Die (Un-)Freiheit der Spielenden

Fantasy und Computerspiele: Narratologische Probleme interaktiver Fiktionen

Von Martin JandaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Janda

Wie vermutlich keinem anderen Erzählgenre haftet der Fantasy der Drang und Zwang zum Abenteuer, zum Heldentum, zur Naturverbundenheit, zum Reisen und Erkunden fremder Länder an. Dies ist angesichts überlieferter archaischer Mythen, Sagen und Legenden nicht verwunderlich, die sich in medial aktualisierten Formen einem heutigen Publikum zugänglich machen – man denke nur an Robert Zemeckis Die Legende von Beowulf oder John Boormans Artus-Sagen-Verfilmung Excalibur – und deren Motive und Themen erfolgreich in neue Erzählungen inkorporiert wurden: J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe und Robert E. Howards Conan wurden zu Prototypen der Fantasy in jedweder medialen Ausformung, sei es als Roman, als Film oder auch als Spiel. Als momentan technisierteste Umsetzung des Genres stehen Computerspiele in krassem Widerspruch zur in ihnen dargestellten vor-industriellen (Spiel-)Welt.

Sie müssen allerdings nicht zwangsläufig einem strengen Diktum von Narrativität oder Figurenfokus folgen. Archon, ein Schachspiel mit Action-Elementen, zeigt den Kampf von Gut und Böse implizit, expliziert ihn allerdings nie. Man postiert auf dem Spielfeld die eigene aus illustren Figuren wie Einhörnern, Zauberern und Walküren bestehende Armee auf strategisch wichtigen Punkten, die nötigenfalls von Gegnern befreit werden müssen, um zu gewinnen. Doch diese Art soll hier nicht interessieren, vielmehr soll der Blick auf die narrativen Aspekte dieser Spiele gelegt werden, in denen man die Kontrolle über eine einzelne Figur übernimmt.

Von analog zu digital

Anfang der 1970er Jahre erschien mit Dungeons & Dragons das erste populäre Pen & Paper-Rollenspiel, also kein Computerspiel, sondern ein gesellschaftliches Rollenspiel, das in neuer Auflage auch heute noch erhältlich ist. Die Spieler/innen wählen ihre Held/innen und müssen fortan gegen phantastische Kreaturen kämpfen, um Gold und (magische) Gegenstände zu erbeuten. Durch das Spiel und seine Erzählung führt ein/e Spielleiter/in, der/die auch das Kommando über die Gegnerschar hat. Die Abenteuer der früheren Auflagen ließen die Teilnehmer/innen jedoch noch keine fernen Länder erkunden, sondern lediglich die namengebenden dungeons, also Verliese.

Vereinfacht sah das Prinzip von Dungeons & Dragons dergestalt aus, dass der/die Spielleiter/in die Ausgangssituation der Held/innen erzählt (beispielsweise. „Ein König hat euch beauftragt, den Gegenstand X aus dem Verlies zu bergen“) und die Örtlichkeit beschreibt, wo das Abenteuer beginnt. Daraufhin entscheiden sich die Held/innen, welchen Weg sie einschlagen. Es folgt durch die Spielleitung eine Beschreibung des betretenen Raums. Wieder folgt eine Entscheidung, welcher Weg gegangen wird oder, falls sich Gegner im Raum befinden, ob diese attackiert werden. Wenn sich für einen Angriff ausgesprochen wird, werden anhand von Eigenschaftswerten und Bewaffnung der Spielfiguren die Kämpfe ausgewürfelt. Bis zum Erreichen des Ziels (oder bis zum Tod der Held/innen) bilden Erzählung, Beschreibung, Entscheidung und Würfelspiel einen sich stets wiederholenden Zyklus. Da die Verliese über etliche Abzweigungen verfügen, die Entscheidung über den Weg bei den Spieler/innen liegt und durch das Würfelspiel ein Element des Zufalls eingebaut ist, wird die Erzählung vom heldenhaften Bestehen des Abenteuers so stark individualisiert, dass höchstwahrscheinlich keine zwei Spielgruppen einen im Detail identischen Spielablauf erfahren. Die einzig gewisse Gemeinsamkeit, die zwei Spielgruppen erfahren werden, ist der Beginn und – bei Erfolg – der Abschluss der das Spiel rahmenden Erzählung.

Sowohl dem Bedarf an Fantasy-Erzählungen, in deren Ablauf durch Entscheidungen von Spieler/innen eingegriffen werden konnte, als auch dem Bedarf, diese Erzählungen flexibler zu spielen (immerhin mussten mindestens zwei Spieler/innen sich zum Spiel verabreden, wobei der Reiz im fünfköpfigen Spielen liegt, was das Verabreden nicht gerade erleichtert), entsprang das Konzept der Rollenspielbücher, die in den 1980er Jahren zahlreich verlegt wurden. Interessanterweise entstand jedoch Ende der 1970er Jahre und damit noch vor der massiven Veröffentlichungswelle von Spielbüchern ein sehr ähnliches Konzept jenseits des Verlagswesens und Büchermarkts: Textadventures. Diese sind ebenfalls textbasiert, allerdings nicht in Buchform, sondern als interaktive Fiktion auf einem Computerbildschirm.

Textadventures waren Ende der 1970er Jahre weder die einzige Computerspielgattung, noch war Fantasy das einzige Genre, das von ihnen bedient wurde. Daran hat sich bis heute nichts geändert, bis auf die Tatsache, dass reine Textadventures ohne jegliche grafische Unterstützung weitgehend an Bedeutung verloren haben. Doch gerade mit dieser – angesichts heutiger, sich in grafischer Detailliertheit übertrumpfenden Computerspielen – kurios und altbacken anmutenden Präsentationsform einer Fantasyerzählung lässt sich ein guter Einstieg in narratologische Problemfelder von Computerspielen finden. Werfen wir daher unseren Rechner an und beginnen eine Runde des vermutlich ersten Textadventures überhaupt.

Im Labyrinth der Erzählung

Der Text auf dem Bildschirm besagt, dass mein Ziel ein nahegelegenes Höhlenlabyrinth sei, von dem es heißt, dass darin Magie wirke und wunderbare Wesen hausten. Auch soll mich tapferen Wanderer das Überwinden des Labyrinths mit Ruhm und Reichtum belohnen. Doch ich stehe noch ganz am Anfang meines Abenteuers und damit vor einem kleinen Backsteingebäude. Um mich herum ist nur Wald. Aus dem Haus fließt ein Rinnsal.

So beginnt das von William Crowther und Don Woods programmierte Spiel Adventure (auch bekannt als Colossal Cave Adventure oder Advent). Da Textadventures über keine bildliche Darstellung verfügen, wird die Spielwelt über reine Textausgabe präsentiert und lässt damit eine erste deutliche Ähnlichkeit mit Spielbücher hervortreten. Doch während Spielbücher jeden einzelnen Textabschnitt mit einer Auswahl an Handlungsmöglichkeiten der Spielfigur abschließen, müssen die Spieler/innen in Adventure Ein- oder Zwei-Wort-Kommandos in die Tastatur eingeben, wobei erschwerend hinzukommt, dass das Spiel weder vor Beginn noch in seinem Verlauf Kommandomöglichkeiten nennt. Um es zu meistern, bedarf es folglich eines gewissen kreativen Potenzials der Spieler/innen, um das Handlungsrepertoire ihrer Figur auszuloten – auch wenn zugegebenermaßen zu Beginn mit Befehlen wie „go building“ (um das erwähnte Haus zu betreten) oder „take bottle“ (um eine im Haus gefundene Flasche einzustecken) dieses Potenzial nicht gerade ausgereizt wird.

Allerdings lassen sich noch weitere Unterschiede zwischen beiden Spielformen entdecken. Während beispielsweise im ersten Band der Einsamer Wolf-Reihe von Joe Dever ein Prolog über einige Seiten hinweg gemächlich in die fiktionale Welt einführt und die Spielfigur Lautloser Wolf vorstellt, findet man sich in Adventure in medias res wieder, eben vor besagtem Haus stehend, ohne eine Ahnung, wer oder was die Spielfigur ist und woher sie kommt. Auch beschreibende Textpassagen im Laufe des Spiels sind sehr kurz gehalten, vieles bleibt der Fantasie der Spieler/innen überlassen. Spielbücher verweisen aufgrund ihrer Verlinkungen der einzelnen Textabschnitte bereits auf Strukturen des erst später populär werdenden Internets. Die Einsamer Wolf-Serie lässt sich wegen ihrer elaborierteren Literarizität und Narrativität als spielbarer Fantasy-Roman verstehen. Adventure mit seinem Verzicht auf ausufernde Beschreibungen und dem Trial-and-Error-Prinzip der Kommandoeingabe lässt sich noch deutlich der Programmiertechnik zuordnen: Eine Eingabe soll zu einer nennenswerten, positiven Rückmeldung des Spiels führen (unpassende Befehle führen zur Reklamation, dass er vom Spiel nicht verstanden wurde) und dieses nicht ins Leere laufen lassen (an manchen Stellen antwortet das Spiel sogar nur mit einer leeren Zeile, wenn in eine bestimmte Richtung gegangen werden möchte, sich dort aber eine Leerstelle im Programm befindet).

Ein weiterer, nicht ganz so augenfälliger Unterschied zwischen beiden Spielkonzepten liegt im Machtverhältnis von Spielleiter/in und Spieler/in. Das Spielbuch gibt ein Regelwerk vor, das auf dem Vertrauen fußt, dass es von den Spieler/innen gewissenhaft eingehalten wird: Die Spieler/innen haben sich selbst zu überwachen, sie selbst sind ihre eigenen Spielleiter/innen. Bei Computerspielen hingegen schreibt sich das Regelwerk direkt ins Spiel ein. Die spielleitende Instanz ist auf einer anderen Ebene situiert als die Spieler/innen.

Damit lassen sich für Fantasyspiele jeder Art drei potenziell unterschiedliche Instanzen ausmachen – eine erzählende, eine regeldurchsetzende und eine spielende –, die für das Zustandekommen des Spiels und dessen Erzählung verantwortlich sind. Allerdings gibt die Form des Spiels vor, mit welcher weiteren Instanz die regeldurchsetzende streng verknüpft ist: beim Spielbuch mit der spielenden, beim Computerspiel mit der erzählenden. Doch warum sich so sehr auf Regeln fokussieren, wenn es eigentlich um narratologische Probleme gehen soll?

Die Regeln des Erzählens

Formalismus und Strukturalismus heben mit ihren jeweiligen Unterscheidungen in sujet und fabula bzw. histoire und discours auf ähnliche Weise die Differenz hervor, die sich zwischen dem Inhalt (oder dem ‚was‘) und der Form (oder dem ‚wie‘) einer Erzählung aufspannt. Diese binäre Unterteilung bricht Wolf Schmid (1982: 94ff.) mit seinem differenzierteren, idealgenetischen Modell auf, indem er drei Prozesse aufzeigt, die die von den Sinnen der Rezipient/innen verborgenen narrativen Ebenen einer Erzählung auf eine sinnlich wahrnehmbare narrative Ebene führen.

Die erste und abstrakteste Ebene, „Geschehen“ (einer praktisch unendlichen Anzahl von Elementen wie Figuren und Ereignissen), wird durch Auswahl einer überschaubaren Menge dieser Elemente zur Ebene „Geschichte“ modelliert, die wiederum unter anderem durch die Linearisierung einzelner Segmente auf die Ebene der „Erzählung“ geführt wird. Diese ersten drei Ebenen sind als rein gedankliche Konstrukte zu verstehen, empirisch fassbar wird die Erzählung erst, wenn sie im letzten Prozess kommuniziert und damit auf der Ebene der „Präsentation der Erzählung“ erfahrbar gemacht wird. Die aus dem abstrakten Geschehen abgeleitete, präsentierte Erzählung unterliegt also einer Regelgeleitetheit, um den Rezipient/innen etwas nicht Kommunizierbares kommunizieren zu können. Diese Regelgeleitetheit findet sich deutlich im Genre-Begriff wieder, der sich auf Ensembles von Werken bezieht, die auf bekannte Muster und Normen zurückgreifen.

Bedauerlicherweise beziehen sich diese Erkenntnisse lediglich auf nicht-interaktive und damit ‚prädeterminierte‘ Erzählungen wie Romane oder Spielfilme. Mit interaktiven Fiktionen wie dem Fantasy-Computerspiel kommt ein Faktor hinzu, dem in der Narratologie noch kein rechter Platz zugewiesen werden konnte: den Spieler/innen.  Erneut sei an die Frage erinnert, weshalb man auch ein Auge für die Spielregeln haben sollte, obwohl die Erzählung des Spiels im Vordergrund der Überlegung steht. Denn wie noch zu sehen sein wird, hängt die Erzählung eines Fantasy-Computerspiels nicht unwesentlich von dessen Regeln ab.

Ziehen wir wieder ein konkretes Beispiel heran: das 2002 veröffentlichte The Elder Scrolls III: Morrowind. Hierbei handelt es sich nicht um ein Textadventure, sondern um ein Spiel, das die Spielwelt zentralperspektivisch präsentiert und das wahlweise aus der Ich-Perspektive oder aus einer leicht erhöht hinter der Spielfigur angesiedelten Perspektive zu spielen ist. Von Anfang an wird die Rückkehr eines messianischen Helden prophezeit und impliziert, dass die Spielfigur dieser sagenhafte Held sei. Dieser Held wird dringend benötigt, denn der dämonische Gott Dagoth Ur droht, die titelgebende Insel Morrowind zu unterjochen. Eindrücklich wird der Fantasy-Topos der Erlösung eines Volks von einem bösen Herrn bedient, doch spinnt das Spiel daraus eine erstaunlich komplexe Erzählung. Während dieser spricht man mit Unterhändlern und Anführern diverser Völker und muss verhandeln – aber nur, wenn man stringent spielt.

Die Komplexität des Spiels äußert sich nämlich nicht nur in den Aufgaben, die man für den Fortgang der prophezeiten Erzählung bewältigen muss. Tatsächlich bietet Morrowind einen reichhaltigen Fundus an verschiedenen Aufgaben, die nicht dazu dienen, auf die finale Konfrontation mit dem Bösen hinzuarbeiten: Man kann sich diversen Gilden anschließen und für diese Aufträge ausführen, die nichts mit Dagoth Ur zu tun haben. Man kann ganz nach dem eigenen Geschmack die verschiedenen Regionen und Völker einer ausgesprochen großen, frei begehbaren Welt besuchen und entdecken. Man kann sich ein Haus bauen lassen und die Welt nach Innenausstattung durchforsten. Das Spiel lädt offen zum freien Spiel und damit zur Verweigerung der Erfüllung der Prophezeiung ein. Die Regeln bieten also zwei parallele Interpretationen des Spiels an: Das Spiel als handlungsanleitende Erzählung und das Spiel als Spielplatz. So kann sich Morrowind von der ursprünglich angedachten Erzählung von einem ruhmreichen Helden hin zu einer Erzählung von einem marodierenden Anti-Helden entwickeln. Ob Siegfried oder Hagen von Tronje, ob Beowulf oder Grendel, ob Frodo oder Sméagol: Diese Entscheidung liegt nicht in der Hand des Spiels, sondern in der der Spieler/innen.

Alles hat ein Ende?

Damit tut sich ein eklatantes Problem auf: Wenn die Spieler/innen derartigen Einfluss auf die Erzählung von Morrowind haben, welche Funktion haben sie letztendlich? Denn nach Schmids Modell gehören zur Konstruktion der Erzählung die Auswahl von Ereignissen und Figuren ebenso wie die Linearisierung und Anordnung der ausgewählten Elemente. In der Präsentation der Erzählung, also dem konkreten Spiel, haben hierüber nicht mehr die Programmierer/innen, sondern die Spieler/innen die Hoheit. Daraus ließe sich ganz nach Britta Neitzel (2000: 133f.) schließen, dass die Spieler/innen auch Autor/innen der Erzählung wären – und nach Schmids Modell hätten die Spieler/innen überdies von der narrativen Ebene der Erzählpräsentation auch Einfluss auf die abstraktere narrative Ebene des Geschehens. Damit gehen nicht unwesentliche Implikationen bezüglich der Erzählinstanz einher: Wenn die Erzählinstanz am deutlichsten während der Präsentation der Erzählung hervortritt, dabei aber eine von einem Autor/in eingesetzter Stellvertreter wäre, wie sähe diese von den Spieler/innen konstruierte Erzählinstanz aus?

Versuchen wir diese Frage mittels eines weniger komplexen Beispiels zu beantworten. Das 1986 erschienene Dragon Quest greift ebenfalls auf den Topos des Weltenretters zurück und paart diesen mit dem der Prinzessinnen-Errettung: Der mächtige Dragonlord hat die Prinzessin entführt und droht zudem, das Königreich ins Dunkel zu stürzen. Nachdem man diese kurze Information zu Beginn des Spiels erhalten hat, macht man sich mit der Spielfigur auf den Weg durch eine von oben zweidimensional dargestellte Welt, um Vasallen des Dragonlords zu erschlagen, Gold und Gegenstände zu sammeln, bis man schließlich vor dem Tyrannen selbst steht. Bevor der Kampf beginnt, fragt er, ob man sich ihm anschließen möchte. Nach all den Strapazen und Taten für das Gute, wird die Spielfigur – und mit ihr natürlich auch die Spieler/innen – in Versuchung geführt. Ein Schlag ins Gesicht eines jeden für Recht und Freiheit kämpfenden Menschen! Das Erstaunliche daran ist, dass dieses teuflische Angebot tatsächlich angenommen werden kann. Bejahen die Held/innen die Frage des Schufts, verwandeln sie sich in eben das, was sie anfangs geschworen hatten zu vernichten.

Während also in Morrowind der Fortlauf und damit das Ende der Erzählung der gespielten Figur offen gestaltet, bietet Dragon Quest mehrere in sich geschlossene Enden der Erzählung an, wobei der Ausgang variabel ist: positiv, falls man sich nicht dem Bösen anschließt und dieser bezwungen wird, oder negativ, wenn die Spielfigur zum moralischen Wendehals wird. Damit steht die unendliche Anzahl möglicher Enden von Morrowind in Opposition zur geringen Anzahl in Dragon Quest. Was hat aber die Anzahl der möglichen Enden mit der Erzählung zu tun? Schließlich wurde doch bereits zu Anfang darauf hingewiesen, dass jede interaktive Fiktion eine individuelle und nicht wiederholbare Erzählung ist. Ist es nicht völlig irrelevant, wie viele Enden eine Erzählung hat?

Wer erzählt das Spiel?

Um diese und die bereits bestehenden Fragen zu beantworten, bedarf es einer weiteren Komplexitätsreduktion. Betrachten wir daher Castlevania, das die Szenerie in einer Seitenansicht präsentiert. Es erzählt von Simon Belmont, dessen Familie es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Welt von Dracula zu befreien – Dracula ist freilich Bram Stokers Roman entliehen. Die literarische Figur wird auf ihre magischen Fähigkeiten heruntergebrochen und mit weiteren Zauberkünsten angereichert, um einen möglichst herausfordernden Endgegner zu erhalten. Belmont macht sich in bester Familientradition, einem jungen Abraham van Helsing ähnelnd, auf den Weg, um dem Über-Vampir entgegenzutreten. Er muss sich dabei allerdings zuvor mit seiner verzauberten Peitsche durch Horden von Gespenstern, Höllenhunden und fliegenden Medusenköpfen kämpfen, um schließlich Dracula im höchsten Turm von dessen Schloss zu stellen.

Das Spiel folgt dem Prinzip, bei Erreichen des Ziels ein festes, vorgegebenes Ende zu präsentieren: Ist Dracula erschlagen worden, leitet eine nicht spielbare Sequenz aus dem Spiel, während der das Schloss einstürzt und die Namen der an der Produktion Beteiligten eingeblendet werden. Castlevania hat also lediglich ein einziges Ende, dass den Spieler/innen präsentiert wird. Durch diese einzige mögliche Version des Endes kennt die Erzählinstanz bereits zu Beginn des Spiels das Schluss-Szenario, falls die Spieler/innen alle Gefahren überwinden. Diese Gewissheit ist bei Dragon Quest nicht gegeben, da sich vor dem Endkampf mit dem verführerischen Angebot eine kritische, den Ausgang der Erzählung bedeutsam verändernde Stelle befindet, eine Verzweigung, die zu mehreren möglichen Fortgängen der Erzählung führt. Eugene Dorfman (1969: 5) bezeichnet solche Elemente als Narreme: Knotenpunkte die die Erzählung konstituieren, deren Eliminierung ihre Struktur und Sinnhaftigkeit auflöst und die vom Rest der Erzählung ornamental gerahmt werden. Wenn Castlevania mit einem vorgegebenen Anfang und Ende operiert, haben die Spieler/innen nur auf das Ornament der Erzählung Einfluss, da die Regeln des Spiels keine Narreme anbieten. Auch wenn das Spiel narrativ sein mag, muss dessen Erzählung den Regeln folgen. Aber was ist das erwähnte Ornament, in das die Spieler/innen eingreifen?

Vereinfacht ausgedrückt stellt es die automatisch abgespielten Ereignisse in den einzelnen Spielabschnitten dar: eine am Himmel kreisende Fledermaus, herabstürzende Felsblöcke und dergleichen. Ebenfalls zählen die Handlungen der Spielfigur dazu: Erschlägt Simon die Gespenster oder weicht er aus? Springt er mühelos über Hindernisse oder plagt er sich mit mehreren Versuchen ab? Sucht er neugierig nach versteckten Gegenständen oder läuft er schnurstracks durch die Spielabschnitte? Gerade die Handlungen der Spielfigur lassen das Ornament nicht mehr so irrelevant erscheinen wie es Dorfman darstellt, denn diese lassen sich auf ein zentrales narratives Element des Spiels zurückführen: die Persönlichkeit der Spielfigur, die natürlich von den Spieler/innen bestimmt wird.

Zwar wird die Persönlichkeit der Figur durch das Regelwerk (gegebene Fähigkeiten) als auch durch narrative Elemente (Hintergrundgeschichte der Spielfigur, ihr impliziertes Schicksal et cetera) konturiert, doch ihr Habitus in den spielbaren Sequenzen ist die große Leerstelle in der Erzählung. Die Spieler/innen schreiben also nicht die Erzählung, sondern den Charakter der Figur. Diese Tatsache kann aus diversen Gründen leicht aus den Augen verloren werden: In Morrowind, da die Erzählung des Spiels so verzweigt ist, dass es eher den Anschein hat, man schreibe direkt die Erzählung; und in Castlevania, da die Spielfigur kein nennenswerte Persönlichkeit zu besitzen scheint.

Das Ausfüllen der charakterlichen Leerstelle der Spielfigur führt wiederum dazu, dass das Spiel entsprechend mit neuen Ereignissen reagiert. Das Spiel bleibt trotz Eingriffen der Spieler/innen die erzählende Instanz. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass aufgrund der Eingabe in die Steuergeräte ein partizipativer Erzählakt entsteht, doch ist zu bezweifeln, dass in Bezug auf die Erzählung Spiel und Spieler/innen auf Augenhöhe agieren. Schließlich ist die Erzählung das, was den Figuren widerfährt, ohne dass sie ahnen können, was ihnen weiterhin geschehen wird. Das Spiel weiß zwar ebenfalls nicht, wie die Spieler/innen zu einem Zeitpunkt X agieren werden, aber alle Handlungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen sind im Programmcode bereits hinterlegt. Die Vorstellung, Spieler/innen oder deren Spielfiguren könnten die gespielte Erzählung leiten, basiert offensichtlich auf der Annahme, dass der Programmcode erst durch die Eingaben der Spieler/innen in einem kreativen Akt geschrieben würde. Doch dem Spiel ist jede einzelne, individuell erspielbare Erzählung bereits bekannt, es formuliert sie lediglich im Moment der Eingaben der Spieler/innen aus. Damit ist schließlich auch gesagt, was die Fantasy allgemein so reizvoll macht: Das Miterleben des Schicksal von Held/innen, weniger das Erzählen von den Held/innen. Das Fantasy-Spiel erweitert diesen Aspekt, indem sie den Spieler/innen nicht nur erlauben mitzuerleben, sondern selbst die Held/innen zu machen.

Primärwerke

Adventure (William Crowther & Don Woods)

Archon (Free Fall Associates)

Castlevania (Konami)

Conan (Robert Ervin Howard)

Der Herr der Ringe (John Ronald Reuel Tolkien)

Die Legende von Beowulf (Robert Zemeckis)

Dragon Quest (Chunsoft/Enix)

Dungeons & Dragons (Gary Gygax & Dave Ameson)

Einsamer Wolf (Joe Dever)

Excalibur (John Boorman)

The Elder Scrolls III: Morrowind (Bethesda Softworks)

Sekundärliteratur

Dorfman, Eugene (1969). The Narreme in the Medieval Romance Epic. Toronto: University of Toronto Press.

Neitzel, Britta (2000). Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen. Univ. Dissertation, Bauhaus-Universität Weimar.

Schmid, Wolf (1982). Die narrativen Ebenen ‚Geschehen‘, ‚Geschichte‘, ‚Erzählung‘ und ‚Präsentation der Erzählung‘. In: Wiener slawistischer Almanach, Band 9, S. 83-110.