Die fetten Jahre sind vorbei?
Für eine Standortbestimmung von Fettleibigkeit in der Gegenwartskultur
Von Sibylle Blaimer
1. Der Fall Ricarda Lang
Als in der Nacht vom 10. auf den 11. September 2024 Teile der Dresdner Carolabrücke wegen sogenannter Spannungsrisskorrosionen in die Elbe stürzten, ließen Spott und Häme für Ricarda Lang nicht lange auf sich warten. Lang war zum damaligen Zeitpunkt 30 Jahre alt, Bundesvorsitzende der Grünen und adipös. Kaum waren die ersten Ansichten der kollabierten Brücke publik geworden, gingen auf den Social-Media-Kanälen Posts viral, die Lang den Einsturz zur Last legten. Eines der bekanntesten Memes etwa zeigte sie, im Maßstab völlig überdimensioniert, in einem roten Sessel zwischen den abgesunkenen Brückenteilen sitzend. Gut gelaunt dreinblickend hatte Lang, so die wenig gewitzte Meme-Logik, den Zusammenbruch verursacht, indem sie die Verkehrsverbindung kurzerhand zur Hängematte umfunktionalisiert hatte.
Wie viele ihrer ParteikollegInnen war die Grünenpolitikerin zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten Zielscheibe öffentlicher Anfeindungen. Im besonderen Fall Langs jedoch arbeiteten sich gegenstimmige Argumentationen sowie Social-Media-Kommentare, die von minder gelungenen Witzen über Beleidigungen bis hin zu drastischen Hass- und Morddrohungen reichten, hartnäckig am Thema Übergewicht ab. Als Lang beispielsweise 2023 für das Vorhaben des Landwirtschaftsministeriums einer Beschränkung von Süßigkeiten- und Fast-Food-Werbung warb, indem sie lediglich Ergebnisse der Adipositas-Forschung prägnant zusammenfasste, sprach ihr unter anderen der Komiker Dieter Nuhr in der Sendung Maischberger (9.4.2025) jedwede Eignung ab, „uns als Volk sozusagen in Ernährungsfragen pädagogisch zu betreuen“. Ähnlich gelagert fiel ein inzwischen gelöschter Instagram-Post der PR-Managerin Alexandra von Rehlingen-Prinz aus, die angesichts der grünen Klima-Agenda Lang 2022 Bigotterie vorwarf: „Wenn die grüne Tonne vegan leben würde … wäre dem Klima geholfen.“ (Tunk 2022)
In solchen Aussagen wird vordergründig eine Forderung nach Authentizität laut, wie sie den gegenwartskulturellen Diskurs generell und über die Politik hinaus nachhaltig bestimmt – zu denken sei nur an den Boom autofiktionaler Literatur. Wer über etwas spricht, sollte dies demnach im günstigsten Fall auf Basis von am eigenen Leib gewonnener Erfahrung tun und/oder mit ihrem/seinem Lebensstil verbürgen. Dass eine solche Argumentation per se zu kurz greift und zudem die Möglichkeit negiert, Wissen auf einem nicht erfahrungsbasierten Weg zu erwerben, liegt auf der Hand. Weniger offensichtlich, dafür nicht minder irritierend erscheint die Selbstverständlichkeit, mit der Nuhr wie von Rehlingen-Prinz von Langs Körperfülle auf ein (Fehl-)Verhalten, hier den maßlosen Konsum des Falschen, rückschließen zu können glaubten. Anders gelagerte Diskreditierungsversuche wiederum begegneten der Grünenpolitikerin in Form von Whataboutism-Rhetorik. Statt einer sachlichen Auseinandersetzung sah Lang sich dann mit einer Verschiebung des Themas auf ihr Übergewicht konfrontiert, einen Aspekt also, der sie aus Sicht des Gegenübers im Besonderen angreifbar zu machen schien.
Lang selbst reagierte meist mit Souveränität. Sie nahm formelle Entschuldigungen ohne viel Aufhebens an, reagierte mit Humor, indem sie ihr Dicksein selbst immer wieder ironisierte, und hielt nicht zuletzt an einem femininen Kleidungsstil fest, der nichts zu kaschieren oder kostümieren versuchte. Nachfragen nach ihrem konkreten Gewicht oder bloß auf ihr Erscheinungsbild zielende Pseudodiskussionen ließ sie ins Leere laufen. Gleichzeitig trat sie spätestens seit 2019 immer wieder dafür ein, die Öffentlichkeit für das Thema Bodyshaming zu sensibilisieren, teilte ihre Erfahrungen, sprach sich entschieden gegen eine körperlich fundierte Ungleichbehandlung aus und arbeitete so einer Normalisierung insbesondere weiblicher Fettleibigkeit im politischen Raum zu. In einem mit der Frankfurter Rundschau geführten Interview im März 2019 etwa unterstrich Lang, befragt darauf, welchen Begriff sie selbst bevorzuge:
Ich würde mich selbst als dick bezeichnen, denn ich bin über dem Normalgewicht, und habe damit überhaupt kein Problem. […] Meine Situation als dicke Frau verändert sich ja auch nicht, nur weil man mich als ‚mollig‘, ‚kurvig‘ oder ‚vollschlank‘ bezeichnet. Wenn die Leute so etwas sagen, dann verschleiern sie damit, dass sie dick mit etwas Negativem verbinden. Anstatt dick eben als das zu sehen, was es ist: ein körperliches Merkmal, das manche schön finden und manche nicht. (Müller 2019)
Während in manchen Social-Media-Kommentaren die verbalen Ausfälle gegen Langs Dicksein als längst überfällige Auslotungen der Grenzen des Sagbaren gefeiert wurden (im Sinne von: endlich sagt das mal jemand), erwarb Lang so für Viele die Rolle einer selbstbewussten Verfechterin der Gleichbehandlung von Frauen und Menschen mit außergewöhnlicher Körperlichkeit.
Für entsprechende Aufmerksamkeit sorgte sodann, dass die Politikerin nach ihrem Rücktritt als Bundesvorsitzende der Grünen im Herbst 2024 stetig sichtbarer an Gewicht verlor. Dem Schweizer Blick etwa oder auch dem Aushängeschild der deutschen Regenbogenpresse, der Gala, war dieser Umstand jeweils ein eigener Beitrag wert. Lang selbst postete unter anderem auf ihrem Instagram-Kanal im April 2025 zu dem Song Little Talks der Band Of Monsters and Men einen Fotowechsel, in dem ein Bild ihres vormalig adipösen Körpers ihr aktuelles, schlankeres Erscheinungsbild kontrastiert. Das Zeit Magazin (Nr. 4/2025) wiederum widmete dem deutlichen Wandel schon im Januar ein ausführliches Interview samt Fotostrecke und bot Lang damit eine Plattform, zu ihrem Abnehmprozess öffentlich Stellung zu beziehen. Lang sprach hierbei die bei ihr aufkommenden Schuldgefühle gegenüber anderen adipösen Frauen an, die sich möglicherweise durch ihre Gewichtsreduktion „verrate[n]“ fühlen könnten, und betonte ihre „Gesundheit“ als allein ausschlaggebend. Das Abnehmen sei, wie sie zudem unterstrich, seit Frühjahr 2024 „hart erarbeitet“ worden durch eine bewusstere Lebens- und Ernährungsweise, zu der sich viele Übergewichtige aufgrund von Versagensängsten oder aus Trotz dem verspürten sozialen Druck gegenüber oftmals nicht durchringen könnten: „Ich glaube, dass die feindselige Stimmung, die wir gegen dicke Menschen in unserer Gesellschaft haben, das Problem Übergewicht noch verstärkt“. Lang war offenkundig bemüht, dem Vorwurf zu entgehen, sich den Fat-Shaming-Stimmen schlussendlich doch noch gebeugt zu haben und so zum Verstärker einer fettenfeindlichen Haltung geraten zu sein, indem sie das Thema Übergewicht allgemein und für sich im Speziellen als von primär medizinischer Relevanz markierte.
Ricarda Langs Beispiel sagt viel über die Einstellung unserer Gesellschaft gegenüber dicken Menschen und die ambivalente Bedeutung der Medizin hierbei aus. Im Folgenden wird versucht, auf wenigstens einige Aspekte dieses komplexen Verhältnisses anhand einiger Stichproben aufmerksam zu machen.
2. Fettleibigkeit im populären Diskurs
Festzuhalten ist zunächst, dass Beleibtheit für sich besehen bereits ausreicht, um Anfeindungen und Verbalinjurien auf sich zu ziehen. Der Ausdruck ‚fett‘ funktioniert bekanntlich selbst als gängige Beleidigung, die Zahl der Deine-Mutter-ist-so-fett-Witze geht ins Vielfache. Warum eigentlich? Jemand in infamer Absicht als ‚fett‘ zu etikettieren, heißt meist, diesem ein eklatantes Verfehlen von Normen anzulasten, über die sich unser modernes Selbstbild, also die Idee davon, wie wir am besten sein sollten, wesentlich konstituiert. Dazu gehört, dem Anderen ein offensichtliches Scheitern an einem Ideal zu attestieren, das körperliche Schönheit, insbesondere von Frauen, spätestens seit dem 18. Jahrhundert maßgeblich über Wohlproportion und Schlankheit definiert.
Wenn Lang allerdings gegenüber dem Zeit Magazin von Aussprüchen wie „du fette Quaddel“ oder „du hässliches Stück Butter“ berichtet, so verbindet sich mit dem darin an sie gerichteten Verdikt des Hässlichen zugleich eine dehumanisierende Reduktion. In der äußerlichen Abweichung soll der/die Fettleibige als ungestalte amorphe Masse ‚lesbar‘ werden. Mit dem Formverlust wird das Menschsein als solches infrage gestellt – womit sich ein prekärer Vorstellungsbereich eröffnet, der Fettleibigkeit in die Nähe des Monströsen, dem im heutigen populären Diskurs gültigen Inbegriff für jede Form der Anormalität, rückt. Dem korrelierend beschränken sich Adipösen-Invektive nicht auf eine Aburteilung des äußerlichen Erscheinungsbildes. In ihnen schwingen meist wesensbezogene Zuschreibungen mit oder, um es im Sinn des sich in der Moderne zunehmend kanonisierenden homo clausus-Körperkonzepts zu formulieren: die äußerliche Abweichung wird durch eine innerliche vervielfacht.
2017 widmete sich etwa das Online-Reporter-Format PULS Reportage dem Thema Body Positivity vs. Fatshaming – unsere Vorurteile gegenüber Übergewichtigen. In der Sendung wurde Passanten ein Foto der schlanken Ariane Alter vorgelegt sowie ein digital verändertes Bild, das Alter als stark adipös zeigte, um hieran jeweils die Frage nach dem potenziellen Beruf und vermuteten Charaktereigenschaften anzuschließen. Auch wenn die Antwortmöglichkeiten durch eine vorgegebene Auswahl limitiert waren – das Ergebnis fiel eindeutig aus: Mehrheitlich wurden der schlanken Version Berufe höherer Qualifikation und positiv bewertete Eigenschaften wie Willensstärke, Fleiß, Intelligenz zugetraut, wohingegen die Befragten Alters adipöse Erscheinung eher als willensschwach, faul, weniger intelligent einstuften und in meist nicht-akademischen Berufen verorteten. Der Befund deckt sich mit zahlreichen wissenschaftlichen Studien, die Übergewicht als wesentlichen benachteiligenden Faktor hinsichtlich Karriereverlauf und Jobsuche bestätigen.
Das liegt daran, dass der fettleibige Körper seit jeher über einen eigenen semiotischen Verweisungscharakter verfügt. Wie unter anderen der Kulturhistoriker Christopher E. Forth anhand einer stupenden Fülle an Quellenmaterial in seiner Monografie Fat. A Cultural History of the Stuff of Life herausarbeiten konnte, existiert nahezu keine Zuschreibung an den fetten Leib in unserer westlichen Kultur, die sich nicht wenigstens bis zur Antike zurückverfolgen ließe. (Vgl. Forth 2019) Hierunter gehören auch negative Denkbilder, die den adipösen Menschen als faul, träge, undiszipliniert, ubiquitär maßlos, insbesondere gefräßig, infertil und triebgelenkt sowie wahlweise dumm, einfältig und emotionsarm konzipieren. Neben einer Tradition der Abwertung existieren jedoch parallel über lange Zeit positive Vorstellungen im Kontext von Beleibtheit. So arbeitete etwa die britische Autorin Susan E. Hill anhand verschiedener antiker und frühchristlicher Diskurse zum Thema Fettleibigkeit und Maßlosigkeit heraus, dass Fett dort als „cultural trickster“ (Hill 2023: 99) funktionieren konnte, das heißt, je nach Autor, Kontext und Zeit mal positiv, mal negativ konnotiert war. Als konkretes Beispiel können die Luther-Darstellungen der Reformationszeit dienen, für die wiederum die Historikerin Lyndal Roper zwei konträre Bildlogiken aufgezeigt hat, mit denen Luthers wohlbekannte Feistigkeit instrumentalisiert wurde: Von katholischer Seite diffamierend in Szene gesetzt, vermochte in protestantisch gesinnten Abbildungen der kolossale Umfang des Reformators nachgerade als Zeichen der Stärke und Unbeugsamkeit dienen. (Vgl. Roper 2012: 23–26)
Eine entsprechende Beispielreihe wäre beliebig fortsetzbar und könnte etwa von Kants Lob des Phlegmas, das in der Temperamentenlehre traditionell eher mit einem fülligen Leib assoziiert ist, über Vorstellungen vom gutmütigen, verlässlichen Dicken bis hin zur Wahrnehmung von Beleibtheit als Zeichen bürgerlichen Wohlstands im 19. Jahrhundert führen. Solche Beispiele verdeutlichen nicht allein den historisch und kulturell variablen Konstruktcharakter von Bewertungen fettleibiger Menschen, sondern sie machen gleichzeitig für den aktuellen populären Diskurs eine gewisse Vereinseitigung evident. Der dicke Körper scheint in unserer Gegenwartskultur, solch positiver Konnotationen weitgehend entbehrend, primär zu einer Projektionsfläche für vieles geworden zu sein, was die Gesellschaft an sich ausschließen möchte. Statt als cultural trickster erscheint Fettleibigkeit eher als cultural shifter, als Folie für einen Verschiebungsprozess, der mit peinlichen Affekten wie Ekel oder Scham verbundene Vorstellungen aus dem ‚Zentrum des Normalen‘ an dessen Ränder verlagert. Im fettleibigen Körper materialisiert sich sichtbar die Abweichung von einem imaginären Ideal.
Blickt man zumindest auf das Mainstream-Hollywood-Kino der vergangenen Jahrzehnte, scheint hierfür einiges zu sprechen. Die Filmwissenschaftlerin Barbara Plotz beispielsweise untersuchte an Hollywood-Streifen, meist Komödien insbesondere der 2000er und 2010er Jahre, wie dort konkret als fettleibig markierte Figuren in Szene gesetzt werden. Ob als Außenseiter, als überkonsumierende Esser, ob als plumpe, außer Kontrolle geratene Slapstick- und Gross-out-Körper, ob als demaskulinisierte Männer oder als Verkörperungen einer anti-normativen Weiblichkeit – die von Plotz erarbeiteten Filmstereotype markieren Fettleibigkeit als außerhalb der Norm stehend. (Vgl. Plotz 2021) Solche Konstellationen bergen grundsätzlich das Potenzial, etablierte Denkmuster infrage zu stellen und neue Rollenentwürfe, beispielsweise von Weiblichkeit, weiter auszuloten. Doch die untersuchten Filme verpassen meist die Chance, zu einer entsprechenden Reflexion klar beizutragen und normative Vorstellungen zurückzuweisen, indem sie schlussendlich am Bild des normbrüchigen als dem verlachenswerten Dicken festhalten.
Dabei können die populärkulturellen Fettleibigkeitsimaginationen durchaus ein heimliches Identifikationsangebot bergen. Denn in ihrer Hyperphysis, ihrem Anderssein und ihrer Maßlosigkeit agieren die dicken Charaktere ohne moralische Scham- und Ekelschranken aus, was zur verleugneten und, psychoanalytisch besehen, damit zugleich zur begehrten Kehrseite der Kultur gehört. Insbesondere in den phantastischen Genres erhält Fettleibigkeit als solch fleischgewordenes Versprechen auf ein ungezügeltes Ausleben archaisch codierter Regungen seinen Platz. In Stephen Kings 1983 veröffentlichter Kalendergeschichte Cycle of the Werewolf etwa brechen Victor Bowle und Elbert Freeman während einer Albtraumszene aus ihren biederen bürgerlichen Existenzen aus, sobald sich ihre plump-fetten Körper, noch fetter aufschwellend, in die unkontrollierbar ihrem Blutdurst nachstreifenden Wolfswesen verwandeln. Als im gleichen Jahr wiederum mit Jabba the Hutt 1983 in Return of the Jedi die maßgebliche fettleibige Figur des Star Wars-Universums erstmals auf der Leinwand erschien, setzte auch George Lucas vordergründig auf Abscheu und Faszination zugleich. Bereits in einer aus der 1977er Kinoversion von A New Hope herausgeschnittenen Szene diente der übergewichtige Schauspieler Declan Mulholland als Lichtdouble für Jabba. Doch Lucas arbeitete über mehrere Jahre weiter am Entwurf für die endgültige Physis, bis er schließlich in der dritten Folge der Original-Trilogie zum kolossalen, dickbäuchigen Schneckenwesen mit krötenähnlichem Haupt gelangt war und damit eine der extremsten ikonischen Gestalten der Reihe geschaffen hatte. Der machtvolle Führer des kriminellen Hutten-Clans war dabei in deutlichem Kontrast zu den weiteren Protagonisten erkennbar als Atavismus angelegt: Hässlich-monströs figuriert, durfte Jabba ungezügelt seinem Fress- und Sexualtrieb frönen, verspeiste seine Nahrung bei noch lebendigem Leib und ließ Carrie Fisher, alias Prinzessin Leia, zur Freude vieler ZuschauerInnen im Bikini auftreten. Dass bei einer solchen Figurenzeichnung die verführerische Wunschphantasie eines aufs Elementarste reduzierten Daseins mitspielt, legen nicht zuletzt spätere, wenn auch semi-ernstgemeinte Fanfiktion-Auslegungen nahe. Erst jüngst wurde in The George Lucas Talk Show das unerhabene Ende Jabbas umgedeutet. Der Film habe statt einer tödlichen Strangulation durch die Prinzessin eigentlich eine lustvolle Orgasmus-Szene samt ejakulierendem Schwanzteil gezeigt. (Vgl. Lucas Talk 2022)
Insbesondere im Film scheinen fettleibige Körper ihren vornehmlichen Platz im Fantasy- oder Komödiengenre zu halten, meist als Neben- oder Kontrastfiguren zu den eigentlichen schlanken HauptdarstellerInnen. Entsprechend sorgte für einiges Aufsehen, als Darren Aronofsky 2022 mit The Whale den letzten Tagen eines stark adipös geratenen Protagonisten, gespielt von Brendan Fraser, ein ernsthaftes Charakterdrama widmete. In der Filmadaption des gleichnamigen Theaterstücks von Samuel D. Hunter aus dem Jahr 2012 ist die Fettleibigkeit der Hauptfigur Charlie psychopathologisch plausibilisiert. Charlie leidet an einer Esssucht, die, wie die ZuschauerInnen erfahren, infolge von erlittenen Schicksalsschlägen als Bewältigungsstrategie dient. Eingepackt in einen Fat-Suit, um die knapp 300 kg seiner Figur überhaupt glaubhaft verkörpern zu können, erhielt Fraser für seine tränenreiche Darstellung den Oscar als bester Hauptdarsteller, der Fat-Suit den Oscar für das beste Make-up. Passend zur Hollywood-Konsekration wurde Aronofskys Film von einem Teil der deutschsprachigen Kritik frenetisch gefeiert. Sandra Kegel (FAZ) sprach in einer Online-Kritik von einem „ganz phantastischen Film“ über eine „überaus komplexe Persönlichkeit“. (Kegel 2023) In der taz wiederum war von der „liebenswerte[n] Feinsinnigkeit“ und „empathische[n] Persönlichkeit“ der Hauptfigur sowie vom zwar „pathetischen, aber dennoch unweigerlich anrührenden Finale“ die Rede. (Wintermayr 2023) Wolfgang Höbel titelte im Spiegel gar „Ein unwiderstehlicher Gefühlsklops“. Fraser sei „hinreißend monströs“. (Höbel 2022)
Schon dieses überbetonende Lob auf eine gefühlvolle, Rührung evozierende Charakterzeichnung bereitet ein gewisses Unbehagen. Komplexere Figurenzeichnungen sollten im Charakterkino nichts Ungewöhnliches darstellen. Dass sie gerade an einem Drama mit einer fettleibigen Hauptfigur derart in den Vordergrund gerückt werden, lässt den Umkehrschluss zu, dass unser gewöhnlicher Blick auf Dicke Mitgefühl und Empathie kaum gestattet. Doch statt die gesellschaftliche Haltung gegenüber Adipösen solcherart zu reflektieren und vom rührigen Kammerstück zu einem Sozialdrama von tatsächlicher Relevanz zu gelangen, fixiert Aronofskys Körperkino den fetten Leib im Bereich des ungeheuerlich Abnormen und seinen Träger statuarisch, sowohl körperlich weitgehend immobil als auch psychisch ohne weitere Entwicklungsmöglichkeit. Kritische Stimmen wie die von Wolfgang M. Schmitt (Die Filmanalyse) oder Cosima Lutz (Die Welt) wiesen denn auch auf eine sensationsgierige Kameraführung hin, die voyeuristische Ausbeute des fetten Körpers beziehungsweise flottierender Dicken-Stereotype. Lutz etwa schrieb: „Wir sehen einen Menschen, der sich nicht im Griff hat, der stinkt, schwitzt, frisst und außerdem soziophob, depressiv und überhaupt eklig ist. Muss die Darstellung eines Adipösen wirklich alle Vorurteile bedienen, die man, tja, eventuell hat?“ (Lutz 2023) Und Schmitt pointierte die dem Film zugrunde liegende eigentliche Poetik treffend als „Mitleid erregen durch Qual“. (Schmitt 2023) Ob Mitleid jedoch das ist, was dicke Menschen sich vom Gegenüber wünschen, ist stark in Zweifel zu ziehen. Zementiert wird so allenfalls eine Opferrolle. Ein Zugang jedoch, der die Wahrnehmung des Fettleibigen als kulturell-sozial codiert erfahrbar macht, wird dadurch verfehlt.
Vorstellungen von der Alterität seiner TrägerInnen begleiten den dicken Körper auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In den Autofiktionen des Berliner Schriftstellers David Wagner etwa tauchen sie in kleinen Randbemerkungen und flüchtigen Beobachtungen auf. Unter der Hand gerät das dort entfaltete Bild vom fettleibigen Menschen in der Zusammenschau regelrecht zu einem Anti-Subjekt-Entwurf. Da ist beispielsweise ein Besuch von McDonald’s in Der vergessliche Riese, Wagners mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnetem Demenzroman über das Vergessen, Erinnern und Neuerzählen der Geschichte einer westdeutschen Familie. Als die Aufmerksamkeit der beiden Protagonisten, Vater und Sohn, auf eine „dicke Familie“ fällt („Schau mal, wie die da in sich reinschaufeln!“), entsteht in der Beschreibung des Ich-Erzählers das unzweideutige Bild von maßlosen und zugleich stumpfsinnigen Fressern:
Am Nachbartisch sitzt eine Familie: übergewichtiger Vater, übergewichtige Mutter und zwei übergewichtige Kinder, Junge und Mädchen. Die Tochter ist wahrscheinlich zwölf, der Sohn dreizehn oder vierzehn Jahre alt, ihre Gesichter werden von den XXL-Softdrinkbechern und den Verpackungsmüllbergen auf ihren Tabletts verdeckt. Alle vier starren auf ihre Handys. (Wagner 2021: 200)
In Leben wiederum, Wagners bislang bekanntestem Werk, für das er 2013 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämiert wurde, durchläuft der an einer Autoimmunhepatitis leidende Ich-Erzähler eine mehrmonatige Klinikodyssee, während der das Motiv des Fett-Seins dreimal explizit Erwähnung findet. Einmal in Gestalt einer Mitpatientin, eine „große kräftige Frau“, die sich ungebeten zum gerade aus der Narkose erwachten Ich-Erzähler setzt und ihre Geschichte vor diesem ausbreitet, unter anderem den Umstand, dass ihr Partner „sie verlassen hat, weil sie so fett geworden ist“. Eine spätere Szene verbindet mit dieser „ungetümen Frau, der Riesin“, (Wagner 2020: 76) ein Kannibalismusmotiv. Sie imaginiert nach ihrer Lebertransplantation, mit „Menschenfleisch gefüttert worden zu sein“, ja einen „sehr schöne[n], starke[n] Mann“ verspeist zu haben. (Wagner 2020: 262) Nun spielen Denkfiguren einer kannibalistischen Einverleibung für Wagners Schreiben eine wiederkehrende Rolle. Insbesondere in Leben koppelt sich hieran die Vorstellung, über das fremde, transplantierte Organ auch etwas von der Persönlichkeit der SpenderIn anzunehmen. So gestaltet sich etwa in der zweiten Fett-Episode als absolutes Schreckensszenario für den Ich-Erzähler, „ein frustrierter alter Mann, fernsehsüchtig, häßlich, fett und böse“ (Wagner 2020: 175), könne Spender der ihm transplantierten Leber gewesen sein – und das neue Organ ihn in entsprechender Weise dem früheren Besitzer angleichen. Im Fall der ‚Riesin‘ jedoch wird eine analoge Idee, demnach die Aneignung von Schönheit und Stärke, nicht weiter entfaltet. Wagners knappe Beschreibungen assoziieren ihre weibliche Fettleibigkeit stattdessen mit einer buchstäblich raumgreifenden Distanzlosigkeit einerseits und stiften andererseits eine literarische Nähe zu anderen ungetümen (Menschen)Fressern wie dem fettleibigen Giaur in William Beckfords Vathek, ohne indes deren schaurige Faszinationskraft zu erreichen. Die dritte Fett-Erwähnung schließlich taucht in Form einer als „Lazy Boy“ betitelten Todesmeldung auf:
Daniel Webb (33) / 340 Kilogramm schwer / starb an Herzversagen / als Feuerwehrleute versuchten / ihn aus seinem Fernsehsessel / (Modell Lazy Boy) / herauszuschneiden // wegen einer Knieverletzung / hatte er die letzten neun Monate / wund / und in den / eigenen Exkrementen / in dem Sessel / verbracht // Hätte man uns gleich / die richtige medizinische Versorgung bewilligt / wäre das nicht passiert sagt seine Frau / sie und ihr Mann / hatten sich vergeblich / um eine Krankenversicherung / bemüht. (Wagner 2020: 92–93)
Der in seinen Exkrementen versinkende fettleibige Webb erscheint nurmehr als ekelerregende, träge, faule Masse mit erhöhtem Mortalitätsrisiko. Die rückwirkende Schuldzuweisung der Partnerin an das medizinische Versorgungssystem verstärkt zudem den bereits im doppeldeutigen Titel Lazy Boy provozierten Eindruck, es im Fall des extrem Adipösen mit Personen zu tun zu haben, die sich ihrer gesundheitlichen Eigenverantwortung völlig entziehen. Grundsätzlich, blickt man zumindest auf die beleibten Figuren der Weltliteratur, vermag eine solche Trägheit des Fettleibigen auch als ein (heroischer) Gestus der Verweigerung gegen die von außen herangetragenen Anforderungen lesbar werden. Bezeichnenderweise nennt Leben an späterer Stelle Iwan Gontscharows beleibten Romanheld Oblomow, der sprichwörtlich für eine solche Haltung des widerständigen Nichtstuns steht. Oblomows müde Untätigkeit erscheint bei Wagner denn auch als genuin menschliche Qualität („Die Müdigkeit des Nichtstuns – ist es vielleicht das Menschlichste am Menschen, daß er sich sagen kann: Ich bleibe liegen, heute mache ich nichts […].“ [Wagner 2020: 246]). Doch Oblomow selbst wird hierbei explizit nicht als fett markiert. Wagners Lazy Boy-Schilderung wiederum vermeidet Verben, aus denen auf ein entsprechendes Widerstandsmoment bei Webb zu schließen wäre. So bleibt das Bild des Dicken als einer faulen und buchstäblich sedentären Existenz stehen.
3. Medizinisches Fett-Wissen vs. Fat-Activism?
Dabei bildet die Lazy Boy-Passage durchaus etwas von der medizinischen Realität ab, in der sich Fettleibige befinden. So können Menschen mit Übergewicht von operativen Eingriffen unter anderem aufgrund der damit verbundenen möglichen Komplikationen ausgeschlossen werden, die Ausstattung einiger OP-Säle ist auf ein bestimmtes Gewicht limitiert. Studien sprechen zudem von einem Anti-Fett-Bias, dem MedizinerInnen länderübergreifend oftmals unterliegen. Dickleibigen PatientInnen wird etwa von vornherein eine geringere Compliance oder Fähigkeit unterstellt, ärztlichen Anweisungen diszipliniert zu folgen, und auch insgesamt mit weniger Empathie begegnet. (Vgl. Puhl/Heuer 2009) Amerikanische Lebensversicherungen wiederum förderten bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Datenerhebungen, über die sich statistisch eine Korrelation von Übergewicht und erhöhtem Sterblichkeitsrisiko nachweisen ließ. (Vgl. Vigarello 2013: 177) Heute gehört es zum pathophysiologischen Lehrbuchstandard, Fettleibigkeit mit ihrem fachsprachlichen Synonym Adipositas (engl. obesity) als ein eigenes Krankheitsbild zu definieren und zugleich auf zahlreiche schwerwiegende Folgeerkrankungen wie Herzkreislaufstörungen, Diabetes II, ein erhöhtes Risiko für Karzinomentwicklungen oder Funktionsstörungen von Lunge, Leber, Darm und Niere, Arthrose, Depressionen oder männliche Infertilität hinzuweisen.
Wahrgenommen jedoch als ein Risiko-Körper, der kostenintensiver, weil potenziell behandlungsbedürftiger und damit auch weniger leistungsstark ist, gewinnt Fettleibigkeit eine über den Einzelnen hinausgehende gesellschaftliche Relevanz. Zugespitzt formuliert: Wer stark übergewichtig ist, gerät in Verdacht, es an einer auch dem Gemeinwohl zuträglichen gesundheitlichen Selbstfürsorge vermissen zu lassen. Die Denkfigur dahinter ist wiederum die von Dicken als Menschen, denen es grundsätzlich an Selbstkontrolle, Disziplin und Leistungswillen fehlt. Wirft man jedenfalls einen genaueren Blick auf Ricarda Langs medizinisch argumentierendes Abnehm-Narrativ, so passen sich die von ihr vorgebrachten Punkte nahezu vollständig einer solchen Logik an. Lang erwähnte in ihrem Interview mit dem Zeit Magazin nämlich auch, für das Abnehmen habe sie eine größere Selbstachtsamkeit obwalten lassen („Da sollte ich ein bisschen mehr auf mich achten“), dadurch die bereits oben erwähnte „hart erarbeitet[e]“ Selbstoptimierung befördert, um – und das ist das Entscheidende – auch langfristig ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten: „Ich habe einen Job, der wahnsinnig auslaugt, und ich will ihn noch ein paar Jahre machen.“ Lang hatte sich damit an einem von der Medizin vorgegebenen Körper-Wissen orientiert.
Der Diskurs über eine gesunde Lebensweise, die richtige Ernährung und das richtige Gewicht eingeschlossen, ist seit geraumer Zeit ein primär medizinischer. Hatte schon Hippokrates in einem ihm zugeschriebenen Aphorismus (2.44) die Beobachtung geteilt, dicke Menschen würden schneller versterben als schlanke, erfuhr die Thematik von Fettleibigkeit ihre erste umfassendere Medikalisierung in der Frühen Neuzeit. Wie insbesondere die (Medizin)Historiker Michael Stolberg und Alexander Pyrges in ihrer Forschung zum Zeitraum aufzeigen, ging es in den ärztlichen Schriften auch um die Durchsetzung eines gesellschaftlich akzeptierten Essensstandards: Indem die körperlichen und intelligiblen Konsequenzen der Fettleibigkeit benannt wurden, wurde gleichzeitig die damals bereits eng mit dem fettleibigen Körper verwobene Vorstellung eines unersättlichen, maßlosen Nahrungsverhaltens verurteilt und mitunter eine auf den individuellen Körper abgestellte Diät diskutiert. (Vgl. Stolberg 2012: 374) Im aufgeklärten Schrifttum wurden Gesundheit und Leistungsfähigkeit sodann verstärkt vergemeinschaftet und der bürgerliche Einzelne auf eine entsprechende Selbstfürsorge moralisch verpflichtet. (Vgl. Labisch 1992: 96–104) Im Zuge der wachsenden Bedeutung der Medizin für die Gesundheitsfürsorge der modernen Staaten einerseits, andererseits mit der sich ausbildenden Vorstellung von normalverteilten und statistisch ermittelbaren Körpermaßen, wie sie sich anfänglich in Adolphe Quételets Idee vom homme moyen niederschlug, (vgl. Link 2006: 186–197) erwuchs vonseiten der Medizin zunehmend ein normierender Druck. Für dickleibige Menschen machte sich dies bereits im 19. Jahrhundert, verstärkt jedoch sodann im 20. Jahrhundert über unterschiedliche diätetische Regime bemerkbar, die unter anderem Nahrungsart und -menge sowie ein bestimmtes Maß an körperlicher Ertüchtigung vorgaben. (Vgl. Klotter 1990: 123–135) Schließlich implementierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1997 offiziell den Body-Mass-Index (BMI) als weltweiten Bemessungsstandard und legte auf Basis der BMI-Formel Körpergewicht/Körpergröße2 die Normalitätsgrenzen fest. Die Formel selbst war in ihrer heutigen mathematischen Form 1972 bestimmt worden. Die ihr zugrunde liegende Idee, dass Größe und Körpermasse eines Menschen idealerweise korrelieren, geht jedoch auf Quételet zurück. (Vgl. Frommeld 2012)
Die konkreten Grenzwerte, nach denen die WHO zwischen den drei Gewichtskategorien Unter-, Normal- und Übergewicht unterteilte, waren im Wesentlichen an den potenziellen Schwellen für das Entstehen und Auftreten spezifischer Krankheitsbilder orientiert. Wer sich demnach außerhalb des Normalspektrums eines BMI von 18,5–24,9 kg/m2 bewegt, gerät in einen Bereich erhöhter gesundheitlicher Risiken und wird zugleich als ein vom Ideal- beziehungsweise Normalgewicht abweichender Körper unmittelbar greifbar. Noch im gleichen Jahr erklärte die WHO Adipositas, also Übergewichtigkeit mit einem BMI von mindestens 30 kg/m2, denn auch zu einem epidemisch auftretenden Gesundheitsproblem globalen Ausmaßes. Betroffen waren gemäß den Datenerhebungen nämlich nicht nur die reichen westlichen Industrienationen, sondern ebenso die sogenannten Entwicklungsländer. 2019 erklärte der renommierte Lancet Commission report die Trias aus Unterernährung, Klimawandel und Adipositas als die zentralen die Zukunft bestimmenden Weltgesundheitsprobleme. (Vgl. Swinburg et al. 2019) Und 2024 veröffentlichte die WHO Zahlen, nach denen jeder achte Mensch an Fettleibigkeit leidet. Mit den ungebrochen steigenden Prävalenzen veränderte sich auch die Begrifflichkeit. Statt von global epidemic war seit den 2010ern meist direkt von globesity oder Pandemie die Rede.
Fat Activism-Bewegungen, die gegen eine gesellschaftliche Stigmatisierung und Diskriminierung von beleibten Menschen eintreten, sowie die ihnen verwandten Fat Studies kritisieren die strikten Grenzziehungen der WHO zu Recht als dezisionistisch. Darüber hinaus verurteilen VertreterInnen der Fat Studies eine (pauschale) Pathologisierung des fetten Körpers. Angelehnt an den sozialkonstruktivistischen Zugang der Disability Studies argumentieren sie unter anderem, dass erst die umfassende Medikalisierung von Fettleibigkeit eine gesellschaftliche Wahrnehmung gestiftet habe, in der dicke Menschen als etwas Problematisches, Defizitäres erscheinen können. Aus einer solchen Perspektive heraus, die Fettleibigkeit als etwas Abzuänderndes definiert, werde überdies versäumt, die Umwelt adäquat an die Bedürfnisse dicker Menschen anzupassen. (Vgl. Evans/Cooper 2022)
Damit wird auf ein Dilemma aufmerksam gemacht, in dem sich die medizinische Adipositas-Forschung tatsächlich befindet. Einerseits verschafft der medizinische Diskurs dadurch, dass Übergewicht über Jahrzehnte hinweg als etwas Abnormes und Behandlungsbedürftiges festgelegt wird und wurde, der Fetten-Stigmatisierung einen quasi-legitimen Rahmen. Aktuelle Studien werden nicht müde, die Behandlungsbedürftigkeit nicht allein über somatische Symptombilder zu erklären, sondern auch auf den psychischen Leidensdruck hinzuweisen, der Übergewichtigen durch täglich erfahrbare Abwertung und Diskriminierung entsteht. Andererseits muss die klinische Medizin einen (versicherungstechnisch) gesicherten Zugang zu einer adäquaten Versorgung dort gewährleisten können, wo dies PatientInnen benötigen. Hierzu sind – wie aktuell Long-Covid-Betroffene leidvoll erfahren müssen – Biomarker, Werte und Referenzbereiche unumgänglich. Gerade die Priorisierung des BMI als Bemessungsbasis gilt indes auch unter MedizinerInnen als stark diskussionswürdig, insofern die Formel weder zwischen Muskel- und Fettmasse differenziert, noch Aufschluss über die tatsächliche Fettverteilung zulässt. Eine eindeutige Korrelation, geschweige denn Kausalität zwischen einem bestimmten BMI-Wert und einem Krankheitsauftreten ist so eigentlich kaum möglich. 2022 wurde daher die Lancet Diabetes & Endocrinology Commission on the Definition and Diagnosis of Clinical Obesity eingerichtet. Das aus MedizinerInnen und fettleibigen ErfahrungsträgerInnen zusammengesetzte Expertengremium bemüht sich unter anderem um neue diagnostische Kriterien, die geeignet sind, prä-klinische und klinisch bereits imponierende Fettleibigkeit adäquater zu erfassen. (Vgl. Baur et al. 2025)
Beachtenswert ist zudem, dass die Ergebnisse insbesondere der jüngeren Adipositas-Forschung den populären Stereotypkomplex von Dicken als besonders faulen, undisziplinierten und nahrungsversessenen Menschen nicht zwingend untermauern. Hauptursächlich für die weltweit steigenden Adipositas-Fälle wird einheitlich eine Umgestaltung unserer Umwelt dahingehend angesehen, dass uns zunehmend bewegungsärmere Verhaltensweisen und zugleich der beständige Zugriff auf hochkalorische Nahrungsmittel erlaubt sind. Keinen Zweifel lässt die Studienlage zudem daran, dass die obesogenic environments bei verschiedenen Menschen völlig unterschiedliche Effekte zeitigen. Bereits 1990 etwa hatte der ethisch bedenkliche Überfütterungsversuch an verschiedenen eineiigen Zwillingspaaren durch Bouchard et al. erwiesen, dass bei identischer Kalorienzufuhr einige Paare nur um die vier Kilogramm, andere hingegen über dreizehn Kilogramm an Gewicht zulegten. (Vgl. Bouchard et al. 1990) In der sogenannten Obesity Gene Map, einer ständig aktualisierten Datenbank, sind inzwischen über mehrere hundert Genvarianten zusammengetragen, die den Phänotyp der Fettleibigkeit auf molekularer Ebene fortlaufend weiter aufschlüsseln. (Vgl. Bogardus/Swinburn 2017) Aufschlussreich sind auch die Folgeuntersuchungen zu ehemaligen TeilnehmerInnen des international erfolgreichen Serienformats The Biggest Loser. Sechs Jahre nach dem Serienende verzeichnete ein Großteil trotz beibehaltener gesunder Ernährungs- und sportiver Lebensweise wieder einen deutlichen Gewichtszuwachs, da sich der Stoffwechsel auf die veränderte energetische Situation adaptiert hatte. (Vgl. Fothergill et al. 2016)
Diese willkürlich gewählten Studien können lediglich beispielhaft dafür stehen, dass Dickleibigkeit ätiologisch als ein hochkomplexes und immer noch nicht restlos aufgeklärtes Zusammenspiel verschiedener Faktoren gedacht werden muss, die sich auf Stoffwechselwege, Energiehaushalt, Appetitregulation und Gen-Umwelt-Interaktion auswirken. Für einen hieraus ableitbaren Subjektentwurf hieße das jedoch, dicke Menschen beispielsweise nicht als unkontrollierte Fresser abzuwerten, sondern als Subjekte, denen ihre Umwelt weit mehr an Kontrolle und Selbstdisziplin abverlangt als dem ‚normalgewichtigen‘ Durchschnitt.
Ebenfalls einen Weg, Fettleibigkeit anders zu denken, gehen unter anderem Psychiatrie und Psychoanalyse. Wenn Aronofsky, wie oben beschrieben, die unkontrollierten Fressattacken seiner Hauptfigur Charlie als Reaktion auf zutiefst schmerzliche Erfahrungen zurückführt, so bedient er ein Paradigma der Psychoanalyse, Symptomen – so dysfunktional sie auch erscheinen mögen – durchaus eine (unbewusste) Funktion zuzuschreiben, die sie für den Betroffenen erfüllt. Während The Whale allerdings in der besagten Opfer-Mitleidsdramaturgie stecken bleibt, entfaltete die britische Psychoanalytikerin Susie Orbach bereits mit ihrem 1978 erschienen Buch Fat is a feminist issue eine geradezu gegenläufige Perspektive. Orbachs auf Fälle weiblicher Esssucht gerichtete Überlegungen beschreiben das Dicksein als eine unbewusste Strategie, sich geschlechtsstereotypen Anforderungen zu entziehen. Statt als Signatur von Ohnmacht und Kontrollverlust gerät Fettleibigkeit dieser Lesart nach zu einem Ausdruck der Gegenwehr.
4. Ausblick oder: nach der Scham ist vor der Scham?
In den letzten Monaten scheint sich der Diskurs über Fettleibigkeit zu ändern. Im Januar 2022 erfolgte die europäische Zulassung von Wegovy, einem Semaglutid des dänischen Konzerns Novo Nordisk. Seit Ende 2023 ist das als ‚Abnehmspritze‘ beworbene Präparat, das als GLP-1-Rezeptoragonist wirkt und dadurch unter anderem das Hungergefühl reduziert, auch in der Schweiz erhältlich. Das Versprechen, das von Novo Nordisk-Medikamenten wie Wegovy oder dem bekannteren, bislang allerdings nur als Anti-Diabetikum zugelassenen Semaglutid Ozempic ausgeht, ist kein Geringes: In zahlreichen Werbeclips, die unter anderem auch über den YouTube-Kanal des Herstellers abgerufen werden können, wirbt Novo Nordisk mit Slogans wie „Truth about Weight“ oder „Driving change in obesity“. Die Clips setzen dabeiMenschen verschiedenen Geschlechts, Alters und ethnischer Zugehörigkeit mit unterschiedlichen Lebens- und Rollenentwürfen in ihrem jeweiligen Kampf gegen Übergewicht in Szene. Entfaltet wird ein Bild, das, erkennbar orientiert an den Erkenntnissen der modernen Adipositas-Forschung, chronisch Fettleibige als hochdisziplinierte Menschen mit großer Leistungsbereitschaft zeichnet, die täglich gegen eine obesogene Umwelt und ihre eigene Biologie anarbeiten müssen. Indem die adressierten Adipositas-Formen als ein vom Einzelnen ohne ärztliche Hilfe kaum zu beeinflussendes Krankheitsbild definiert werden, für das noch kein hinreichendes öffentliches Bewusstsein besteht, bemühen sich die Werbevideos vordergründig um eine Entstigmatisierung. In einem mit „Time for a new approach“ betitelten Clip zum World Obesity Day 2022 etwa, der eine junge schwarze Frau durch ihren Alltag begleitet, spielen die von ihr erfahrenen und auf ihren Körper bezogenen Aburteilungen – in Form von abwertenden Blicken, in öffentlichen Räumen direkt ausgesprochenen oder auf Social-Media geposteten Beleidigungen – eine zentrale Rolle. (Vgl. Novo Nordisk 2022) Was die Novo-Nordisk-Werbekampagne damit in Aussicht stellt, ist neben dem Ausweg aus den körperlichen Krankheitsbelastungen zugleich ein Ausweg aus der Körperscham, das Ende eines fettbezogenen Bodyshamings.
Entsprechend ist der ausgebrochene Hype um die Semaglutide enorm. Die Nachfrage nach den verschreibungspflichtigen Medikamenten war zwischenzeitlich so groß, dass Novo Nordisk für Ozempic und Wegovy 2024 Lieferengpässe vermelden musste. Doch das anvisierte Ende der Scham scheint nicht in Sicht. Stattdessen koppelt sich nun an deutlich sichtbare Abnehmerfolge von (ehemals) Adipösen erneut ein Stigma der Schwäche. Namen wie Ozempic geraten zu einer Signatur dafür, es nicht aus eigener Kraft geschafft und den ‚bequemen‘, medikamentösen Weg gewählt zu haben. Erst im Herbst 2024 dementierte die US-amerikanische Sängerin Lizzo, Ikone der Bodypositivity-Bewegung, die Einnahme eines fettreduzierenden Medikaments, nachdem ihr Mitte des Jahres 2024 erkennbar gewichtsreduzierter Körper mit Ozempic in Verbindung gebracht wurde. Dass Lizzo ihren Abnehmprozess zudem vermehrt durch Aufnahmen begleitete, die sie auf TikTok oder Instagram beim schweißtreibenden Work-Out zeigten, ist, ähnlich der ‚Harte-Arbeit-Rhetorik‘ von Ricarda Lang, auch als Versuch anzusehen, einem neuen schambehafteten Bild zu begegnen, in dem ein altes Vorurteil lediglich wiederzukehren scheint.
Die (Be)Deutung von Fettleibigkeit in der Gegenwartskultur wirft noch viele Fragen auf. Die hier vorgenommenen Ausführungen sind zugegebenermaßen allein assoziativ zusammengestellt, überdies auf einen rein westlichen Kontext bezogen und provozieren bei alledem möglicherweise mit ihrem Einstieg über Ricarda Lang einen Gender-Bias. Das Beschriebene darf daher lediglich als ein im gegebenen Rahmen bewusst oberflächlich gehaltener Versuch angesehen werden, für eine eingehende Diskussion und systematische Aufarbeitung des Themas zu werben. Trotz einer starken kulturwissenschaftlichen Adipositas-Forschung scheinen die letzten Jahrzehnte als Untersuchungsfeld, insbesondere für den deutschsprachigen Raum, erstaunlich unterrepräsentiert. Dabei bewegen wir uns gerade in einem Prozess, in dem historisch und kulturell bedingte Deutungsmuster neue Rahmungen erfahren, während sich unser medizinisches Wissen beständig verändert und erweitert. Dies wirft Fragen nach den Modellen auf, mit denen der fette Körper (wissenschaftlich) konzipiert ist, Fragen nach einem möglichen Wandel oder der Konstanz von (populären) Zuschreibungen, nach den Orten, an denen diese auftauchen, und der Weise, wie sie formuliert sind. Die fetten Jahre – sie sind bestimmt nicht vorbei. Wie wir uns jedoch als Gesellschaft dazu verhalten, kann von einer Reflexion unserer Vorstellungen und unseres Fett-Wissens profitieren.
Auswahlbibliographie:
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Fothergill, Erin et al.: Persistent metabolic adaption 6 years after The Biggest Loser competition. In: Obesity 24/8 (2016), S. 1612–1619.
Frommeld, Debora L.: Eine Grammatik des richtigen Gewichts. Der Body-Mass-Index (BMI) als biopolitisches Instrument. In: Fangerau, Heiner/Polianski, Igor J. (Hgg.): Medizin im Spiegel ihrer Geschichte, Theorie und Ethik. Schlüsselthemen für ein junges Querschnittsfach, Stuttgart 2012, S. 183–202.
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Wagner, David: Der vergessliche Riese, Hamburg 2021.
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Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen