Dürrenmatt und seine Pfeife

Eine wenig überzeugende Literaturgeschichte der Schweiz

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mag sein, dass der Berner Germanist Peter Rusterholz recht hat und wirklich dringender Bedarf besteht an einer "Geschichte der Literatur aus der Schweiz, die sich nicht auf das 20. Jahrhundert beschränkt, sondern Literatur in historischer Entwicklung darstellt". Wahr ist, dass es an einer aktuellen Gesamtdarstellung fehlt, "die Texte nicht nur in rein literaturgeschichtlicher Perspektive sieht, sondern im Kontext der Geschichte der Kulturen, der Geschichte und Politik der Schweiz". Am Vorwort zu der neuen "Schweizer Literaturgeschichte", die Peter Rusterholz zusammen mit Andreas Solbach herausgegeben hat und an der 13 weitere Literaturwissenschaftler und Kritiker mitgearbeitet haben, mag manche Akzentsetzung überraschen - direkt widersprechen wird man den Herausgebern aber gewiss nicht. Nur: Was diesem Vorwort folgt, löst den dort formulierten Anspruch nicht annähernd ein. Milder formuliert: Diese "Schweizer Literaturgeschichte", deren giftgrünes Cover ein sein Pfeifchen schmauchender Dürrenmatt ziert, lässt viele Wünsche offen. Nein, man muss es doch noch ein bisschen deutlicher sagen: Sie lässt ganz einfach zu viele Wünsche offen.

Der Kern des Übels liegt in der Gesamtkonzeption. Es geht nicht an, die von Doris Jakubec dargestellte "Literatur der französischen Schweiz" auf 40, die von Antonio Stäuble skizzierte "Literatur in [sic!] der italienischen Schweiz" auf acht und die merkwürdigerweise in zwei Kapiteln erläuterte rätoromanische Literatur auf 20 Seiten abzuhandeln und diese an die 430 Seiten anzuhängen, die der deutschsprachigen Literatur des Landes vorbehalten sind. Hier stimmen die Proportionen ganz und gar nicht. Und auch innerhalb der ersten 430 Seiten sind die Prioritäten falsch gesetzt. Bei aller Liebe zu den beiden in ihrer (auch internationalen) literarischen Bedeutung gar nicht zu überschätzenden Dioskuren: 23 Seiten zu Max Frisch und sogar 31 zu Friedrich Dürrenmatt, insgesamt also 54 (noch dazu auf weite Strecken wenig inspirierte) Seiten - das ist im Kontext dieses Buches einfach zu viel des Guten. Das 20. Jahrhundert, das hier mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs einsetzt und Robert Walser, einen der größten Schweizer Literaten jener Epoche, in die Zeit davor abschiebt, ist generell überrepräsentiert - auf Kosten der von Claudia Brinker kenntnisreich, aber auch sehr konventionell dargestellten Literatur von den Anfängen bis 1700, vor allem aber auf Kosten der wegweisenden Werke des bei Rémy Charbon bis 1830 reichenden 18. und auf Kosten des bei Dominik Müller bis 1914 andauernden 19. Jahrhunderts, das vor allem durch das Œuvre von Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer Entscheidendes zur weltweiten Reputation der Literatur der deutschsprachigen Schweiz beigetragen hat. Soll man es begrüßen, wenn durch solche schiefen Gewichtungen Platz bleibt für Exkurse, etwa die sehr anregenden Bemerkungen von Stefan Bodo Würffel zur Exilliteratur des 20. Jahrhunderts oder die von Fred Zaugg vermittelten interessanten Einblicke in den "Neuen Schweizer Film"?

Um aus Elsbeth Pulvers Überblick über die Jahre von 1970 bis 2000 einigen Gewinn zu ziehen, muss man nicht mit jedem ihrer oft apodiktischen Urteile einverstanden sein. Und über Beatrice von Matts materialreichen und klugen Anmerkungen zum "Aufbruch der Frauen (1970 - 2000)", die Regula Fuchs durch einige Seiten über die Situation der Frau nach 2000 bereichert, könnte man fast die grundlegende Frage vergessen, was ein solches Kapitel in einem solchen Buch eigentlich zu suchen hat.

Man findet viel Wissenswertes und auch für die Fachwelt Interessantes in diesem mit zahlreichen Fotos und Abbildungen ausgestatteten, mit gelungenen Einzelporträts, bedenkenswerten Textinterpretationen und überraschenden Urteilen aufwartenden, in seiner Gesamtanlage allerdings auf merkwürdige Weise missglückten Kompendium, in dem übergreifende literarische Entwicklungslinien nur selten sichtbar und politisch-soziale Kontextualisierungen kaum einmal plausibel gemacht werden.

Von einem Lektorat müsste man überhaupt nicht reden, wenn es denn mit gebührender Sorgfalt und in ausreichendem Maße stattgefunden hätte. Das aber ist im Metzler Verlag, der 2007 seinen 325. Geburtstag begehen konnte und über Jahrzehnte hinweg höchst angesehen war, schon seit einigen Jahren kaum mehr der Fall. Dass peinliche Doppelungen die halbe Bibliografie unbrauchbar machen, dass man immer wieder auf falsche Namen und Jahreszahlen trifft und dass man viele weitere Druckfehler in Kauf nehmen muss, trübt den Eindruck des Buches ebenfalls entscheidend.

Was hier vorliegt, ist ein bei aller Detailkenntnis und manch anregender Passage wenig überzeugendes und noch dazu schlecht lektoriertes Buch. Eine einleuchtend strukturierte, übersichtliche, zuverlässige und aktuelle "Schweizer Literaturgeschichte" lässt weiter auf sich warten.


Titelbild

Peter Rusterholz / Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgeschichte.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2007.
529 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783476017369

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