Die Dramatik des Wartens

Ein Reisebegleiter von Andrea Köhler durch die "Lange Weile"

Von Petra RoggeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Rogge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lebenskunst, meint Wilhelm Schmidt, setzt an bei dem Verhältnis des Selbst zu sich - und fährt fort bei der Beziehung zum Anderen. Das wirft Fragen auf. Fragen, denen sich die "Bibliothek der Lebenskunst" seit geraumer Zeit widmet. Es sind Fragen nach dem "guten, vielleicht richtigen Leben", nach seiner bestmöglichen Formung. In den im Insel Verlag erscheinenden "Reisebegleitern" erfahren Lebenskunst-Touristen beispielsweise, wie sich für ihre Welt das Wahrhaftige gegen das bloß Schöne verteidigen lässt (Jochen Hörisch), wie Unterschiede gegen das Faktische gerettet werden können (Alexander Kluge). Wie sich das Fehlerhafte vor dem Perfekten in Schutz nehmen (Manfred Osten) und das ewig Jugendliche der 50plus-Generation kritisch gegen das "würdige" Altern stellen lässt (Hannelore Schlaffer) - oder wie im Fall die kurze Weile gegen die "Lange Weile" erzählend abgewogen wird.

Andrea Köhler, die in New York lebende Kulturkorrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung, hat in der Lebenskunst-Reihe einen Essay "Über das Warten" verfasst. Dabei sind ihre Ausführungen nicht auffällig wägend, sondern eher interessant beharrlich (und) in eigener Sache sprechend. Entlang am Schlagwortfaden zumeist literarischer Autoren gesellt sich Andrea Köhler zu jenen Protagonisten, für die das Warten in ein nicht enden wollendes Er-Warten geschrieben wurde - und zwar dorthin, wo sich die Lange-Weile als Drama mit der (romantischen) Liebe verbindet. Denn "der Wartende will vom Warten so wenig erlöst werden wie der Liebende von der Liebe".

"Wer wartet", stellt Köhler fest, "bereitet im Kopf eine Bühne, auf der er den Monolog des Wartens aufführt", was etwas verkürzt so tönt: "Eine Person, die uns teuer ist, lässt uns warten. Als erstes werden wir wahrscheinlich die möglichen Gründe im Kopf durchspielen - die verspätete U-Bahn, eine unaufschiebbare Sache im Job [...]. Das nächste kann Ärger sein: Immer kommt der, kommt die andere zu spät! Sodann gehen wir nochmals die Daten durch, Montag, halb vier, in dem Caféhaus am Markt. [...] Was, wenn dem anderen etwas passiert ist? Wenn wir Glück haben, widerspricht die Vernunft, um den Preis allerdings, dass sich bald Enttäuschung breit macht und sich zugleich ein böser Verdacht zu regen beginnt: Ist nicht doch Missachtung unserer Person im Spiel? [...] Besser lenken wir uns jetzt ab, bis er eintritt und wir ihn mit einem Vorwurf oder besser noch: einer großmütigen Absolution empfangen können."

Das Warten, ein existenzielles Dramenstück? Erster Akt: Eine Verabredung mit einer freudig (er)wartenden Protagonistin. Letzter Akt: Mögliches Zusammentreffen des teuren Erwarteten mit der zwischenzeitlich von Angst und/oder Zorn erfüllten und dabei Strategien des (abstrafenden) Ablenkens entwickelnden Wartenden. Der Monolog wird zur Brücke über den "genuinen Horror vacui des Wartens", zur dramaturgischen Maßnahme, die präsent hält, dass zwischen dem ich hier und du dort immer auch ein ich komme nicht liegt. Womit dann jedwedes kompensatorisches Verhalten im Zwischenraum gerechtfertigt wäre: Vom sportlichen Eifer ("bis du wiederkommst, werde ich das und das fertig gemacht, dieses und jenes verändert haben") über den "animalischen Trotz des Herzens" der umsonst Wartenden besseren Wissens bis hin zum Ausholen eines inszenatorischen Gegenschlags ("Warte nur, balde. Wartest du auch!").

Andrea Köhler unterschlägt den etymologischen Weg des Begriffs vom eher aktiven auf etwas beziehungsweise. jemanden Acht haben bis hin zum deutlich passiven Er-Warten nicht - und sicher hat sie noch anderes im Sinn als das Warten von Emma Bovary auf Rodolphe. Allerdings beharrt sie doch sehr auf dem seit dem 18. Jahrhundert möglichen Bedeutungsstrang der "Qual" des Wartens auf - und dem ist immer auch das in der verzögerten Zeitspanne liegende Glücksversprechen des ich komme wieder eingeschrieben: Da ist den Wartenden eine hoffnungsvolle "Angst" zueigen, eine zuversichtliche "Ohnmacht", ein optimistisch gestimmter "Schmerz". Da erzeugt das Warten "Temperaturen", da warten Protagonistinnen mit "frierendem Herzen, mit heißem Verlangen". Dort aber, wo dergestalt die Lebenswelt der Wartenden von Ungeduld und Sehnsucht bis hin zum Wahn getragen wird, da verbleibt das Warten nicht schlicht im ich-hier-und-du-dort. An eine Offenheit in dem durch das Warten entstehenden Zwischenraum ist ebenfalls kaum zu denken. Dafür liegt für das Warten als Lebenskunst das Verharren der so Wartenden nahe. Und es ist für die Lange-Weile jene Deutung zu nehmen, nach der die Verharrenden von den Erwarteten in eigentümlicher Weise abhängig sind: "Wer wartet", meint Köhler, "ist derjenige, der mehr liebt."

Für Lebens-Einrichter, die dieser hoch emotionalisierten und dabei noch strategisch verfahrenden "Dramaturgie des Wartens" nicht recht folgen können oder aber gerade im dramaturgischen Verlauf die Fallstricke eigener Strategien des Wartens für sich erkennen; die weder die Zumutungen des Wartens für sich verstehend nachvollziehen noch den Versprechungen aufschiebender Verfahren glauben mögen, für die ist der von der Autorin vorgestellte "Rhythmus des Wartens" nur schwer zu halten. Um der "Pause, der Langsamkeit und dem Warten auch ein paar erfreuliche Seiten abgewinnen zu können", bedarf es nicht unbedingt der hier ausgewählten (literarisch) vermittelten Welt im Bilde eines irgendwie modern gewendeten Märchenprinzen, durch dessen Erwartung die Wartende erst sich selbst zu erfahren vermag. Ganz slow modern lässt sich dort, wo Andrea Köhler eine Pausenlosigkeit für unsere Lebenswelt diagnostiziert und die Lange-Weile dagegenhält, auch an ganz Anderes denken.

Wer also demnächst sehnsüchtig "auf ein Zeichen von einer geliebten Person" wartet, wem dabei im Rücken die Angst vibriert, wer sich so geworfen abhängig fühlt und es nicht zugeben mag, wer aufwändige Erklärungen für das Ausbleiben des Erwarteten erfindet und nicht dran glaubt, wer so dem "Training des Herzens", dem Appell an die eigene Vernunft folgt und sich sagt: ,Du wartest jetzt nicht!', der mag sich die Frage stellen, ob das "unendlich Mannigfaltige" (H. Schmitz) des Menschmöglichen nicht mehr hergibt, als die obenauf liegenden Deutungsmuster des Wartens. Fernab von jedwedem religiös codierten Aufschiebeverfahren (inklusive der parodistisch bearbeiteten Heilserwartung) könnte die Wartende vielleicht einen Schritt aus dem Warten heraus wagen - und eine "Warte" auskundschaften, von der aus sie besser Ausschau halten kann, anstatt im Verharren dem (noch nicht) Kommenden im freudigen Erleiden entgegenzusehen.


Titelbild

Andrea Köhler: Lange Weile. Über das Warten.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
100 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783458173748

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch