Heinrich Bölls Gegenwärtigkeit

Randbemerkungen zu einem großen Autor

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

1.

Über Heinrich Bölls Gegenwärtigkeit zu sprechen, so wie er selbst die Gegenwärtigkeit Georg Büchners behauptet hat, mag im ersten Augenblick gewagt erscheinen. Denn es ist nachgerade ein Gemeinplatz der Feuilletons geworden, dass Böll in Gedächtnis der literarischen Öffentlichkeit nicht mehr anwesend sei. Der Literatur-Nobelpreisträger von 1972, der zu Lebzeiten auf der ganzen Welt ein Millionenpublikum erreichte, wird inzwischen nicht selten sogar als ein vergessener Autor bezeichnet. Das mag etwas übertrieben sein, wie gerade manche Aktivitäten zu seinem 100. Geburtstag zeigen. Aber ganz falsch ist es nicht.

Von der Welt Heinrich Bölls trennt uns heute ein beträchtlicher historischer Abstand. Die Zeit, in der sein Werk entstanden ist und auf die es sich durchweg bezieht, liegt mehr als ein halbes Menschenalter zurück: die Friedensbewegung der 80er Jahre, der Deutsche Herbst, die Zeit der sozialliberalen Regierung, die Ära Adenauer, Krieg und Nachkriegszeit – das alles ist heute historisch. Historisch erscheint vielen auch der Autor selbst, der Zeitgenosse dieser vergangenen Zeit. In ihm sehen sie nur noch einen Vertreter der alten, der Bonner Republik.

In ihrer Geschichte spielt er indes eine besondere Rolle, als eine Art literarischer Oppositionsführer, dessen Fraktion allerdings manchmal nur aus ihm bestand, als eine Gegenfigur nicht zuletzt zum ersten Kanzler dieser Republik, der katholischer Kölner wie er war. Böll war nicht der einzige Schriftsteller, der daran mitarbeitete, dass das Experiment der zweiten deutschen Demokratie gelang, aber er war sicher einer der wichtigsten, auch unermüdlichsten. Unbezweifelbar ist, dass die deutsche Gesellschaft von heute ohne ihn anders aussähe: unfreier. Durch Schriftsteller wie Böll waren die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik auch eine große Zeit der Literatur, die immer wieder zur öffentlichen Angelegenheit wurde. Politiker, bis in die Regierung hinein, fühlten sich gelegentlich aufgerufen, sich über Autoren und ihre Bücher zu äußern, auch über Böll, und blamierten sich nicht selten dabei.

Heinrich Böll war am Ende seines Lebens international geachtet wie kein deutscher Autor seit Thomas Mann. Solcher Schriftsteller scheint man inzwischen etwas überdrüssig geworden zu sein, wie nicht erst die Reaktionen auf die späten Israel- und Griechenland-Gedichte von Günter Grass erkennen ließen. Literatur wird heute meist nur noch in den immer schmaleren Literaturteilen der größeren Zeitungen verhandelt, als eine Angelegenheit für Spezialisten.

Der Bedeutungsverlust der Literatur setzte allerdings schon zu Bölls Lebzeiten ein, und er zeigte sich nicht zuletzt an der Reaktion auf sein literarisches Werk. Irgendwann in den 70er Jahren war Böll so prominent, dass jeder eine Meinung über ihn hatte, auch ohne etwas von ihm gelesen zu haben. So war Böll am Ende umstellt von Klischees: der gute Mensch von Köln, das Gewissen der Nation, der Autor als moralische Autorität. Böll hat sich gegen all diese Zuschreibungen gewehrt, ohne Erfolg. Sie blieben an ihm haften wie festklebende Etikette, die man nicht mehr abziehen kann.

Seine Erzählungen und vor allem seine Romane drohten darunter unkenntlich zu werden. Spätestens Ende der 70er Jahre folgte dem Erzähler Böll die Literaturkritik nicht mehr; seine Poetik blieb ihr weitgehend verschlossen. Gruppenbild mit Dame fand, gerade unter führenden Kritikern, nur noch ein gemischtes Echo, ähnlich wie vorher schon Ansichten eines Clowns. Fürsorgliche Belagerung wurde fast einhellig verrissen: „Ein Tiefpunkt der Kritik“, wie Bölls Biograph Heinrich Vormweg zweideutig schrieb (Vormweg, 368). Der Erzähler Böll galt nun endgültig als ein zwar ursprüngliches, aber auch etwas ungeschlachtes Erzähltalent, mehr ein Volksschriftsteller, jedenfalls nicht auf der Höhe der Avantgarde, dazu sprachlich manchmal etwas nachlässig und ohne großen Formwillen. Durch dieses Urteil, das nicht selten von Bezeugungen des Respekts für den Bürger Böll begleitet wurde, entzog man ihm die literarische Autorität und beließ ihm, gewissermaßen als Trost, die moralische, deren Vergänglichkeit allerdings abzusehen war.

Bis heute ist immer wieder zu hören, auch in einem bedauernden Ton, dass der „Intellektuelle“ (Schnell, 118) den Autor Böll in den Hintergrund gedrängt, ja ihm geradezu geschadet habe. Nicht nur, dass er viele gegen sich aufgebracht habe. Der Publizist habe dem Schriftsteller auch sozusagen die Zeit geraubt, die er für sein Werk gebraucht hätte, wenn es hätte überdauern sollen. Gerade die späten Romane galten Kritikern als Beweis dafür, dass Böll seine schöpferische Kraft der aufreibenden politischen Tätigkeit, etwa als stets geforderter Präsident des internationalen PEN, geopfert habe.

Doch die öffentliche Person läßt sich schlecht gegen den Autor, der politische Publizist gegen den Erzähler ausspielen. Schon Böll hat sich in seinen letzten Jahren mit Recht gegen diese Trennung gewandt. Zweifellos gibt es von ihm zahlreiche Einlassungen, die nur noch auf ein historisches Interesse rechnen können. Böll hat sich vielleicht auch über zu vieles öffentlich geäußert. Die Arbeit an mancher Stellungnahme, mancher Rede, hat er wohl zu früh eingestellt, deutlich zu sehen etwa in seinem späten Essayband Vermintes Gelände. Allerdings kann man das Gleiche auch von einigen Erzählungen behaupten. Böll selbst hat von sich, wie mir scheint: nicht sehr zerknirscht, bekannt, er habe manches „relativ gewissenlos“ (I 1, 355) zum Druck gegeben. Und doch ist nicht zu übersehen, dass er großartige Reden hinterlassen hat, auch ganz eigene Essays, die klügsten von ihnen zur Literatur, die ihn als einen Kritiker eigenen Rechts ausweisen.

Aber nicht nur deshalb lässt sich der Erzähler Böll kaum vom Publizisten trennen. Seine öffentlichen Einlassungen verdankten ihre Beachtung wesentlich dem Umstand, dass es ein höchst erfolgreicher Schriftsteller war, der sich als Bürger zu Wort meldete. Die Ethik, die sich in ihnen abzeichnete, war auch keine andere als die, die in seinen Erzählungen und Romanen, seinen Hörspielen und Gedichten wirksam war und ist. Die Eigenart Bölls besteht gerade darin, dass er als Autor eine öffentliche Figur war: Bürger und Künstler zugleich.

2.

Vieles von dem, was Böll für den Tag schrieb, mag nachhaltiger sein, als oft angenommen wird. „Bölls fortbestehende Aktualität“, hat Heinrich Vormweg 2000 geschrieben, „zeigt sich darin, daß seine Kämpfe noch keineswegs abgeschlossen sind und daß Kämpfe, die er bis heute angezettelt hätte, ohne ihn nicht stattfinden“ (Vormweg, 396). Wer Bölls Werk kennt, mag sich tatsächlich noch immer bei den verschiedensten Gelegenheiten an ihn erinnern. Nicht nur seine Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche haben noch ihre Aktualität verloren, auch sein bis zuletzt anhaltendes Nachdenken über Armut und Reichtum. Der bekennende Katholik Heinrich Böll wurde nicht müde, an „die vom Abendland verratene christliche Armut“ (ESuR, 2, 188) zu erinnern, und er war, gleichfalls bis zuletzt, ein Kämpfer gegen Zensur und jede Einschränkung der Meinungsfreiheit.

An Böll mag auch denken, wer sich das große innenpolitische Problem dieser Jahre, nicht nur in Deutschland, vergegenwärtigt: den Terrorismus und die Anstrengungen des Staates, Bürger vor ihm zu schützen. Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in einer solchen Situation ist das große Thema des vorletzten Romans von Böll: Fürsorgliche Belagerung. Was die Hauptfigur, der Zeitungsverleger Fritz Tolm, dazu sagt, in einem lapidaren Satz, mag der Einstellung des Autors zumindest nahegekommen sein: „ich bilde mir schon lange nicht mehr ein, daß es Sicherheit gibt, innere oder äußere, auch keine Sicherheit in meinem Innern“ (FB, 164). Nicht nur in diesem Roman hat Böll zu bedenken gegeben, dass das Sicherheitsbedürfnis der Bürger auch politisch instrumentalisiert werden kann.

Schließlich kann Heinrich Böll einem auch in den Sinn kommen angesichts eines der großen internationalen Probleme unserer Zeit: der Flucht und Vertreibung zahlloser Menschen. Der seßhafte, aber reisefreudige Böll, der seinen Wohnsitz immer in Köln oder in der Nähe von Köln hatte, nannte das 20. das „Jahrhundert der Flüchtlinge“ (VG, 116). Das 21. stellt sich an seinem Anfang nicht anders dar. Nicht zuletzt in Bölls Roman Gruppenbild mit Dame spielen Flucht, Vertreibung und Auswanderung eine unübersehbare Rolle – angefangen bei russischen Kriegsgefangenen bis hin zu türkischen ‚Gastarbeitern‘. Böll hatte ein Gespür für große Themen der Zeit. Die Anlässe, die ihn zum Schreiben gebracht haben, mögen vergangen sein; seine Themen sind es nicht.

3.

Heinrich Böll hat nicht geschrieben, um seine Leser – und sei es auf hohem Niveau – zu unterhalten, auch wenn er mitunter unterhaltsame Geschichten geschrieben hat. Gerade sein Ernst hat wesentlich zu seinem Ansehen beigetragen. Er war keineswegs ein gemütlicher Rheinländer, erst recht kein Clown wie die Hauptfigur eines seiner bekanntesten Romane. In den Erinnerungen an seine Schulzeit Was soll aus dem Jungen bloß werden? hat Böll sich als einen Außenseiter aus Überzeugung beschrieben, der, gestärkt durch seine Familie, in innerer Opposition zum nationalsozialistischen Zeitgeist, auch unter Katholiken, lebte. Die Erfahrung der Ohnmacht des Einzelnen in einem totalitären Staat mag ihn nach 1945 in dem Entschluß bestärkt haben, nun entschieden zu verteidigen und zu behaupten, was ihm richtig erschien und was er gern einfach „human“ nannte.

Er tat das mit beträchtlichem Mut. Er, der gern als Anwalt der angeblich ‚kleinen‘ und ‚einfachen Leute‘ apostrophiert wurde und wird, machte Proleten oder Proletarier, wie er sie lieber nannte, zu den Hauptfiguren seiner Romane und Erzählungen – am eindrucksvollsten, nach den Erzählungen der frühen Jahre, wiederum in Gruppenbild mit Dame. Zugleich forderte er Mächtige heraus. Er kritisierte mit geradezu atemberaubender Schärfe die Memoiren Konrad Adenauers, zu einer Zeit, als er noch nicht durch den Nobelpreis geschützt war, später auch die gesammelten Reden Axel Springers, dessen Zeitungen ihn in den 70er Jahren auf das Heftigste bekämpften wie keinen Schriftsteller vorher und nachher – und er sie umgekehrt ebenso. Die Auseinandersetzungen trug er noch in seine Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum hinein – ein Lehrstück über die Beschädigungen, die Massenmedien im Leben Einzelner anrichten können.

Wenn Böll sich auf öffentliche Angelegenheiten einließ, ob sie mit dem Staat, der Gesellschaft, der Kirche oder den Medien zu tun hatten, sprach er immer auch als Schriftsteller. Sein Gewissen war wesentlich ein „Sprachgewissen“ (ESuR 3, 391). Wörter waren ihm keine arbiträren Zeichen, ihr jeweiliger Gebrauch schien ihm immer bezeichnend, für eine Position oder für eine Person. Er achtete auf die Worte, in denen eine Sache vorgetragen wurde, und spürte den Überzeugungen und den Erfahrungen nach, die in ihnen aufgehoben waren.

In seiner Aufmerksamkeit für den Sprachgebrauch war Böll einem Karl Kraus nahe, am deutlichsten sicherlich in seiner großen Polemik Bild Bonn Boenisch gegen den langjährigen Chefredakteur der Bild-Zeitung und kurzzeitigen Sprecher der Regierung Kohl. Die Rede vom deutschen ‚Wirtschaftswunder‘ hat er schon früh abgelehnt: „ein Wunder“, stellte er lakonisch fest, „ist die Auferstehung Jesu Christi“, nicht „eine wirtschaftliche Blüte“ (ESuR, 1, 134). In seinem Essay „Die ‚Einfachheit‘ der ‚kleinen‘ Leute und ihre mögliche Größe“ verwahrte er sich gegen die sprachliche „Herablassung“, die in der Verwendung dieser Wörter liegt. Der oft als Ausdruck künstlerischer Altersschwäche kritisierte leitmotivartige Gebrauch des Adjektivs „nett“ in Fürsorgliche Belagerung gehört noch in diese Linie seiner Sprachkritik.

Neben Mut und Gewissenhaftigkeit war es zweifellos ein starkes Gefühl für Gerechtigkeit, das Böll bewegt hat. Erstaunlich, für Menschen von heute, mag sein, dass es religiös begründet war. Der „leidenschaftliche Zeitgenosse“ Böll war tatsächlich der metaphysical poet unter den deutschen Schriftstellern der Nachkriegszeit. Schon die Titel seiner frühen Romane deuten das an, und noch in seine Anthologie Mein Lesebuch, die ihm wichtige Texte versammelt, hat er Auszüge aus der Bergpredigt aufgenommen. In seiner Dankrede zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille hat er sogar „etwas sehr Katholisches“ (ESuR, 3, 171) bemüht: „Die sieben Werke der Barmherzigkeit“. Auch wenn er aus der Kirche nach langer Auseinandersetzung austrat – er blieb gläubiger Katholik.

Wie gläubig Böll am Ende war – eine Frage, die wieder aufkam, als er, ohne darum gebeten zu haben, eine kirchliche Trauerfeier erhielt –, ist nicht leicht zu sagen. Dass es scharfe Kritik an der katholischen Kirche noch in seinen letzten Romanen gibt, ist nicht zu übersehen. Auffällig ist auch, dass von Jesus Christus in seinem Werk immer weniger die Rede ist, umso mehr aber von Maria. Marienfiguren sind fast alle seine wichtigsten Frauengestalten, nicht zuletzt Leni Gruyten, die bekannteste von ihnen. Die Gestaltung dieser weiblichen Figuren hat allerdings mit herkömmlicher Marienverehrung nicht viel zu tun. Gleichwohl verweist sie darauf, dass für Böll nicht nur Liebe, sondern auch Gemeinschaft einen religiösen Grund haben.

Sein oft bekundeter Glaube, den er mit manchen seiner Figuren teilt, hat ihm die Bezeichnung „Prediger“ eingetragen (Reich-Ranicki, 404). Dem Künstler wird sie nicht gerecht. Leni Gruyten und Boris Koltovskij in Gruppenbild mit Dame etwa finden sich und einander in ihrer Religiosität, mit vorderhand alltäglichen Gesten wie dem Kaffeeausschenken und dem Handauflegen, ohne sich wortreich zu erklären. Der Roman erzählt diese Gläubigkeit: Er zeigt sie mehr, als dass er von ihr spricht. Nicht nur in solchen Episoden erweist sich Böll als ein bewusst gestaltender Künstler.

Immer wieder hat er betont, dass auch die Wirklichkeit für ihn „Material“ gewesen sei – weshalb er sich auch dagegen verwahrte, als christlicher Schriftsteller bezeichnet zu werden. An erster Stelle wollte er ein Autor sein, der sich als Künstler zu bewähren hat. Mit der Rede vom Material versuchte er das Eigenrecht der Literatur zu behaupten – wovon sie auch handeln mag. Böll war zweifellos ein Realist, aber diesen Begriff darf man in seinem Fall nicht zu eng auslegen. Sein Realismus ist immer eine Annäherung gewesen: eine Annäherung von verschiedenen Seiten an die Wirklichkeit von Menschen, die er in literarische Figuren verwandelte.

Auch ihnen näherte er sich wesentlich über die Sprache: über ihre Sprache. Nicht nur in seinen letzten Romanen, in ihnen allerdings besonders, ließ Böll seine Figuren selbst reden – was zu vielen Mißverständnissen geführt hat. Sie alle sind in einem starken Sinn ‚Gruppenbilder‘, Gesellschaftsbilder, die sich aus Worten und Wörtern, aus Sprache also zusammensetzen. Die Sprache seiner Romane ist, nicht nur als die seiner Figuren, nahe an der gesprochenen des Alltags. Unter anderem deshalb waren seine Bücher immer auch für ein größeres Publikum lesbar, und das entsprach seinem Verständnis von Literatur: Sie sollte grundsätzlich für alle da sein.

Böll hat gern von seinem Projekt der „Fortschreibung“ gesprochen. Er hat für sich nicht in Anspruch genommen, ein für allemal die richtige Form für seine Erzählungen und zumal seine Romane gefunden zu haben. Sie unterscheiden sich, bis zum Schluss, mehr oder weniger deutlich voneinander. Noch sein letzter „Roman in Dialogen und Selbstgesprächen“ Frauen vor Flußlandschaft stellt in seinem Œuvre etwas vollkommen Neues dar. Der Erzähler Böll prüfte Formen, indem er sie unermüdlich fortschreitend ausprobierte. Sein literarisches Werk war ein work in progress. Auch das haben viele seiner Kritiker nicht verstanden.

Es ist oft bemerkt worden, dass es das alles abschließende, weil alles in sich einschließende Werk Bölls nicht gibt. Auch der Roman, für den er den Nobelpreis erhielt, Gruppenbild mit Dame, ist das nicht ganz, wenngleich er sicher sein komplexester ist: von der Vielzahl der Figuren, der Vielfalt der Stimmen, der fast ein halbes Jahrhundert umfassenden Handlung, schließlich der montageartigen, den ästhetischen Konstruktionscharakter betonenden Erzählweise her. Für Bölls Romane mag insgesamt gelten, was er über Thomas Wolfe schrieb: „Kein Werk“ von ihm „ist perfekt, aber sie sind alle vollkommen, vollkommen“ (ERuS, 1, 81) – Heinrich Böll. Böll selbst zeigte sich ebenso so souverän wie bescheiden im Umgang mit den Unvollkommenheiten seiner Arbeiten: Er akzeptierte sie. Auch auf dem Gipfel des Ruhms glaubte er nicht, dass er von Fehlern frei sei.

Gleichwohl gehörte er zu den seltener gewordenen Autoren, die an die Literatur glauben – an ihren Ernst, ihren Erkenntnis- und Wahrheitsanspruch, ihre Humanität. Literatur, so schrieb Böll 1965, fast beiläufig, werde gemacht, um „zur Menschwerdung der Menschen beizutragen“ (ESUR, 2, 161). Der wichtigste Satz seiner Poetik, ihr Hauptsatz, findet sich in seiner „Die Freiheit der Kunst“ überschriebenen dritten Wuppertaler Rede. Kunst, heißt es da, sei „die einzig erkennbare Erscheinungsform der Freiheit auf dieser Erde“ (ESuR 2, 228). Frei sei die Kunst „von Natur“. „Gegebene Freiheit ist für sie keine, nur die, die sie hat, ist oder sich nimmt“. „Wie weit sie gehen darf oder hätte gehen dürfen, kann ihr ohnehin niemand sagen; sie muß also zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf“ (ebd.).

Böll hat auf dieser Freiheit nicht nur als Erzähler bestanden, sondern auch als schreibender Bürger. Dass er dabei gelegentlich zu weit ging, wenigstens nach dem Empfinden mancher Zeitgenossen, war ihm bewusst. Aber es war ihm eben immer auch um die Freiheit zu tun, in der Kunst wie in jeder Meinungsäußerung, für die er nicht nur kämpfte, die er in seinen Worten und in seiner Haltung auch vorlebte.

Was es mit der Freiheit des Schriftstellers auf sich hat, auch für seine Leser, hat Böll unmissverständlich ausgesprochen: „Ein Autor nimmt sich die Freiheit einfach, und er versucht – indem er sie ordnet und formt – möglichst viel von ihr zu teilen, was bedeutet: mitzuteilen. Jeder ist aufgefordert, an dieser Freiheit teilzunehmen, sich sein Teil davon zu nehmen.“ (ESuR, 2, 223)

Sich einen Teil davon zu nehmen: das sollte auch das Motto einer neuen Lektüre der Werke Heinrich Bölls sein.

Literaturhinweise

Heinrich Böll: Werke. Hg. von Bernd Balzer. Köln o.J. (1979).

Essayistische Schriften und Reden. 3 Bände (ESuR).

Interviews 1. 1961-1978 (I 1).

 

Heinrich Böll: Fürsorgliche Belagerung. Roman. Köln 1979 (FB).

Heinrich Böll: Vermintes Gelände. Essayistische Schriften 1977-1981. Köln 1982 (VG).

Heinrich Böll: Frauen vor Flußlandschaft. Roman in Dialogen und Selbstgesprächen. Köln 1985.

 

Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Thomas Anz. München 2014.

Ralf Schnell: Heinrich Böll und die Deutschen. Köln 2017.

Heinrich Vormweg: Heinrich Böll. Eine Biographie. Köln 2000.

 

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dieter Lampings Kolumne Randbemerkungen eines Lesers und basiert auf einem Vortrag, den er am 6. Dezember 2017 auf der von ihm initiierten Tagung „Heinrich Böll zum 100. Geburtstag“ in der Universität Mainz gehalten hat. Die Tagungsbeiträge erscheinen am 21. Dezember als Buch im Verlag LiteraturWissenschaft.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz