Die Schrift als Körper

Christian Schärfs „Poetischer Text und heilige Schrift“

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man hat zu Recht danach gefragt, ob Franz Kafkas Briefe nicht schon als Teil der literarischen Arbeiten aufgefasst werden können. Zumindest quantitativ steht der Briefwechsel den literarischen Schriften in nichts nach. Zu verdanken hat man diesen Umfang, wenn man von Max Brod zunächst absieht, vor allem Felice Bauer und Milena Jesenská. An beide hat Kafka mitunter mehrmals täglich Briefe geschrieben, an Felice von 1912 bis 1917, an Milena insbesondere im Jahr 1920. Erst die Editionen dieser Briefe durch Erich Heller und Jürgen Born („Briefe an Felice“, 1967) sowie Jürgen Born und Michael Müller („Briefe an Milena“, 1983), haben es ermöglicht, einen weitreichenden und editionsphilologisch gesicherten Einblick in die Person Kafka zu nehmen, ohne auf die gewiss verdienstvolle, aber mitunter auch sehr subjektive Vermittlung der Person durch Brod angewiesen zu sein. Allen Briefausgaben aber war gemeinsam, dass sie die Briefe spärlich oder überhaupt nicht kommentiert mitgeteilt haben.

Hans Gerd Koch, Redakteur und Herausgeber mehrerer Bände der Kritischen Kafka-Ausgabe, kommt die verdienstvolle Aufgabe zu, mit einer kommentierten Neuedition aller bisher bekannten Briefe aufzuwarten. Die Ausgabe der Briefe ist auf insgesamt fünf Bände geplant. Der erste ist erschienen und enthält die Briefe von 1900 bis 1912. Die Korrespondenz ist chronologisch geordnet. Ein Anhang mit erhaltenen Briefen an Kafka aus dem Zeitraum bis 1912 – überwiegend von der Arbeiter-Unfall-Versicherung und dem Verleger Kurt Wolff –, sowie mehrere Register, darunter auch ein hilfreiches biographisches aller Briefempfänger, runden den Band ab. Handschriftliche Korrekturen Kafkas sind nicht aufgenommen, dafür bietet der Band eine erfreulich ausführliche Kommentierung, die auch nicht davor zurückschreckt, einen Sachverhalt mehrmals wiederzugeben, wenn die einzelnen Erwähnungen dies verlangen. Lobenswert sind daneben insbesondere die Abbildungen von Postkarten, Briefköpfen und Anmerkungen Kafkas sowie die genauen und fachkundigen Verweise zu anderen Titeln über Kafka. Der Kommentar hat etwa den Umfang des mitgeteilten Briefwechsels und ist in jeder Zeile erhellend, vertiefend und lesenswert. Eine so gründliche Erschliessung des biographischen Kontextes ist bisher von keinem Kafka-Philologen geleistet worden.

Die abgedruckten Texte sind, bis auf fünfzehn, bereits bekannt. Neu ist ihre vollständige Mitteilung und ihre zeitliche, nicht adressatenbezogene Anordnung. Zu entdecken gibt es daran die Kontinuität und Entwicklung von Denkfiguren, aber auch einen amtlichen Kafka inmitten der freundschaftlichen Briefe. Aus der Anordnung wie auch aus den Briefen an Paul Kisch (ein Bruder von Egon Erwin Kisch), die in der Ausgabe von Brod noch nicht enthalten sind, wird die Herkunft von Kafkas Sprachartistik verständlicher. Kafkas immer wieder vorgetragene Enttäuschung über seine grobe Sprache (aber auch Gestik) korrespondiert mit den immer minutiöser werdenden Formulierungen, in denen die Präsenz des Verfassers wie auch des Adressaten gesichert werden soll. Verbunden damit ist eine bestimmte Art von Unsicherheit, die er 1907 gleich zweimal (an Hedwig Weiler und Max Brod) mitteilt: ”Andere Leute entschliessen sich einmal von Zeit zu Zeit und inzwischen geniessen sie ihre Entschlüsse. Ich aber entschliesse mich so oft wie ein Boxer, ohne dann allerdings zu boxen”. Die Äusserung ist analog zu Kafkas späterer Beschreibung vom „Betrügen ohne Betrug” und kann als Ausgangspunkt für die Formulierung von Aporien und für das Spiel mit paradoxen Strukturen in späteren Briefen und Texten gelten. Sie artikuliert eine frühe Krisenerfahrung, die sich im Verlauf der Jahre beinahe verselbstständigen wird.

