dass es von diesem fortgerissen wird. Wohin genau sich dieses Fliegen richtet (hinunter/hinauf/hinfort?), bleibt jedoch unklar. Außerdem lässt sich sowohl verstehen, dass all das von der Menge der Geschwister nur einem Mädchen geschieht, als auch, dass dieses Mädchen räumlich gesprochen von den (ihren?) Geschwistern fortfliegt, also ihrer vertrauten Gemeinschaft entrissen wird.

Diese sturmbedingte semantische Destabilisierung wird im folgenden 4. Vers ein wenig aufgefangen, indem mit Anapher, identischer Syntax und der nur minimalen Veränderung des Verbs („fliegt“ – „flieht“) der vorausgehende Vers formal gespiegelt und somit parallelistisch gestützt wird. Gleichwohl entfaltet sich hier eine nicht weniger drastische Metaphorik. Nicht nur überführt die Personifizierung des Autos dieses ins Lebendige und weicht so die Grenzen zwischen Mensch und Technik auf. Auch werden Neuartiges aus der (damaligen) Gegenwart und die mit „Ithaka“ evozierte mehrere Jahrtausende zurückliegende Vergangenheit, gleichsam Innovation und Tradition, enggeführt, die Grenzen dieser Gegensätze sprachlich zum Einsturz gebracht. Der Sturm als großer Gleichmacher.

Die zweite Strophe – und damit die zweite Hälfte des Gedichts – löst die anfänglich noch latent vorhandene semantische Konsistenz nun gänzlich auf und führt mit ihrer ausgeprägten anti-realistischen Metaphorik moderner Prägung ins Zentrum einer lyrischen Grotesken. Bereits der erste Vers dieser zweiten und letzten Strophe lässt dies spüren, indem er uns einen Weg vor Augen hält, der „seine Richtung ganz verloren“ hat. Ein Weg ohne Richtung – selbst wenn man den allegorischen Gehalt des Wortes „Weg“ (Lebensweg, Lauf des Schicksals etc.) beiseitelässt, tut sich hier ein Abgrund auf. Ein Weg ohne Richtung ist kein Weg, die Vorstellung eines solchen beraubt den Begriff seiner Bedeutung und führt ins Absurde und Ungreifbare.

Vers sechs setzt diese Bewegung ins Widersinnige fort, wird dabei aber fundamentaler, allumfassender. Nun ist es die Natur, ja der Kosmos als Ganzes, die bzw. der durch den Sturm zersetzt werden. Dass die Sterne dabei „dem Himmel ausgekratzt“ werden, bringt die Gewalttätigkeit des Sturms, die zu Anfang noch im Windbrand nur angedeutet wurde, vollends in den Vordergrund. Der vorletzte Vers dann fungiert in seiner Informationsleere hauptsächlich als Wegbereiter und Verstärker der Wirkung des finalen Verses. Dass der Geborene im Irrenhaus landen wird, ist nämlich schon bei der Geburt klar. Diese hat zwar zu früh stattgefunden, doch macht das keinen Unterschied mehr.

Der letzte Vers schließlich dehnt die allumfassende Macht und Zerstörungswut des von Lichtenstein heraufbeschworenen Sturms abermals aufs Kosmische aus: „In San Franzisko ist der Mond geplatzt.“ Das Eigensinnige und Lapidare dieser gewaltigen Vorstellung liegt vor allem in der Wahl des Verbs. Luftballons platzen, oder Seifenblasen – beim Erdtrabanten würde man wohl eher (sofern möglich) von einer übergroßen Explosion mit unfassbarer Wucht reden wollen. Zugleich wird aber auch hier wieder die Bedeutung an ihre Grenzen geführt. Denn natürlich ist es widersinnig, davon zu sprechen, dass der Mond „in San Franzisko“ geplatzt sei, da er sich nicht in der Stadt befindet. Platzt er in San Francisco, platzt er genauso auch „in“ Los Angeles, Kalifornien, der ganzen Welt.[4] Auch dieses Ereignis ist längst geschehen, das Unheil unumkehrbar, das Dagewesene hinweggefegt.

Diese aufrüttelnde, apokalyptische Darstellung des Sturms, die die Sprache gleichsam an ihre semantischen Grenzen führt, verarbeitet Lichtenstein formal jedoch streng regelgeleitet. Das symmetrisch aufgebaute Gedicht (2×4 Verse) präsentiert sich in akkuratem Zeilenstil, jedes Versende markiert ein Satzende, und unterstreicht so den parataktisch knappen Satzbau. Ein durchgängiger Kreuzreim ohne Assonanzen oder unreine Reime fügt die Verse gleichmäßig aneinander, die Strophengrenze wird durch eine verknüpfende Anapher überbrückt. Auch metrisch leistet sich der Text keine Brüche, ein fünfhebiger Jambus, der in seinen abwechselnd männlichen und weiblichen Kadenzen dem Reimschema folgt, dient dem Gedicht als rhythmisch kompaktes Fundament.

Diese vom Endecasillabo abgeleitete Strophenform (aus je vier Zeilen jambischer Fünfheber) ist im frühen 20. Jahrhundert keine Seltenheit. George nutzt sie und auch bei Rilke findet sie nicht selten Verwendung. Im Kreis der deutschen Expressionisten sind es vor allem Georg Heym und Georg Trakl, bei denen sie häufig zu finden ist, teils auch umgestaltet beinah schon zu Sonetten. Doch die strenge Verwendung dieser doch recht braven und sterilen, man will fast sagen langweiligen, Form ist hier mehr als nur zeitgenössische Ästhetik oder der bloße homogene Rahmen eines wuchtigen Textinhalts.

Erst durch die ruhige und stringente Form des Gedichts tritt die Gewalt(tät)igkeit seines Inhalts in voller Kraft zutage. Form und Inhalt stehen sich scheinbar unvereinbar gegenüber, obwohl das eine ohne das andere weder greif- noch denkbar ist. In diesem Widerspruch zeigt das Gedicht nochmals das gewaltsam sich Reibende, welches es zugleich beschreibt. In dieser Kollision von Form und Inhalt wie in den kurzen, scheinbar willkürlich aneinander gereihten, stets unbestimmten Szenen (ein Mädchen, ein Auto, ein Weg…) wird die Dissoziation des modernen Ich auf die Welt als Ganze ausgedehnt.

In diesen Zeilen, zwischen denen Widersprüche und Uneindeutigkeiten knirschen, die sich nach außen aber (formal) glatt und annehmlich präsentieren, wird Unzusammenhängendes und unvereinbar Singuläres in ein Ganzes gefügt. Das Ungreifbare und Widersprüchliche (post-)moderner Zeiten, das gerade heute in der ständig erfahrbaren Gleichzeitigkeit der Welt noch offensichtlicher wird, wird hier sprachlich greifbar gemacht.

So wird insbesondere in einer Zeit stetig zunehmender Beschleunigung, da die Gegenwart immer schneller in die Vergangenheit gleitet und der Versuch des Haltfindens sich nicht selten in ein verklärtes Früher richtet („Ein junges Auto flieht nach Ithaka“), dieses Gedicht wieder aktuell. Und auch die im Gedicht praktizierte Auflösung von Bedeutungen und Wahrheiten und die daraus resultierende Ungewissheit bzw. eine Erfahrung von Inkongruenzen (zwischen Form und Inhalt, Schein und Wirklichkeit) wird auf diese Weise in Form von „Fake News“ und der Masse hochfrequenter unüberprüfbarer Informationen als ein Teil unserer Gegenwart erkenn- und verstehbar. Es bleibt lediglich zu hoffen, dass der wie auch immer geartete „Windbrand“ ausbleibt.

Anmerkungen

[1] Es ist beinah überflüssig, darauf hinzuweisen, dass die sich hierin zeigende Lust am (gewaltsamen) Auf- und Ausbruch nicht selten in die Kriegsbegeisterung und das „Augusterlebnis“ von 1914 mündete.

[2] Die Metaphorik des Feuers als dynamisches Moment, welches den (zu Eis) erstarrten Alltag aufbricht und hinfort fegt, findet sich bekanntlich nicht nur bei Lichtenstein. Prominent taucht es beispielsweise in Verknüpfung mit dem dort durchaus positiv konnotierten Krieg in Georg Heyms Gedicht „Der Krieg“ auf.

[3] Diese Lesart wird von dem durchweg jambischen Metrum unterstrichen.

[4] In der Wahl von San Francisco als Schauplatz für das Ereignis wird gemeinhin eine Anspielung auf das Erdbeben von San Francisco aus dem Jahr 1906 erkannt, das vergleichbar zum Beginn des Gedichts für verheerende Feuer in der Stadt sorgte.

Literatur

Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. 2., überarb. u. aktual. Aufl. Stuttgart, Weimar 1997.

Lamping, Dieter: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. 3. Aufl. Göttingen 2000.

Lamping, Dieter: Moderne Lyrik. Eine Einführung. Göttingen 1991.

Lichtenstein, Alfred: Dichtungen. Hg. von Klaus Kanzog. Zürich 1989.

Vollmer, Hartmut: Alfred Lichtenstein – Zerrissenes Ich und verfremdete Welt. Ein Beitrag zur Erforschung der Literatur des Expressionismus. Aachen 1988.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz