Die Securitate und die Papierklaviatur
Über den langen Weg der Vergangenheitsbewältigung in Dagmar Dusils neuem Roman „Das Geheimnis der stummen Klänge“
Von Waldemar Fromm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVon den Auswirkungen der Staatsicherheit auf das Leben nach der Wende 1989 erzählen viele Romane. Vergleichbares gilt für die deutschsprachige Literatur aus Rumänien und die Auswirkungen der Securitate auf das Leben der Einzelnen nach der Revolution 1989 nicht. Richard Wagner hat mit Miss Bukarest, 2001 erschienen, einen Roman verfasst, in dem ein ehemaliges Mitglied der Securitate sich in die Fallstricke seiner eigenen Vergangenheit verheddert und ihnen nicht entkommt. Wagner wählte dafür die Form des Kriminalromans. Im Feuilleton wurde diese Entscheidung kritisiert: Die Form sei komplexen Zusammenhängen nicht angemessen und nicht den Problemen, die diese bei der literarischen Darstellung einfordern. Andererseits: Kann man durchschnittlich begabte Mitarbeiter(innen) von Sicherheitsdiensten, die etwas von Überwachung und Gewalt verstehen, in der Regel aber herzlich wenig von Literatur, nicht auch in einer Form darstellen, die mit vorgeformten Mustern arbeitet? Passen die Verbrechen, die im Namen eines Staates begangen wurden, nicht auch in eine Kriminalhandlung samt Aufklärung des Falls?
Ähnlich verhält es sich mit dem neuen Roman Das Geheimnis der stummen Klänge von Dagmar Dusil. Auch Dusil wählt eine Handlung, die kriminalistische Anteile enthält. Betäubung, Entführung, gar Freiheitsberaubung spielen am Schluss eine wesentliche Rolle. Die Form korrespondiert mit den psychischen Bedürfnissen der Hauptfigur. Beide, Figur und Rahmung, treffen sich bei der Verarbeitung des geschehenen Unrechts außerhalb des juristisch erlaubten wieder.
Die ungewollte Tochter der rumänischen Starpianistin Lavinia Vandu, selbst Ergebnis einer Vergewaltigung, wird unmittelbar nach der Geburt von einem Mitarbeiter der Securitate in einer anderen Familie untergebracht, die selbst in den Fall verstrickt ist. Das Kind Clara gelangt so in die Obhut eines Paares, bei dem sich die Securitate sicher ist, die neue Familie würde das Geheimnis der Zugehörigkeit nicht verraten. Als sich das Kind zu einer vielversprechenden Pianistin zu entwickeln beginnt, greift die Securitate erneut ein und verhindert Claras mögliche Karriere. Immer und überall zieht die Securitate die Fäden: Die Securitate übt Druck auf die Jury aus, die über Claras Zukunft als Pianistin entscheidet. Der bösartige Charakter des Systems äußert sich insbesondere darin, dass Clara für den republikflüchtigen Bruder ihrer Ziehmutter bestraft wird, der später im Westen unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt – Sippenhaft und Sippenhaftung, ein beliebtes Machtinstrument in Diktaturen. In der Jury sitzt auch die leibliche Mutter, ohne zu wissen, wen sie auf Weisung des Geheimdienstes ablehnt. Der höchste Punkt der Allmacht der Securitate ist erreicht: Sie spielt mit Menschen wie mit Figuren, die ihre eigene Geschichte nicht mehr erkennen, ihre Identität nicht mehr sehen. Clara wird nach dieser traumatischen Erfahrung Ärztin und spielt nur noch heimlich auf einer Papierklaviatur.
Die Arrangements der Securitate waren nie auf ein Ende hin angelegt. Die Mitarbeiter handeln im Roman so, als ob sie die Wahrheit hinter der falschen Identität für immer kontrollieren können. Bekanntlich bricht diese Idee der totalen Kontrolle mit der Revolution in Rumänien plötzlich zusammen. Der Roman von Dusil nutzt diese Öffnung dafür, die verborgenen Kontrollprozesse des Staatsterrors sichtbar werden zu lassen. Man bemerkt das schon an den Schauplätzen: Von Hermannstadt/Sibiu aus spielt die Handlung u.a. zunächst in den rumänischen Orten Klausenburg/Cluj und Râmnicu Vâlcea und zieht dann immer größere Kreise bis Wien, Bamberg oder Venedig.
Clara erfährt in mehreren Schritten von ihrem Schicksal. Ihr wird von einem Jurymitglied vom Betrug der Securitate an ihrem Talent erzählt, und ihre Ziehmutter berichtet, wer die leibliche Mutter ist. So wird ein Spannungsbogen aufgenommen, den aufzulösen in dieser Form nur der Kriminalroman ermöglicht. Denn die Heldin ist noch nicht am Ziel ihrer Reise angekommen. Nun beginnt zunächst in Claras Kopf der Konflikt mit der Mutter, die Clara die selbstbestimmte Zukunft als Pianistin genommen hat. Sie sinnt auf Rache. Wie kann man sich angesichts des erfahrenen Unrechts selbst ins Recht setzen?
Die Hauptfigur entschließt sich, zur Täterin zu werden. Wie, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Wie bei einem Detektiv, der ein Motiv aufklären soll, erfahren Leserinnen und Leser die Beweggründe der Protagonistin für die Tat:
Sie wurde ein zweites Mal aus ihren gewohnten Lebensbahnen geworfen, ihre Lebensbilder wurden wie Papierschnipsel durcheinandergewirbelt […].
Die Wahrheit ist plötzlich nicht mehr die Wahrheit. Deshalb gilt es, einen Schlussstrich zu ziehen, etwas zum Abschluss zu bringen, sich selbst aus der Vergangenheit wie aus einem brennenden Haus zu retten, auf die Gefahr hin, selbst zu verbrennen, und alles, was ihr bisher lieb war, mitzunehmen und zu verletzen.
Die Heldin stellt einen Zustand der inneren Gerechtigkeit wieder her, und die Leserschaft ist aufgefordert, dem Weg zwischen Täuschung und Realität, zwischen Lüge und Wahrheit zu folgen und einzusehen, dass die Klarheit der Lösung nur eine romanhafte sein kann.
Die Auflösung des Konflikts enthält kaum noch eine Distanz zwischen Erzählstimme und Figur. Man sollte die abschließende Fantasie der Selbstermächtigung deshalb lesen, wie Ernst Bloch Tagträume im Prinzip Hoffnung verstanden hat, als Widerstand gegen das „schlecht Vorhandene“, als ein Tagtraum, der das Ich stärkt und der in eine freie Zukunft weist: „Es fühlt sich gut an, mit dem Schicksal nicht zu hadern“, heißt es im letzten Gedankengang des Romans, „ich nenne es meine Schneeträume, so weiß, so sehr herbeigesehnt, so vergänglich.“ Die Vergangenheitsbewältigung ist eine zweifache: eine innere der Erzählstimme und eine äußere auf dem Papier. Der Roman von Dagmar Dusil lässt die Leserinnen und Leser an der Antizipation der Bewältigung der Securitate-Vergangenheit teilnehmen, ohne sie schon vorwegnehmen zu können.
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