Klimawandel ohne Roman?

Amitav Ghosh sucht nach Gründen für das Schweigen der Literatur

Von Martin WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2017 war, je nach Berechnungsweise, das weltweit zweit- oder drittwärmste Jahr seit Beginn der verlässlichen Temperaturmessungen im Jahr 1880 – nur 2016 und wahrscheinlich 2015 waren noch heißer. 2017 war aber zugleich auch ein Jahr, in dem keines der beiden prestigereichen Rezensionsorgane in den USA – die New York Review of Books und die Los Angeles Review of Books ­­– auch nur einen einzigen Roman besprach, der sich mit den Folgen der Erderwärmung befasst. Das heißt nicht, dass der Klimawandel in diesen Magazinen kein Thema war, denn Rezensionen von einschlägigen Sachbüchern lassen sich durchaus finden. Aber von Romanen ist keine Spur.

Nehmen wir einmal an, dass die US-amerikanischen Zeitschriften repräsentativ sind für das, was als wichtige neue Literatur gilt, so stellt sich die Frage, warum es die Literatur versäumt, eines der wichtigsten zeitgenössischen Probleme der Menschheit zu behandeln. Warum nimmt sich die Literatur des Klimawandels nicht in demselben Maße an, in dem sie andere große Probleme wie Armut und Verbrechen, Einsamkeit, Krankheit, und Tod zu ihren Themen macht?

Eine Reihe interessanter möglicher Antworten auf diese Frage findet sich nun in dem Essay Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare des indischen Romanciers Amitav Ghosh. Ghosh interpretiert das Schweigen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller zum Klimawandel als Ausdruck einer grundsätzlichen Fehlorientierung der modernen Literatur, deren Anfänge er im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts verortet. Dabei bietet Ghosh zumindest drei – einander ergänzende – Erklärungsmodelle an.

Das erste (und theoretisch vielleicht interessanteste) Erklärungsmodell fokussiert im Klimawandel das Katastrophale – die Fluten und Stürme, die als Folgen des Klimawandels vermehrt auftreten und unsere Küstenregionen und -städte verwüsten. Ghosh postuliert hier, dass der realistische Roman, indem er sich im 19. Jahrhundert auf die Darstellung des Alltäglichen und Wahrscheinlichen verlegte, unfähig wurde, das Katastrophale als Teil unserer Wirklichkeit abzubilden. Dabei skizziert Ghosh, wie der Roman mit dieser historisch neuen Konzentration auf das Alltägliche auf eine Reihe sozialhistorischer und wissensgeschichtlicher Umbrüche reagierte. Sozialgeschichtlich reflektiert der Roman mit seinem Interesse am Nicht-Exzeptionellen die neue relative Stabilität bürgerlicher Existenz (eine These, die Ghosh bei dem Literaturwissenschaftler Franco Moretti findet). Wissensgeschichtlich entspricht der Roman einem Paradigmenwechsel – vor allem in der Geologie – vom Katastrophismus zum Gradualismus (hier beruft sich Ghosh auf Stephen Jay Gould). Das Credo der Geologie des 19. Jahrhunderts war zusehends: „Die Natur macht keine Sprünge.“ Die Herausbildung und Verschiebung von Meeren und Kontinenten, so hieß es nun, sei das Produkt gleichmäßiger, unendlicher langsamer Entwicklungen. Katastrophen spielten in der Geschichte der Erde keine Rolle mehr. Während aber die Wissenschaft inzwischen vom Dogma des Gradualismus abzurücken begonnen hat, bleibt der Roman weiterhin seinen theoretischen Wurzeln im 19. Jahrhundert verpflichtet. Damit wird er, im gleichen Zuge wie Katastrophen wieder unsere Lebenswirklichkeit zu bestimmen beginnen, zunehmend obsolet.

In seinem zweiten Erklärungsmodell setzt sich Ghosh kritisch mit dem Projekt der Moderne auseinander, eine strikte Trennung der Bereiche Natur und Kultur anzustreben (hier stützt sich Ghosh auf die Arbeiten Bruno Latours). Der Roman, so Ghosh, habe sich fortschrittsgläubig an diesem Projekt beteiligt und alle Erkundung der Natur als Science-Fiction ausgegrenzt. Auch mit dieser Weichenstellung habe sich die Literatur die Darstellung des Klimawandels selbst unmöglich gemacht. Klimawandel bleibt heute ein Themenfeld der Science-Fiction und damit außerhalb dessen, was als ernste Literatur gilt.

Das dritte Erklärungsmodell schließlich hängt mit einer Entwicklung zusammen, die Ghosh erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verortet, nämlich einer zunehmenden Fokussierung des Romans auf individuelle Schicksale und der gleichzeitigen Ausblendung kollektiver Prozesse. Aufgrund dieser Konzentration auf das Individuum wird der Roman unfähig, den Klimawandel – der für Ghosh ein „kollektives Dilemma“ darstellt – abzubilden. Auch in dieser problematischen Einengung auf das Individuelle reagiere der Roman auf gesellschaftliche Entwicklungen. Unter Berufung auf die Theorien Guy Debords argumentiert Ghosh, dass der Roman die Isolation des Individuums in den herrschenden kapitalistischen Systemen reproduziere.

Gerade in ihrer Klarheit und argumentativen Wucht reizen Ghoshs Argumente zu einigen skeptischen Einwürfen. Zunächst ist festzuhalten, dass das, was Ghosh so kritisch als unsere „große Verblendung“ einführt (nämlich unsere Unfähigkeit, die Natur in ihrer katastrophalen Essenz zu sehen), jedenfalls in Bezug auf den Roman historisch Teil einer beispiellosen Sichtbarmachung des zuvor Ausgeblendeten war. Mit seinem Interesse an den unscheinbaren, trostlosen und sogar hässlichen Details des Alltäglichen hat der realistische Roman des 19. Jahrhunderts das Leben der Menschen in seiner Materialität auf eine Weise literaturfähig gemacht, die lange undenkbar schien. Die „große Verblendung“ müsste also fairerweise eher ein „großer Perspektivenwechsel“ genannt werden, in dessen Folge viele Dinge neu sichtbar wurden, während andere möglicherweise aus dem Blickfeld rückten.

Schwerer als Einwand wiegt jedoch, dass Ghosh einen vielleicht etwas reduzierten Blick auf die Umbrüche in der Geschichte des Romans hat. Tatsächlich ist diesen Umbrüchen eine ganz besondere Dialektik eigen, gemäß der etwa das neue Interesse an der Ereignislosigkeit der bürgerlichen Existenz auf ein Bewusstsein für plötzlich hereinbrechende Katastrophen bezogen bleibt. Der Langweiler Charles Bovary und das katastrophale Leben seiner Frau Emma sind in Gustave Flauberts Roman zwei Seiten einer Medaille. Georg Lukács übrigens hat diese Zusammengehörigkeit von Stabilität und Katastrophe als zentrale Bestandteile des bürgerlichen Weltbildes sehr gut analysiert (in seinem Essay Erzählen oder Beschreiben). Was dem Bürgertum abging, so Lukács, war nicht der Begriff der Katastrophe, sondern ein Verständnis für langfristige soziale Prozesse. Weil diese sozialen Prozesse nicht gesehen wurden, erschienen deren lang vorbereitete Effekte dann jeweils als plötzliche Katastrophen.

Schließlich möchte man Ghosh fragen, ob sein doch sehr deterministisches Verständnis des Romans, demgemäß dieses Genre immer die wichtigen sozial- und wissensgeschichtlichen Umbrüche der jeweiligen Epoche reflektiert, nicht beinahe zwangsläufig suggeriert, dass auch die gesellschaftliche Bewusstwerdung des Klimawandels und seiner katastrophalen Folgen eine Entsprechung im Roman finden wird. Tatsächlich zitiert auch Ghosh bereits Beispiele erfolgreicher Klimawandel-Literatur jenseits von Science Fiction (letztere übrigens ist vielleicht auch nicht ganz so marginalisiert wie Ghosh meint). Lobend hervorgehoben etwa wird Barbara Kingsolvers Roman Das Flugverhalten der Schmetterlinge, der im englischen Original 2012 erschien. Hingewiesen werden sollte an dieser Stelle auch auf Eva Horns Studie Zukunft als Katastrophe (2014), die historische und zeitgenössische Katastrophennarrative in einer Reihe fiktionaler und nicht-fiktionaler Genres untersucht.

Man könnte an die hier skizzierten Einwände auch noch weitere reihen, doch trotzdem bleibt Ghoshs Buch ein überaus wichtiger, anregender und bei aller Theoriebeladenheit wunderbar lesbarer Beitrag über die Möglichkeiten des Romans in Zeiten des Klimawandels. Darüber hinaus bietet Die große Verblendung ­­– was in dieser Rezension zu kurz gekommen ist – auch eingehende Überlegungen zu den historischen und politischen Voraussetzungen der heutigen Klimakrise.

Titelbild

Amitav Ghosh: Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare.
Übersetzt aus dem Englischen von Yvonne Badal.
Blessing Verlag, München 2017.
256 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783896675842

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch