Wie ein Menschenfresser entsteht

Thomas Harris teilt mit, woher Hannibal Lecters eigentümliche Vorlieben stammen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Harris hat sich vielleicht mit dem Erfolg, den er mit der Trilogie um den gebildeten Psychiater und Kannibalen Hannibal Lecter hatte, keinen wirklichen Gefallen getan. "Roter Drache", "Das Schweigen der Lämmer" und die teilweise sogar elegant und überraschend zu nennende Auflösung im lakonisch "Hannibal" betitelten Abschlussband forderten vom Autor immer noch mehr. Immer noch mehr Unappetitlichkeiten, immer mehr Schreckensszenarien, immer noch eine unerwartete Wendung, die die Spannung immer noch weiter erhöht.

Der Schrecken, den das kurz eingeblendete Bild des Gekreuzigten in der Verfilmung von "Das Schweigen der Lämmer" auslöste, hat die Marschroute, auf der es weitergehen musste, vorgegeben. Und so war es kaum anders als noch widerlicher zu erwarten, was dann in "Hannibal" geschrieben und rasch verfilmt wurde. Naheliegend haben die schockierenden Eindrücke von Buch und Film mit den Jahren und den zunehmenden medialen Erfahrungen nachgelassen. So kann es dazu kommen, dass sich das Feuilleton über das Verspeisen von Gehirnen am offenen Schädel entsetzt, aber die Diskussion schnell in Richtung korrekter kulinarischer Bezeichnungen abdriftet. Wolfram Siebecks Sachverstand in allen Ehren - doch zeigt das nicht vor allem an, dass nichts schneller altert und sich abnutzt als der mediale Schock, sei er heilsam oder einfach nur vorhanden? Musste sich Hannibal Lecter in Jonathan Demmes Verfilmung des "Schweigens der Lämmer" noch zum Essen mit einem guten Freund verabreden, damit das halbwegs traumatisierte Publikum wenigstens einen Rest geistiger Gesundheit und realitätsfernen Optimismus bewahren konnte, konnte Harris im folgenden Roman auf solche Ablenkungs- und Bewältigungsmanöver verzichten.

Nun aber geht es um die Entstehung des Monsters, das den Namen Hannibal Lecter mit gutem Recht trägt. Hannibal, der große Menschenschlächter und verkörperte Beinaheuntergang des großen Roms, und Lecter, der den Leser (beinahe) im Namen trägt. Extreme Vernichtung und äußerste Belesenheit müssen, wenn man so will, zu einer so degoutanten Aberration führen wie der großer Schlachterkennerschaft und kannibalistischem Feinschmeckerei, mit denen sich Lecter ziert. Warum sich das alles mit einem Faible für FBI-Debütantinnen verbindet, bleibt aber weiterhin rätselhaft. Wenigstens bemüht sich Harris in seinem neuen Roman um eine Erklärung für Lecters primäre, die kulinarische Leidenschaft.

Es scheint dabei, als ob sich Harris für Lecters Entstehungsgeschichte für einen Moment vom Erfolgsdruck zu befreien versuchte. Dabei ist er allerdings auf eine Lösung verfallen, die nur bedingt originell ist, aber uns das Monster der (biografisch) späteren Ereignisse beinahe sympathisch darstellt.

Alles ist nämlich wieder einmal im exemplarischen Bösen des 20. Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus, begründet, diesmal freilich im Krieg, der über Osteuropa hinzieht und eine verhängnisvolle Wirkung auf alles Gesindel ausübt, das sich auch nur einigermaßen in der Nähe unserer Hauptfigur befindet. Lecters Familie - hochgräflich wie es sich gehört, mit Schloss und landwirtschaftlichem Gut im Baltikum - gerät an eine solche marodierende Bande, die sich im Kielwasser der nach Osten ziehenden SS-Truppen bewegt. Die Eltern und die meisten der Bedienten (ja, damals hatte man so etwas noch) werden niedergemetzelt, nur der kleine Hannibal und seine Schwester Mischa überleben, zumindest vorläufig. Natürlich geraten sie in die Hände der Marodeure, die sich ihrerseits eher schlecht als recht zwischen den Frontstellungen und im immer härter werdenden Winter zu behaupten versuchen. Am Ende geschieht das, was man bereits seit der Exposition erwartet: Hannibals kleine Schwester verschwindet aus der Handlung und Hannibal verstummt für Jahre (was das Mindeste ist, das man erwarten kann). Was jeder Leser schnell vermutet, wird schließlich auch als geschehen entdeckt. Hannibal, der das Kindermassaker überlebt, kommt zum Bruder seines Vaters, einem in Paris lebenden Maler, und seiner japanischen Frau. Hier lernt er wieder zu sprechen und startet sein großes Rachemanöver. Einer nach dem anderen seiner Quälgeister, die mit den geraubten Schätzen derer von Lecter in den Nachkriegskunsthandel einsteigen, verfällt seinem verdienten Schicksal. Die schöne Kunst des literarischen Mordes wird dabei um die eine oder andere Monstrosität ergänzt (was nicht zuletzt der Verfilmung geschuldet sein wird). Auffällig nur, dass der später so raffinierte und überlegte Killer Lecter seine Aktionen als junger Mann noch einigermaßen spontan und stümperhaft einfädelt. Für seine spätere Protegée Clarice Starling (auch das ein sprechender Name, der mit Jodie Foster großes Starformat erhielt) wäre diese Ermittlung bereits ein Kinderspiel gewesen. Aber im chaotischen Nachkriegsfrankreich, noch vor genetischem Fingerabdruck und sonstigem modernistischem Ermittlungsschnickschnack, mögen die Schwierigkeiten der Flics hingehen, Hannibal endlich festzunageln. Außerdem gibt es, dramaturgisch gesehen, keine Wahl.

Keine Sorge aber, für die Harris-Leser, die sich nach alledem und trotz der mäßig splatterhaften Racheaktionen fragen, ob das bereits alles gewesen sein soll, hat der Roman am Schluss dann doch noch eine Volte zu bieten. Und mit der ist dann auch spätestens klar, dass der Sympathieträger Lecter ganz ohne Schuld an seinem persönlichen Trauma nicht ist. Freilich, die Beiläufigkeit, die den ganzen Roman prägt und mit der auch dieses Faktum mitgeteilt wird, nimmt dem Ganzen ein wenig von seiner Prägnanz und Stimmigkeit.

Thomas Harris, mit dessen "Schweigen der Lämmer" der Thriller immerhin ein neues Level erreicht hatte, scheint seinen Erfolg nur noch verwalten zu können und zu wollen. Die größten Entsetzlichkeiten nötigen Lesern, die nicht gleich unter Schlaflosigkeit leiden, wenn sie Agatha Christie lesen müssen, kaum mehr ab als dass sie zur Kenntnis nehmen, was ihnen Harris präsentiert. Das lässt für die Jahre zwischen dem Abschluss seines jugendlichen Rachefeldzugs und dem "Roten Drachen" wenig Lesenswertes erwarten. Und auch mögliche Nachfolgeromane, in denen vielleicht Lecter und seine neue Lebensgefährtin ihr Unwesen treiben wollten, sollte man kaum mit Ungeduld erwarten. Die Lämmer schweigen, der rote Drache ist erlegt, Hannibal gönnt sich die eine oder andere kulinarische Obszönität und das war's dann. Ein wenig Guerilla-Strategie gegen den eigenen Erfolg täte Harris also gut. Denn ohne Zweifel hat Harris mit dem "Schweigen der Lämmer" einiges bewegt. Ob zum Guten oder zum Schlechten, mag dahin gestellt sein. Aber im Thriller ist diese Frage ohnehin belanglos, Hauptsache Bewegung. Mit ein bisschen Glück, einer ausreichend langen Kreativpause und ein paar frischen Ideen ist vielleicht auch dem Patienten Harris geholfen, und seinen Lesern sowieso.


Titelbild

Thomas Harris: Hannibal Rising. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
304 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3455400507

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