Für die Entwicklung als Autor ist auch Kafkas Absicht aufschlussreich, den literarischen Kanon nicht in Anspruch zu nehmen und sich dem ”Eigenen” zuzuwenden. Damit verbunden ist eine Kritik an jener Art von Germanistik, wie sie August Sauer, Professor an der Prager Karls-Universität, vertrat. An Oskar Pollak schreibt Kafka nicht ohne Häme: ”Denn was Du vom Arbeitszimmer, deinem Allerheiligsten, schreibst, ist wieder nichts anderes als eine Einbildung und ein Schulgedanke und ein klein wenig Germanistik, in der Hölle soll sie braten”. Kafka attackiert ein bürgerliches Verständnis von Literatur, das ihm wie ein Ornament schmucken Interieurs erscheint. Ihm fehlt darin der Sinn für das Ästhetische wie auch die Notwendigkeit von Literatur. An Paul Kisch schreibt er über eine nicht mehr zu eruierende Geschichte: ”Eine Federundtintengeschichte mehr und nicht einmal mit besonderer Feder und aus besonderer Tinte. Eine Geschichte, die ohne Tintenfass nicht geschrieben, nicht entstanden wäre und nicht ohne weisse Papierbogen auf die man bedächtigt [sic!] halb gelesenes und halb gehörtes korrekt ja korrekt niederschreibt”. Diese Kritik und den damit implizit verbundenen Anspruch an die Literatur formuliert Kafka im Jahr 1903, neun Jahre vor der sogenannten Durchbruchszeit. Der Anspruch an die Literatur gleicht dem, was er nach 1912 als Kriterien für das ‚richtige’ Schreiben ausformulieren wird, so dass man sagen kann: Der Autor Kafka schult hier seine Vorstellung von der Art und Weise ‚richtigen’ Schreibens an der Lektüre und ihren persönlichen Rezeptionsbedingungen. Es ist die Lust der Lese- und Schreibteufel, die es später ermöglichen wird, einen Autor wie Otto Soyka neben kanonisierte Klassiker zu stellen, ohne sich mit dem Unterschied zwischen ihnen zu beschäftigen. Bücher werden nach der ästhetischen Wirkung miteinander parallelisiert, nicht nach ihrer ästhetischen Programmatik. Kafka liest und schreibt persönlich. Die Vorstellung vom Schreiben als Gebären, die Betonung des Schreibglücks, das Hadern mit den Schreibteufeln und auch das ambivalente Verhältnis zu Goethe (und damit zum literarischen Kanon) sind in den ersten Briefen Kafkas vorgeprägt. Eine Veränderung in der Haltung tritt mit den Briefen an Felice ein. Der Autor, der auf der Suche nach dem Schreibglück ist, findet es im Zustand des Verliebtseins. Nun kann er nicht nur schreiben, sondern im Schreiben auch lieben.

Die Konturen von Kafkas literarischer Entwicklung werden von den Briefen an Felice aus dem Jahr 1912 geradezu unterbrochen. Auffällig ist allein die Textmasse: In kaum einem halben Jahr schreibt Kafka mehr als in den 11 Jahren zuvor. Allein aus diesem Grund lässt sich annehmen, dass Kafkas literarische „Durchbruchszeit“ eng mit dem Briefwechsel verwoben ist. Dann aber sind die Briefe an Felice nicht bloss ein Muster für die literarischen Arbeiten sondern die Ermöglichung einer neuen Art des Schreibens. Die Schreibhaltung beim Verfassen von Briefen wird auf diejenige von literarischen Texten übertragen. Im Augenblick der Produktion strebt Kafka eine vollständige Transparenz der Sprache an, die die Briefpartner nicht mehr medial vermittelt, sondern konturiert aus der Sprache hervortreten lässt. In einer solchen „vollständigen Öffnung“ liegt fortan das Glück allen Schreibens. Kafka bemerkt in den Briefen die Zeichenhaftigkeit der Sprache und die Differenzen, mit der sie einer „vollständigen Öffnung“ entgegenarbeitet, recht bald. Literarisch wird er deshalb zunehmend die Geschichten ihrer Verhinderung schreiben. In den Briefen an Felice aber arbeitet er zunächst seine literarischen Ansprüche an ein „richtiges Schreiben“ aus. Das, was Kafka in den Briefen an Felice über sein Schreiben sagt, ist das, was den Briefen als literarische Voraussetzung mitgegeben wird und seiner Erfahrung mit den Briefen zugrunde liegt.

Die Korrespondenz mit Felice aus dem Jahr 1912 ist frei von paradoxen oder aporetischen Gedanken, auch was die Schilderungen des eigenen Schreibens angeht. Sie ist lebenspraktisch gehalten und darum bemüht, zwei Personen in ihrer Integrität zu schildern. Als Durchbruch muss hier gelten, dass Kafka sich in den Polyperspektivismus einübt und die behandelten Themen immer aus zwei Sichtweisen denkt: seiner und derjenigen von Felice. Verbunden damit ist eine immense Anstrengung, Felice insgesamt zu verstehen, in ihrem Arbeitsalltag, in der Freizeit im Rahmen der Familie und der Freunde, im Leiden. In diesem Bemühen gelingt es Kafka scheinbar mühelos, sich selbst als ganze Person zu entwerfen, in der Disharmonien nur am Rande von Bedeutung sind und das Ich nicht bedrohen. Zu bemerken ist aber auch ein sorgender, geradezu väterlicher Ton Kafkas gegenüber Felice, den man mit Wolfgang Schmidtbauers Begriff des „hilflosen Helfers“ (zumindest über die gesamte Dauer des Briefwechsels hin) erfassen kann.

Die chronologische Darbietung des Briefwechsels kann in diesem Punkt zum Anlass genommen werden, die Liebesgeschichte zwischen Kafka und Felice Bauer auch in der alltäglichen Dimension (wieder) zu entdecken. Vieles spricht dafür, die Beziehung zu Felice nicht aus der Dramatik der späten Briefe, sondern aus der Genese der Beziehung zu lesen: In den Briefen sprechen zwei über ihr Angestelltenlos und die Probleme des täglichen Büroalltags. In Ermangelung eines persönlichen Kontaktes – Kafka sitzt in Prag, Felice in Berlin –, werden zahlreiche Bilder ausgetauscht. Die Konzentration auf den Brief ist hier der Fünf-Tage-Woche geschuldet, den geringen Urlaubszeiten sowie der Sorge, zu wenig Zeit zum Schreiben zu finden. Im Dezember 1912 will Kafka beispielsweise zwei Tage Urlaub nehmen und erwägt, ob er die Zeit zum Schreiben oder zur Reise nach Berlin nutzen soll. Das Büro, das er in diesen zwei Tagen nur vormittags aufsucht, um dann nachmittags zu schreiben, entscheidet in gewisser Weise für ihn.

Die sprachliche Engführung der Beziehung auf den Brief beruht auf der Zeitknappheit (zwei mal acht Stunden trennen beide, schreibt er). Davon, dass Kafka die Beziehung auf den brieflichen Kontakt beschränkt wissen will, ist nichts zu lesen. Auch schreibt Felice Bauer nicht viel weniger an Kafka, als dieser an sie. Angesichts der Umstände entwickelt sich 1912 eine normale Liebesgeschichte mit klassischen Geschlechterrollen: ein werbender, mitunter eifersüchtiger Mann sucht eine selbstständige und ihn nicht weniger liebende Frau (unnötigerweise möchte man sagen) in den Bannkreis seiner Liebe zu ziehen. Ein gewichtiger Unterschied zu alltäglichen Liebesgeschichten mag darin liegen, dass nicht jeder die sprachlichen Fähigkeiten besitzt, so geschickt zu werben wie Kafka. Hier kommt ihm die Briefform entgegen. Um wieviel schwieriger muss es aber für ihn gewesen sein, die papierene Bestform gegen die leibliche Unpräsenz einzutauschen, die er sich immerzu attestiert hat. Je entschiedener er brieflich wirbt, um so stärker legt er die Fallstricke zur Verhinderung des Zusammenkommens aus. Die Gefahr bemerkt er in den Briefen selbst, seine Vorschläge, einen ruhigen Briefwechsel zu führen, das Bewusstsein von den Grenzen der Möglichkeiten des Briefes und anderes mehr zeugen davon.

Titelbild

Christian Schärf: Franz Kafka - Poetischer Text und heilige Schrift.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000.
ca. 200, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3525012284

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