Poetologische Einschlüsse

In „Diskrete Dissonanzen“ legt Georges Felten Texte des literarischen Realismus unters Mikroskop

Von Hendrik AchenbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hendrik Achenbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Georges Feltens umfangreiche und anspruchsvolle Studie zum Verhältnis von Poesie und Prosa im deutschsprachigen Realismus richtet sich eindeutig an ein fachwissenschaftliches Publikum. Sie hat zwar Texte von Autoren zum Gegenstand, die sich bis heute großer Bekanntheit, wenn nicht Beliebtheit erfreuen (unter anderem Theodor Storm, Wilhelm Busch und Theodor Fontane), wird den verbliebenen Fans dieser Schriftsteller und ihrer Texte aber keine Freude bereiten. Das liegt nicht nur daran, dass die Untersuchung zu komplexen Formulierungen neigt, die kein ausgesprochenes Lesevergnügen aufkommen lassen. Grund ist vor allem, dass Felten sein Untersuchungskorpus aus einer Perspektive betrachtet, die mit dem, wofür diese Texte noch heute geschätzt werden, notwendigerweise nur wenig zu tun hat — sei es der feinsinnige Witz in den Versen Wilhelm Buschs oder die meisterhaften Figurenzeichnungen Theodor Fontanes.

Den Autoren des deutschsprachigen Realismus ging es bekanntlich nicht darum, in ihren Texten eine detailgetreue Abbildung der Wirklichkeit zu erreichen, also Beschreibungen der zeitgenössischen gesellschaftlichen Zustände zu liefern, welche man heute im allgemeinen Sprachgebrauch als ‚realistisch‘ bezeichnen würde. Stattdessen war „die ideale Verklärung des Realen“ (R. Prutz) das Ziel. Den Lesern sollte in den Texten eine idealisierte Lebenswirklichkeit begegnen, die zwar noch als die ihre erkennbar war, aber alles abgestreift hatte, was an ihr unerwünscht erschien und stattdessen einen „Schein von Authentizität, Transparenz und Ordnung“ (G. Plumpe) generierte.

Dieses Prinzip galt insbesondere für erzählende Prosatexte, wurde also vornehmlich auf Novellen oder Romane angewendet. Unter Verweis auf den Begriff des poetischen Realismus, der für den geschilderten Verklärungseffekt steht, hebt Felten jedoch hervor, dass das Begriffspaar von Poesie und Prosa in der „Selbstwahrnehmung“ der Programmatiker des deutschsprachigen Realismus eine wichtige Rolle spielte. Daraus leitet er eine These ab, die aus drei Teilen besteht und sich wie folgt zusammenfassen lässt.

Die sich zunehmend modernisierende, prosaische Lebenswelt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzeugte ein „Bewusstsein um die Unzeitgemäßheit metrisch gebundener Rede“ — in anderen Worten: Poesie wurde nicht mehr als eine angemessene Form empfunden, um den literarischen Gegenentwurf zu dieser Lebenswelt zu gestalten. Da man sich aber im Gegenzug mit einer allzu versachlichten Prosa auch nicht arrangieren wollte, versuchen die Erzähltexte des Realismus, „poetische Funken“ zu schlagen, um eine verklärte, poetisierte literarische Wirklichkeit darstellen zu können. Dieses Programm wird in den untersuchten Texten aber durch kaum wahrnehmbare, poetologische Einschlüsse unterlaufen, die sich der Prosa zuwenden. Bei diesen handelt es sich um die im Titel der Untersuchung als ‚diskrete Dissonanzen‘ bezeichneten Textinhalte bzw. -eigenschaften, die sich an „marginalen Stellen“ aufspüren lassen, so zum Beispiel in den „Rahmengeschichten […] oder über scheinbar beiläufig eingestreute Details.“  

Mit dieser These im Gepäck tritt Felten eine Reise durch die Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, beginnend mit Theodor Storms Novelle Immensee, gefolgt von Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich und Wilhelm Buschs Bildergeschichte Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter. Gottfried Kellers Novelle Die Versuchung des Pescara ist das vierte Kapitel gewidmet, bevor die Untersuchung abschließend Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel in den Blick nimmt. Damit sind zunächst einmal nur Erzähltexte genannt, die im Fokus der Untersuchung stehen. Felten setzt diese auch mit weiteren Texten der genannten sowie anderer Autoren in Beziehung, bei denen es sich zum Teil auch um Gedichte handelt.

Im Einleitungskapitel verspricht Felten, dass er die Texte seines Untersuchungskorpus einem close reading unterziehen werde. Alternativ spricht er, wenn auch in modalisierenden Anführungszeichen, von „Mikrolektüren“. Die Art und Weise, wie Felten dieses Versprechen einlöst, wird beiden Bezeichnungen zweifellos mehr als gerecht. Seine Lektüre der Schlussszene von Meyers Renaissancenovelle Die Versuchung des Pescara etwa arbeitet heraus, wie das letzte Wort des Textes, das den toten Pescara als „Schnitter“ bezeichnet, eine frühere Textpassage aufruft, in der es um eine von Pescaras Frau Victoria geschriebene Cantilene, also um ein gesungenes Gedicht geht. Schopenhauer ins Feld führend zeigt er anschließend auf, wie sich Pescara sowohl intrafiktional als auch in den Augen der Leser in ein Kunstwerk verwandelt und weitet diesen Befund anhand der Fokalisierung der Szene von der Figur Pescara auf die Rezeptionsebene aus.     

Einfacher nachzuzeichnen, aber nicht minder überzeugend sind Feltens Ausführungen zu einer Szene in Buschs Bildergeschichte Balduin Bählamm, die den glücklosen Dichter von einer Kuh überrascht zeigt, welche zum Fenster hereinschaut, einen Blumentopf zerbricht und dafür sorgt, dass Wasser strichartig über die Seiten des Poesiealbums läuft. Hier zeige sich, so Felten, der „poetologische[] Hintersinn“ des Textes, denn es werde nicht nur „die Blume als topische Stellvertreterin der Poesie über den Haufen geworfen“, sondern auch eine „epigonal empfindsame Lyrikkonzeption […] unmissverständlich durchgestrichen.“

In der literaturwissenschaftlichen Forschung haben begründete Annahmen ihre Berechtigung und einen potenziell erkenntnisfördernden Wert. Solche Annahmen haben nichts mit Spekulation zu tun, denn sie können zum einen tragfähige Zugänge zum literarischen Text schaffen und zum anderen von der Fachwissenschaft in verwandten Kontexten aufgenommen und weitergeführt werden. Ob sie dann belegt oder falsifiziert werden, ist zweitrangig, denn ein Erkenntnisgewinn stellt sich dabei auf alle Fälle ein. Ein gelungenes Beispiel dafür findet sich im Kapitel zu Meyers Die Versuchung des Pescara. Felten führt hier aus, dass die Figur Morone in der Novelle „mehrfach ausdrücklich in die Nähe des Wahnsinns gerückt [wird]“ und stellt Überlegungen dazu an, ob Meyer eine einschlägige Studie des zeitgenössischen Pathologen Jean-Martin Charcot gekannt haben könnte. Dies, so Felten, lasse sich „heute nicht mehr zweifelsfrei nachweisen“, sei aber „[d]enkbar“. Diese Möglichkeit wird dann im Anmerkungsapparat ausführlich aufgezeigt (damit ist eine valide Anschlussmöglichkeit für die Forschung geschaffen), bevor sie weitere Ausführungen im Haupttext nach sich zieht. Auf diese Weise ist ein entsprechender Zugang zum Primärtext entstanden. Ein solches Vorgehen ist dem wissenschaftlichen Diskurs über Literatur dienlich und angemessen.

Deutlich geringeren Wert jedoch haben bedeutungsschwangere, wenig begründete Hinweise, die mit Konstruktionen wie ‚kaum zufällig‘ oder ‚nicht von ungefähr‘ operieren oder einem Text bescheinigen, dass er ‚augenzwinkernd‘ auf etwas verweise. Zur Weiterverfolgung durch die Forschung dürften diese ebenso wenig anregen, wie sie die Argumentation Feltens zu stützen vermögen. Solche Stellen finden sich in der Studie entschieden zu oft, obwohl dazu gar keine Veranlassung besteht. Ihnen gegenüber stehen nämlich zahlreiche scharfsinnige und überzeugend argumentierende Beobachtungen, die sich sowohl auf tragfähige intertextuelle Beziehungen als auch überraschende historische Kontexte stützen. Etwas weniger wäre hier mehr gewesen.

Abschließend sollen zwei Aspekte zumindest kurz gewürdigt werden, die ebenfalls zum Kern des Untersuchungsansatzes gehören. Im zweiten Kapitel, welches unter anderem der Erstfassung von Kellers Roman Der grüne Heinrich gewidmet ist, stellt Felten die Rede von der „Unförmlichkeit“ des Textes aus Kellers Vorwort in den Zusammenhang des „zeitgenössischen Arabesken- und Groteskendiskurses“. Felten gebraucht beide Begriffe in der Bedeutung, die sie im Kontext der bildenden Kunst haben. Ihre Anwendung auf Meyers Roman stützt sich auf die Annahme, dass die kunstvollen Rankenornamente der Arabeske und die detaillierten, von mythologischen Wesen und Menschen überlaufenen Grotesken in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen wie Rahmen- und Binnenteil des Romans; letzterer ist in diesem Sinne ‚unförmlich‘. Feltens Ausführungen zu dieser Annahme sind auf 81 Seiten im doppelten Wortsinne erschöpfend ausgeführt. Die Untersuchung kehrt dann im nächsten Kapitel, in dem es um Buschs Balduin Bählamm geht, merklich zu größerer Ökonomie der Darstellung zurück.

Der zweite Aspekt wird im ersten Kapitel anhand einer Gegenüberstellung von zwei Gedichten entwickelt (Charles Baudelaires À une passante und Storms Begegnung). In beiden Texten erkennt Felten „Figurationen eines deuil du vers“. Er verwendet diesen Begriff, der auf die Literaturwissenschaftlerin Catriona Seth zurückgeht, um die „Trauer um den Vers“ zu beschreiben, welche die Texte des deutschsprachigen Realismus tragen, um den programmatischen Überzeugungen ihrer Autoren gerecht zu werden.        

Mit Diskrete Dissonanzen hat Georges Felten ohne Zweifel eine Untersuchung vorgelegt, die dazu geeignet ist, die fachwissenschaftliche Sicht auf den Zeitabschnitt des deutschsprachigen Realismus zu erweitern und zu komplementären Fragestellungen anregt. Seinen akribischen, ja hartnäckigen Lektüren wird kaum einer der poetologischen Einschlüsse entgangen sein, die sich in den Texten seines Untersuchungskorpus verbergen. Seine zentrale und ausführlich begründete These weist das Auftreten dieser kaum wahrnehmbaren, ‚diskreten Dissonanzen‘ als Eigenschaft aus, die typisch für die Literatur des deutschsprachigen Realismus ist – der sich zunehmend modernisierenden Realität des 19. Jahrhunderts folgend. Felten selbst erwähnt aber eingangs in eher beiläufiger Manier, dass die „Poesie/Prosa-Frage“ in der jüngeren Forschung auch über den Zeitabschnitt des literarischen Realismus hinaus behandelt wurde. Ob es sich bei dem Auftreten dieser Dissonanzen also tatsächlich um ein Phänomen handelt, dass der Realismus exklusiv für sich reklamieren kann oder vielleicht doch um ein genuines Merkmal der literarischen Textproduktion, ist also nicht entschieden. Es könnte sich deshalb lohnen, auch in den Texten anderer Zeitabschnitte der Literaturgeschichte auf die Suche nach poetologischen Einschlüssen zu gehen.

Titelbild

Georges Felten: Diskrete Dissonanzen. Poesie und Prosa im deutschsprachigen Realismus 1850–1900.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
564 Seiten , 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835351912

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