Enges Rennen bei den Oscars 2018

Eine nostalgische Fantasy-Romanze und ein schwarzhumoriges Rachedrama als Favoriten auf den Hauptpreis

Von Dominik RoseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Rose

Zwei Filme, die sich den Problemen der US-amerikanischen Gegenwart auf ganz unterschiedliche Weise nähern, könnten bei der bevorstehenden Oscarverleihung, die in Los Angeles am Sonntag, den 4. März, stattfinden wird, den Sieg in der Hauptkategorie des „Besten Films“ unter sich ausmachen: Shape of Water, ein in den frühen 1960er Jahren spielender, märchenhafter Liebesfilm über eine stumme Putzfrau, die sich in eine amphibische Kreatur verliebt, die in Zeiten des Kalten Kriegs in einem Geheimlabor gefangen gehalten wird, geht mit 13 Nominierungen ins Rennen. Gleichermaßen Hommage an das alte Hollywoodkino der schaurigen Monsterfilme und knallbunten Musicals wie auch eine emphatische Parteinahme für gesellschaftliche Außenseiter, könnte der Film des mexikanischen Regisseurs Guillermo del Toro den Nerv der mehrheitlich politisch liberal eingestellten Academy treffen. Die als gute Indikatoren für die Oscar-Chancen geltenden Preise der Produzenten- und Regie-Gilde hat Shape of Water bereits bekommen. Doch so klar, wie es vielleicht scheint, ist das Oscar-Rennen dieses Jahr nicht, denn bei den Golden Globes und den erfahrungsgemäß als verlässliches Stimmungsbarometer geltenden Preisen der Screen Actors Guild war jeweils der für sieben Oscars nominierte Three Billboards outside Ebbing, Missouri siegreich. Im Gegensatz zum eher hoffnungsvoll stimmenden Märchen del Toros liefert der irische Regisseur Martin McDonagh eine schonungslose, mit tiefschwarzem Humor versetzte Auseinandersetzung mit einer von Gewalt und Rassismus geprägten Kleinstadt-Gesellschaft im Mittleren Westen, was vielen Oscar-Juroren als besonders zeitgemäßes filmisches Statement erscheinen könnte. Allerdings begünstigt das seit 2009 für die Hauptkategorie eingeführte Preferential Voting-System, bei dem die nominierten Filme auf den Stimmzetteln nach Präferenz vom ersten bis letzten Platz eingeordnet werden müssen, eher die Konsens-Kandidaten, da nicht nur erste Plätze im Voting zählen, sondern überhaupt vordere Platzierungen – worunter eher polarisierende Filme wie mutmaßlich auch Three Billboards leiden. Zudem wurde Regisseur McDonagh überraschender Weise nicht als „bester Regisseur“ nominiert, eine Kategorie, die Guillermo del Toro vermutlich gewinnen wird. Frances McDormand zumindest dürfte für ihre Rolle einer zornerfüllten Frau, die nach dem Mord an ihrer Tochter einen Kleinkrieg mit dem örtlichen Sheriffbüro anzettelt, den Oscar als „Beste Hauptdarstellerin“ sicher haben.

Viele Experten haben auch den satirischen Horror-Thriller Get out über einen jungen Afroamerikaner, der in die Fänge einer vorgeblich liberalen weißen Familie gerät, und das Coming-of-Age-Porträt Lady Bird auf dem Zettel – zumal beide auf ihre Art hochaktuell sind. Get out ist ein ebenso bizarrer wie treffender Kommentar zum unterschwelligen Rassismus der weißen Oberschicht. Der Film könnte davon profitieren, dass die Academy sich seit 2016 gezielt für neue Mitglieder geöffnet hat, um den Altersschnitt zu senken und mehr kulturelle Diversität zu ermöglichen. Ob diese Veränderung jedoch derart durchschlägt, dass nun auch provokante Genrefilme wie Get out eine Chance haben, ist dennoch fraglich – ein Preis für das beste „Original-Drehbuch“ könnte aber durchaus herausspringen. Was bedeuten würde, dass Greta Gerwig, als Regisseurin und Autorin von Lady Bird nominiert, im Jahr des „MeToo“-Skandals und der breiten Debatte über die Diskrimierung von Frauen nicht nur in der Filmbranche, leer ausgehen könnte. Bei den Golden Globes wurde Gerwigs Debütfilm über die Nöte eines weiblichen Teenagers als „Beste Komödie“ ausgezeichnet, jedoch fehlen ihm – ebenso wie Get out – Nominierungen in den technischen Sparten wie etwa der des „besten Schnitts“. Wer in dieser Kategorie nicht nominiert wird, hat der Erfahrung nach kaum Chancen auf den Hauptpreis. Was wiederum Christopher Nolans Drama über den Zweiten Weltkrieg Dunkirk ins Rennen bringt, der gerade in den technischen Sparten viele Nominierungen erhalten hat – allerdings fehlen ihm Nennungen in den Schauspielkategorien sowie für sein Drehbuch. Da Schauspieler jedoch die größte Mitgliedergruppe in der Academy darstellen, werden auch vorwiegend klassische Schauspielerfilme prämiert. Leer ausgehen dürfte Dunkirk dennoch nicht: Oscars für den besten „Schnitt“, „Ton“ und „Ton-Schnitt“ sind wahrscheinlich, möglicherweise wird auch die brillante Kameraarbeit von Hoyte van Hoytema ausgezeichnet – wenn die Academy nicht die Chance ergreifen sollte, nach insgesamt 13 erfolglosen Nominierungen endlich Kamera-Legende Roger Deakins für Blade Runner 2049 vom Makel der Oscarlosigkeit zu befreien. Das Sequel zum Science-Fiction-Klassiker von Ridley Scott ist zwar trotz starker Kritiken nicht als „bester Film“ nominiert, könnte neben dem Kamerapreis aber auch für seine „visuellen Effekte“ prämiert werden.

Die vor einigen Jahren beschlossene Ausweitung der Kategorie des „besten Films“ von ursprünglich fünf auf inzwischen bis zu maximal zehn Filme (die genaue Zahl ist abhängig von einem prozentualen Mindestanteil, den ein Film für eine Nominierung erhalten muss), hat bewirkt, dass die Mehrzahl an nominierten Filmen keine nennenswerten Aussichten auf den Hauptpreis hat, sich aber immerhin Chancen auf Oscars in den Darsteller- oder Techniksparten ausrechnen kann. So darf der britische Kriegsfilm Darkest Hour auf Oscars für seinen Hauptdarsteller Gary Oldman in der Rolle des Ex-Premiers Winston Churchill ebenso hoffen wie auf eine Auszeichnung für das beste „Make-up“, das wahrlich ganze Arbeit geleistet hat, um Oldman dem historischen Vorbild auch optisch anzunähern. Phantom Thread, Paul Thomas Andersons abgründiges Liebesdrama über einen Modedschöpfer, der sich im London der 1950er Jahre in seine Muße verliebt, hätte neben dem – naheliegenden – Preis für seine „Kostüme“ auch einen Oscar für die brillante Musik von Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood verdient, aber der geht wohl eher an den Shape of Water-Komponisten Alexandre Desplat für seinen sentimental-verträumten Score. Für vier Oscars nominiert ist das romantische Coming-of-Age-Drama Call me by your name des italienischen Regisseurs Luca Guadagnino, das sich seit seiner Premiere auf dem Sundance-Festval zu einem großen Kritikerhit entwickelt hat. Erzählt wird die Geschichte des Heranwachsenden Elio, der sich im Italien der frühen 1980er Jahre in den Geschäftspartner seines Vaters verliebt. Timothee Chalamet wird zwar trotz einiger Kritikerpreise als bester Hauptdarsteller wohl das Nachsehen gegenüber Gary Oldman haben, dafür dürfte Regie-Altmeister James Ivory für seine „Drehbuch-Adaption“ seinen ersten Oscar gewinnen. Das Journalisten-Drama The Post von Steven Spielberg, das die Ereignisse rund um die Veröffentlichung der „Pentagon-Papiere“ Anfang der 1970er Jahre in den USA aufrollt, dürfte – zumal lediglich für zwei Oscars nominiert – hingegen leer ausgehen. 

Während man in den beiden Hauptrollen-Kategorien besser nicht gegen Frances McDormand und Gary Oldman wetten sollte, herrscht bei den Nebenrollen durchaus noch Spannung. Sam Rockwell könnte für seine Rolle als tumber, rassistischer Cop in Three Billboards prämiert werden, gerade weil der Film hoch gehandelt wird, allerdings ist auch Willem Dafoe – bislang trotz eindrucksvoller Karriere noch nie mit einem Oscar ausgezeichnet – noch aussichtsreich im Rennen. Im neorealistisch geprägten Indie-Hit The Florida Project spielt er einen Motelmanager, der sich mit seinen chaotischen Gästen herumschlagen muss. Den Preis für die „beste Nebendarstellerin“ machen wohl Laurie Metcalf als gestresste Mutter einer pubertierenden Tochter in Lady Bird und Allison Janney im Biopic I, Tonya unter sich aus. Allison Janney, ebenso wie Metcalf eine seit vielen Jahren populäre Theater- und TV-Darstellerin in den USA, könnte dabei die Nase vorn haben, denn ihre Rolle als erbarmungslose Mutter der ehemaligen Eiskunstläuferin Tonya Harding ist eine jener expressiv angelegten Bösewicht-Figuren, für die die Academy traditionell eine Schwäche hat. Gleich zwei Preise könnte der von Pixar produzierte Animationsfilm Coco bekommen. Der Film über einen mexikanischen Schuhputzer-Jungen, der sich auf einen Talentwettbewerb für Musiker vorbereitet und dabei gegen einen alten Familienfluch anspielt, geht als Favorit für den „besten Animationsfilm“ ins Rennen und könnte darüber hinaus auch für seinen Filmsong Remember me ausgezeichnet werden – sofern sich die Academy nicht für den pompös-poppigen Beitrag This is me aus dem Kassenerfolg The Greatest Showman entscheidet.

Trotz der Ausbootung von Fatih Akin sehr prominent besetzt ist in diesem Jahr das Feld des „besten fremdsprachigen Films“. Neben dem Cannes-Gewinner The Square aus Schweden und dem ungarischen Berlinale-Sieger von 2017, On Body and Soul, sind zudem Una mujer fantástica, der chilenische Kritikererfolg über die Liebe einer Transgender-Frau, sowie der bereits mehrfach prämierte russische Beitrag Loveless über einen von seinen Eltern vernachlässigten Jungen nominiert. Komplettiert wird die Kategorie vom libanesischen Film The Insult. Viele Experten sehen zwar den bereits mit der Goldenen Palme und dem Europäischen Filmpreis prämierten The Square in der Favoritenrolle, allerdings könnte die Mediensatire gegen das chilenische Porträt einer kämpferischen Transgender-Frau gerade in Zeiten der kontroversen „MeToo“-Debatten das Nachsehen haben – Una mujer fantástica wirkt als künstlerisches Statement einfach relevanter. Ebenfalls eine starke Frau und darüber hinaus eine Ikone der europäischen Filmkunst könnte schließlich in der Sparte des besten „Dokumentarfilms“ auf das Podium gerufen werden: Der französische Streetart-Künstler JR setzt der französischen Filmemacherin Agnès Varda mit seiner Doku Visages Villages ein Denkmal. Die Aussicht auf einen emotionalen Standing Ovations-Moment könnte die sentimentalen Juroren beeinflussen. Die härteste Konkurrenz  kommt wohl von der Netflix-Produktion Ikarus, die sich mit dem russischen Staatsdoping auseinandersetzt und dabei auf Interviews mit dem ehemaligen Chef des russischen Anti-Doping-Programms, dem in die USA geflohenen Grigori Rodtschenkow, zurückgreift. Da die Wahlperiode der Oscar-Juroren in diesem Jahr mit den Olympischen Winterspielen zusammenfällt, ist die Doping-Debatte natürlich besonders aktuell.

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