Der Meister und sein Publikum

Franziska Hellers Einführung erschließt Hitchcocks Filme vom Publikum her

Von Michael BurgerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Burger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein Œuvre eines Filmregisseurs gilt als dermaßen unabdingbar für das Studium des Films – es sei an Begriffe wie „Suspense“ oder „MacGuffin“ erinnert – wie die Werke von Alfred Hitchcock. Mit seiner eindringlichen Ästhetik und den ikonisch gewordenen Bildern sowie Szenen schrieb sich Hitchcock unauflöslich in den Kanon der Filmgeschichte ein. Dabei erreichte er etwas, was nur wenigen Regisseuren gelungen ist: sowohl eine breite Masse anzusprechen, indem er sie in Angst und Schrecken versetzt, als auch den kleineren Kreis der Filmwissenschaft zur theoretischen Auseinandersetzung zu animieren. Letzteres umfasst eine mittlerweile schier unendliche Menge an Artikeln, Monographien und Sammelbänden, die sich mit den zahlreichen Facetten wie voyeuristischen Lesarten, Darstellungen von Gender und psychoanalytischen Interpretationen beschäftigt. Das vorliegende Buch von Franziska Heller steht deshalb unter einer doppelten Schwierigkeit: einerseits die Vielfältigkeit der Diskurse zu berücksichtigen, und andererseits der Hitchcock-Rezeption neue Impulse zu geben.

Zunächst legt Heller ihre Zugangsweise zum filmischen Werk dar: Weder die Rekonstruktion filmischer Sujets aus der Biographie und damit eine psychologisierende Lesart (beispielsweise gibt es immer wieder Versuche, Hitchcocks sadistische Mordszenen mit einem latenten Frauenhass kurzzuschließen) noch der Zugang über ein spezifisches Filmgenre erscheinen Heller für ihre Ausführungen geeignet. Die Filme Hitchcocks, so die These, müssen vom Publikum her gedacht werden, nämlich was wie inszeniert ist und welche Reaktion dadurch evoziert wird, das heißt, wie „Hitchcock […] den Zuschauer in das Zentrum seiner auf Immersion angelegten Entertainment-Dramaturgie setzt“, ist die entscheidende Fragestellung.

Heller verdichtet deshalb, auch angesichts der enormen Materialfülle, die Filmographie von Hitchcock auf sieben exemplarische, jeweils einer anderen Schaffensperiode entsprungenen Filme: The Lodger (1926), The 39 Steps (1935), Rear Window (1954), Vertigo (1958), Psycho (1960), The Birds (1963) und Frenzy (1972). Zwar führt die Autorin an, diese Filme auch auf ihre filmtechnologischen Entwicklungen wie Technicolor und VistaVision zu befragen, jedoch werden diese Aspekte in den Analysen – beispielsweise in Hinblick auf mögliche Veränderungen in der Rezeptionsweise durch das Publikum – kaum berücksichtigt.

Den Fallanalysen stellt Heller noch ein eingeschobenes Kapitel voran, in dem sie die Frage reflektiert, wie Hitchcocks Filme heute in Anbetracht von restaurierten und/oder editieren Fassungen, Remakes, Dokumentationen oder Filmen über Hitchcock, rezipiert werden. Anhand einiger exemplarischer Fälle wird die These exemplifiziert, dass die Filme Hitchcocks bereits medial überformt sind und ein unvoreingenommenes Sehen unmöglich machen, dadurch aber stets die Möglichkeit zu neuen Kontextualisierungen gewährleisten.

In den Analysen werden die Filme in ihrer Dialektik von Inhalt und Form beschrieben, um mögliche Wirkungsweisen auf das Publikum, die teilweise auch mit zeitgenössischen Filmkritiken untermauert werden, zu beschreiben. Die in den Fließtext eingewobenen Inhaltsangaben unterbrechen allerdings die prägnante Argumentationslinie; den detaillierten Beschreibungen einzelner Szenen fehlt zumeist der Mehrwert für die Analyse und sie wirken deshalb oft wie ein Seitenfüller.

Des Weiteren ist die Qualität der Kapitel sehr unterschiedlich. So liest sich die Analyse von The 39 Steps eher wie eine lange Inhaltsangabe, wohingegen in den Abschnitten zu Rear Window und Psycho Theorien zu Skopophilie, Voyeurismus und das mediale Dispositiv des Kinos selbst thematisiert werden, um Hellers These zusätzlich zu stützen. Positiv fällt auf, dass die Analysen nicht abschweifen, sondern präzise auf die zentrale Fragestellung abgestimmt sind. Die Argumentation wird durch wissenschaftliche Literatur untermauert, ohne zu einer Zitatensammlung zu verkommen und Heller gleichermaßen Raum für ihre eigenen Gedanken zu gewährleisten. Die zitierte Literatur sowie Standardwerke sind ebenso im Anhang angeführt wie eine komplette Filmographie Hitchcocks mit Produktionsdaten.

Heller betitelt ihre Monographie als „Einführung in seine Filme und Filmästhetik“, jedoch ist das Werk nur bedingt als Einführung zu empfehlen, da das Buch weder als Werkschau noch als Überblick konzipiert ist. Die zentrale These erscheint deshalb auch für ein Einführungsbuch zu pointiert und voraussetzungsreich, um dem Wissen eines interessierten Laienpublikums zu entsprechen. Ebenso fehlt eine Kontextualisierung Hitchcocks in einen größeren filmgeschichtlichen Zusammenhang, um seiner Filmästhetik mehr Kontur zu geben und ihre Besonderheiten hervorzuheben. Auch wenn sich das Buch nur bedingt als Einführungswerk eignet und die Qualität der einzelnen Beiträge nicht konstant durchgehalten wird, erweist sich Hellers Zugang dennoch als innovativ und lesenswert.

Titelbild

Franziska Heller: Alfred Hitchcock. Einführung in seine Filme und Filmästhetik.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
201 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770557837

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