Masken

Ole Frahm liest Art Spiegelmans "Maus" als "Genealogie des Holocaust"

Von Jonas EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Verhältnis des deutschen Wissenschaftsbetriebs zum Medium Comic ist nicht unproblematisch: Comics wurden (und werden) zumeist unter medientheoretischen Fragen untersucht, Aspekte der Verbreitung oder der Leserschichten spielten eine zentrale Rolle. Dabei konzentrierte sich die Forschung lange auf vorgebliche "Gefahren" des Mediums, was Buchtitel wie "Die Welt der Comics. Probleme einer primitiven Kulturform" belegen. Andere Länder - wie die USA, Frankreich oder Belgien - haben eine weiter zurückreichende Tradition der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Comic. So wurde er in Frankreich durch den Literaturwissenschaftler Francis Lacassin bereits 1971 als "Neunte Kunst" den traditionellen bildenden Künsten eingeordnet.

Im englischsprachigen Raum war es vor allem der Erfolg von "Maus", der eine interdisziplinäre Forschung antrieb. Allerdings beschränkte sich die amerikanische Kulturwissenschaft dann auch lange fast ausschließlich auf dieses eine Beispiel. Dass sich überhaupt mit Comics auseinandergesetzt wurde, ist wohl in erster Linie auf das Thema von "Maus", die Lebensgeschichte eines Auschwitz-Überlebenden, zurückzuführen. So war die Diskussion zunächst davon geprägt, ob man sich diesem Thema in einem Medium wie dem Comic annähern könne.

Dass "Maus" jedoch nicht trotz, sondern wegen seines Mediums besonders geeignet ist, sich Auschwitz und damit der Problematik der Darstellbarkeit anzunähern, zeigt Frahm in der ersten umfassenden Untersuchung des Werkes. Dabei kommt ihr zugute, dass Frahm mit dem Medium Comic bestens vertraut ist (als einer der Mitbegründer der Hamburger Arbeitsstelle für graphische Literatur), denn natürlich steckt "Maus" voller intertextueller (oder intervisueller?) Anspielungen, die eine wichtige Dimension darstellen und ohne Kenntnis der Comic-Geschichte nicht zu entschlüsseln sind. Gleichzeitig nimmt Frahm den Comic als Medium ernst, was seine Arbeit von einem Großteil der wissenschaftlichen Beschäftigungen mit dem Comic abhebt, die oftmals mit einer Rechtfertigung einsetzen zu müssen glauben.

Ausgehend vom Diskurs des Verhältnisses von Literatur, Kunst und Auschwitz benennt Frahm den Einfluss der jeweiligen Medialität auf die Darstellung als zentral; die Auseinandersetzung mit Auschwitz ist immer von den medialen Konventionen abhängig. Prägend für die Medialität des Comics und damit von "Maus" ist das Verhältnis von Text und Bild. "Maus" befragt die Verbindung beider Medien zur Vergangenheit: Die fotografische Erinnerung wird reflektiert, indem das Werk sich auf Zeichnungen von Häftlingen sowie Fotos bezieht, und es reflektiert die Schrift, wenn es diese im Bild wiederholt. Dabei erscheinen die historischen Fakten jedoch weder als gegebene Tatsachen, die, je nach Perspektive, anders erscheinen, noch sind sie allein der Position der Gegenwart geschuldet, aus der sie beschrieben werden. "Die historischen Fakten erscheinen in der Geschichtsschreibung in ,Maus' als befragte und umkämpfte, und diese Kämpfe können nicht durch objektive Wahrheit oder Konsens geschlichtet werden." "Maus" bündelt die verschiedenen Zugänge zum Holocaust in seiner Erzählung und reflektiert so die Möglichkeit der Darstellung der Shoah, des Erzählens selbst. Geschichte ist in "Maus" immer schon eine vermittelte, abwesende, die in der Erinnerung konstruiert werden muss.

Die Dokumente werden nicht, wie so oft, als Ikonen benutzt, wodurch ihnen ihre Kraft genommen wird (was auch Claude Lanzmann in seinem Film "Shoah" mit der Entscheidung, keine historischen Dokumente einzubeziehen, reflektiert hat). Vielmehr entziffert Spiegelman in den Panels ihre Materialität. Diese Entzifferung hat jedoch nichts mit einer Rückkehr zur Authentizität der Dokumente zu tun, die sich als wahre Bilder hinter den Zeichnungen von "Maus" verbergen. Frahm beschreibt, dass "Maus" die Dokumente in Monumente umwandelt, um deren Stummheit immanent beschreiben zu können.

In diesem Sinne ist auch die Einführung des Begriffes der Genealogie zu verstehen: Nach Michel Foucault parodieren Genealogien als ernst gemeinte Parodien der Historiografie den Anspruch metaphysischer Geschichtsschreibung und schreiben trotzdem Geschichte. In diesem Zusammenhang verweist Frahm auf Judith Butlers Begriff der Parodie: Die Identität von Subjekten konstituiert sich als strukturelle Parodie, weil diese Identität durch Ausschlüsse entsteht, die ohne Ursprung und nie abgeschlossen sind. Identität muss als performativ wiederholt gedacht werden und kann ihre "Wahrheit" in dieser Wiederholung immer nur parodieren, aber nicht authentisieren. Frahm überträgt diesen Ansatz auf den Comic und weist darauf hin, dass ein entscheidendes Merkmal des Comics eben nicht der Humor, sondern die Parodie sei, verstanden als erkenntniskritisches Verhältnis der Zeichen zueinander. Die einzelnen Panels in "Maus" sind dennoch nicht nur narrative, sondern auch performative Bilder: Zwar erzählen die Panels; ihre Bedeutung aber, ihre Reflexion stellt sich erst performativ, in der strukturellen Wiederholung her. Die Schornsteine haben eine symbolische und eine darstellende, eine narrative und eine historische Bedeutung, die sich je anders, in den Konstellationen der Seiten materialisiert.

Ebenso verhält es sich mit der Thematik der (Tier-)Masken. Die Tiergesichter visualisieren die Einschreibung "rassifizierender", nationalisierender Zuschreibungen und thematisieren auf diese Weise die Ausschlüsse und deren gewaltsame Konsequenzen. Sie zeigen so das Funktionieren historischer Machtverhältnisse, in denen die Essentialisierung der Masken zur biologischen Wahrheit von "Rassen" als Unterscheidung in "wesenhafte" und "wesenlose Rassen" durchgesetzt wurde.

Neben dem Verdienst, erstmals der Komplexität von Art Spiegelmans "Maus" in der Analyse gerecht geworden zu sein, eignet Ole Frahms Arbeit sich auch als Ausgangspunkt weitergehender Beschäftigung mit dem Medium Comic. Gerade sein Versuch, die Theorien der Dekonstruktion auf die Zeichen im Comic anzuwenden und Judith Butlers Begriff der Performativität fruchtbar zu machen, erweisen sich als wichtige Erweiterung der Analysewerkzeuge einer der Komplexität des Mediums angemessenen Comic-Forschung.


Titelbild

Ole Frahm: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS - A Survivor's Tale.
Wilhelm Fink Verlag, München 2006.
304 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3770541456

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