Opulente Familiengeschichte aus Indien

Leider ist der Roman „Die Träumenden von Madras“ von Abraham Verghese personell und thematisch überfrachtet, während die Zeitgeschichte Indiens zu kurz kommt

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kerala um 1900: Mariamma ist zwölf, als ihre Kindheit ein abruptes Ende findet. Nach dem Tod des geliebten Vaters sieht ihre Mutter keine andere Möglichkeit, als die einzige Tochter zu verheiraten. Über die Wasserwege des südlichen indischen Bundesstaates führt sie ein weiter Weg per Boot nach Parambil, wo Mariamma zwischen Jackfruchtbäumen und Palmen mit ihrem weitaus älteren Mann lebt. Wie sie selbst gehören auch er und seine Familie der religiösen Minderheit der Thomas-Christen an und so tritt Mariamma mit einer kurzen Zeremonie innerhalb des Gottesdienstes ihr neues Leben an. Das ist zunächst von der Sehnsucht nach der Mutter und ihrer alten Heimat sowie der distanzierten Haltung ihres Mannes geprägt.

Viel Zeit, ihrem alten Leben nachzutrauern, bleibt ihr aber nicht, muss sie sich doch um den kleinen Sohn ihres Mannes kümmern, dessen Mutter gestorben ist. Mehr und mehr wird sie zur Ersatzmutter von Jojo und mit der Zeit nähern sich auch die Eheleute einander an. Doch als Jojo, ebenso wasserscheu ist wie sein Vater, bei einem Unfall ertrinkt, ist Mariamma tief erschüttert. Und sie entdeckt das großes Geheimnis, das wie ein Fluch seit mehreren Generationen auf der Familie liegt: Immer wieder tritt bei Familienmitgliedern eine unerklärliche Angst vor Wasser auf und viele von ihnen fanden bereits den Tod durch Ertrinken.

Warum das so ist, bleibt zunächst ein Mysterium, doch die Bedrohung durch das Wasser steht unentwegt im Raum, auch wenn die folgenden Jahre von Glück und Fortschritt geprägt zu sein scheinen. Selbst die mehrfache Behinderung der kleinen Tochter, die sie zur Welt bringt, schmälert das Familienglück nicht. Mariammas Rolle nimmt immer mehr an Bedeutung zu. Als Matriarchin „Big Ammachi“ ist sie ist nicht nur der ruhende Pol der Familie, sondern der ganzen Dorfgemeinschaft. Gemeinsam mit einigen Mitstreitern sorgt sie dafür, dass Parambil Straßen und Schulen erhält, die Häuser mit Elektrizität versorgt und die Menschen medizinisch betreut werden, während das restliche Indien um seine Befreiung von den Kolonialherren kämpft und in der Welt Kriege toben.

Doch damit nicht genug: Neben dieser drei Generationen umspannenden Geschichte einer Familie starker Frauen, die versuchen, das Geheimnis um den „Fluch des Wassers“ zu lüften, entwickelt der Roman einen weiteren großen Erzählstrang, der in die Welt der Medizin führt. Dessen Handlung wird in Glasgow eröffnet, wo der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Digby Kilgour Medizin studiert. Da er mit seiner Herkunft dort keine Chance auf eine Karriere hat, geht er in den Kolonialdienst nach Madras. Hier praktiziert der begabte Chirurg in einem Krankenhaus, wo er nicht nur seinen inkompetenten Chef in den Schatten stellt, sondern sich obendrein noch in dessen Ehefrau verliebt. Als der Chefarzt dann den Tod eines jungen Anglo-Inders verschuldet und Digby ungewollt den Tod seiner Geliebten bei einem Brandunfall verursacht, ändert sich dessen Leben gewaltig.

Digby bleibt nicht die einzige Figur aus dem medizinischen Bereich, die das ohnehin überaus üppig ausgestattete Personal des Romans ergänzt. Mehrfach stößt man beim Lesen auf Ärztinnen und Ärzte, die in den jeweiligen Katastrophen – und davon gibt es zahlreiche – zur Stelle sind, um als helfender Gegenpart zu versuchen, durch riskante Operationen und ungewöhnliche Therapien zu retten, was zu retten ist. Dabei kann und will der Autor nicht verleugnen, dass er selbst Arzt ist und auch eine Zeit lang in Indien praktiziert hat. Allerdings ist es fraglich, ob die überaus detailverliebten Schilderungen von Operationsmethoden oder Therapieansätzen wirklich zum Verlauf des Romans beitragen oder ob diese nicht doch eher den Lesefluss behindern.

Da wäre es vermutlich interessanter gewesen, den gesellschaftspolitischen Aspekt des Romans breiter auszugestalten. So bleibt beispielsweise die Kritik am Kastensystem, an dem selbst die fromme Thomasgemeinde festhält, eher verhalten. Es tut beim Lesen weh und verwundert, dass die empathische Protagonistin Big Ammachi und ihr Ehemann bis zum Schluss feudalistische Leibeigenenverhältnisse aufrechterhalten, wie etwa zum kastenlosen Shamuel, der ihnen in unglaublicher Ergebenheit die Treue hält, während sein Sohn Joppan die schreiende Ungerechtigkeit benennt und ringsum in Indien an den Grundfesten der alten Ordnung gerüttelt wird.

Insgesamt werden die politischen Entwicklungen in Indien, speziell in Kerala, eher beiläufig behandelt, obwohl sich dort Monumentales tut: So schüttelt man nicht nur die britischen Kolonialherren ab, vielmehr übernimmt in Kerala auch die weltweit erste demokratisch gewählte kommunistische Regionalregierung das politische Ruder. Auch die Darstellung der Guerilla-Organisation der Naxaliten wirkt eher wie eine Untermalung für die Beziehungen der Protagonisten als dass deren Ziele und Beweggründe genauer dargestellt werden. Ausgerechnet hier lässt Verghese die Akribie vermissen, die er ansonsten auf die Darstellung der Familienbeziehungen, das Alltagsleben im Dorf, die sozialen Verhältnisse der Thomas-Christen und auf die medizinischen Aspekte legt.

So bleibt es also in dem Roman hauptsächlich bei der Geschichte einer Familie, die sich von 1900 bis 1970 über drei Generationen hinweg erstreckt. Wie bereits erwähnt, ist diese von Schicksalsschlägen geprägt und die Liebesbeziehungen verlaufen grundsätzlich tragisch. Den Unbilden des Lebens begegnen die Protagonist*innen im ständigen Dialog mit Jesus, für jede Herausforderungen haben sie das passende Bibelzitat parat. Das ist mitunter ermüdend, zumal auch die Sprache des umfangreichen Romans nicht gerade durch Finesse glänzt. Hier wäre mehr sprachliche Sorgfalt wünschenswert gewesen. Sicher hätte auch eine straffere Erzählweise nicht geschadet, denn so gehen die Passagen, die sich durch Sensibilität und psychologischen Tiefgang auszeichnen, in der Fülle der Details unter. Am Ende bleibt ein recht gemischter Eindruck zurück, nachdem man mit Empathie das Schicksal der Figuren mitverfolgt und lange auf die Aufdeckung der Ursache des Fluches gewartet hat.

Titelbild

Abraham Verghese: Die Träumenden von Madras. Roman.
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Insel Verlag, Berlin 2023.
894 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783458643937

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