Eine Insel, zwei Männer – eine besondere Begegnung

Mit „Ein klarer Tag“ hat Carys Davies einen eigenwilligen schottischen Historienroman vorgelegt

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt diese Bücher, über die man beim Erstkontakt nichts weiß, Autor oder Autorin sind einem nicht bekannt und trotzdem ist da etwas. Vielleicht sind es die beinahe schon hymnischen Kürzesturteile auf dem Umschlag oder die knappe Zusammenfassung des Inhaltes, eventuell auch die Covergestaltung. Wie auch immer, Ein klarer Tag, der in Edinburgh lebenden Waliserin Carys Davies hat mich aus welchem Grund auch immer erreicht. Was für ein Glück! Denn dieser schmale und sehr großzügig gesetzte Roman hat zwei Hauptfiguren, die man – ja das klingt abgedroschen, doch es ist eben so – so schnell nicht wieder vergessen wird, zumal die Autorin sie in einen ungewöhnlichen historischen Rahmen setzt. Der eine Protagonist ist John Ferguson, ein Pfarrer, der sich, wie so viele seiner Kollegen, 1843 von der Schottischen Kirche losgesagt hat, weil die Willkür der Grundbesitzer sie zu diesem existenziellen Schritt zwang. Die Reichen suchten sich sozusagen den für sie passenden Pfarrer aus. Fingen sie an, an dessen Loyalität zu zweifeln, war seine Arbeit getan. Aus diesem Exodus gründete sich die Free Church, die jedoch erst einmal keinerlei Struktur hatte, da die verarmten Pfarrer kein Geld, kein Gottes- und Gemeindehaus hatten, ja streng genommen noch nicht einmal Gemeinden. Also mussten sie für sich und ihre neue Kirche werben. Und nebenher irgendwie Geld verdienen, zumal, wenn man, wie John Ferguson, verheiratet war. Und hier kommen der Großgrundbesitzer Henry Lowry und sein Verwalter Strachan ins Spiel, die Reverend Ferguson eine Arbeit anbieten, womit die zweite historische Begebenheit des Romans eingeführt wird, die sogenannten Clearances. Wie Carys Davies in ihrem Nachwort schreibt, wurden von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Menschen, die auf Pachtbasis auf dem Land der Grundbesitzer lebten, von dort vertrieben und umgesiedelt, damit das so frei gewordene Land für Ackerbau und später ausschließlich zur Viehhaltung gewinnbringend genutzt werden konnte. Menschen störten dabei nur. Die besagte Arbeit für John Ferguson besteht darin, den letzten verbliebenen Bewohner einer kleinen zu den Shetlands gehörenden Insel zum Umzug zu bewegen, damit dort Schafe angesiedelt werden können. Aus Strachans Mund gegenüber John Fergusons Frau Mary klingt das dann so:

Mrs Ferguson, wir können keine Landbesetzer dulden, die immer nur nehmen, aber nichts zu geben haben, weder jetzt noch in Zukunft. Falls die Insel jemals verkauft wird, dann in gesäubertem Zustand. Der Mann wird an einen weitaus schöneren Ort an der Küste gebracht, wo er sich als Waldarbeiter oder Fischer nützlich machen kann. Ich bin mir sicher, er wird ein gutes Auskommen haben.

Hier erfährt man in aller Deutlichkeit, wie solche Menschen denken; es geht ihnen nicht um das Wohlbefinden des Einzelnen, sondern um „Auskommen“. Und also fährt John Ferguson mit einem Aufenthalt auf Orkney in Richtung Shetland-Inseln, um Ivar, jenen letzten Insulaner, zum Verlassen der Insel zu bewegen. Ein Auftrag, den er mit seinen moralischen Prinzipien eigentlich nicht in Einklang bringen kann, doch er hat keine Wahl, will er nicht verhungern. So weit also die geschichtlichen Gegebenheiten, die die Autorin ihrem Roman zugrunde gelegt hat. Das Buch beginnt jedoch mit Fergusons Ankunft auf der Insel und erzählt abwechselnd von ihm und von Ivar, dem Insulaner. Wie Carys Davies dessen Alltag beschreibt, seine Verrichtungen um sein kleines Steinhaus herum, das Ausbessern des Dachs, das Füttern der alten Kuh, das Sammeln von Napfschnecken als Köder, das Umherwandern mit Pegi, seinem Pferd, das Beobachten des Windes, des Meeres, der Vögel – das ist bestes Nature Writing im Angesicht einer bevorstehenden Umwälzung, von der dieser Mann noch nichts ahnt. Ja, es gibt ein kleines Verwalterhaus, wo einer von Lowries Leuten höchst selten nach dem Rechten sieht, ein paar Notizen im Verwalterbuch macht, schnell noch Ivars Gestricktes als Pachtzins einsackt und wieder geht. Sonst sieht er niemanden, noch nicht einmal sich selbst, da er keinen Spiegel hat. Und ja, es gab früher eine Familie auf der Insel, doch die sind alle weg. Es ist ein einsames Leben, doch Ivar hat keine Ansprüche. Das Bewältigen des Tages ist seine Aufgabe. Mehr nicht. Dieses einfache Leben gerät in Bewegung, als er am Strand eine Tasche findet, darin Papiere und andere Utensilien, vor allem aber das gerahmte Bildnis einer Frau. Und diese Kalotypie der Mary Ferguson löst etwas in ihm aus. Als er kurz darauf dann auch den schwer verletzten John Ferguson findet und ihn in sein karges Haus mitnimmt, beginnt eine der eigenartigsten und denkwürdigsten Geschichten zweier Männer in der Literatur. Denn Carys Davies hat noch etwas für ihre verblüffte Leserschaft parat und zwar ihre ureigene Profession, das Thema Sprache. Die beiden ungleichen Männer nämlich können einander nicht verstehen, die Autorin hat Ivar in diesem Zusammenhang dem vermutlich letzten Muttersprachler nachempfunden, der 1850 auf der nördlichsten Shetlandinsel Unst gestorben ist. Und so müssen John und Ivar einander auf mehreren Ebenen kennenlernen, Sprache wird somit zu einem der zentralen Instrumente, die diese kleinste soziale Einheit benötigt, um in Kontakt zu kommen und in Kontakt bleiben zu können. Ein klarer Tag (im Original CLEAR, von Eva Bonné meisterhaft übersetzt) ist ein wahrhaft schönes Buch trotz all der darin beschriebenen Ungerechtigkeiten und willkürlichen Machtausübungen. Es zeigt ein Leben, das so heute nicht mehr möglich ist, das als Möglichkeit in der Literatur existiert und dadurch die Literatur selbst als einen Ort des Rückzugs und der Sehnsucht definiert. Die hymnischen Kürzesturteile auf dem Buchumschlag sind berechtigt.

Titelbild

Carys Davies: Ein klarer Tag. Roman.
aus dem Englischen von Anne Bonné.
Luchterhand Literaturverlag, München 2024.
222 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630877709

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