Bild aus lauter Scherben

Andreas Höfeles Erzählung "Abweg" betreibt das Handwerk der Dekonstruktion

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wieland war im Begriff, ein frisches Blatt in die Maschine zu spannen, als sein Blick auf den Tannenzapfen fiel, der zwischen Telefon und Lampe auf seinem Schreibtisch lag. Der Tannenzapfen überraschte ihn, er wusste nicht, weshalb." Mit dieser nahezu klassischen Exposition beginnt Andreas Höfeles "Abweg", doch liegt die Überraschung während der gesamten Erzählung vor allem und fast zur Gänze beim Leser. Denn der mit dem ersten Wort eingeführte Protagonist setzt nicht nur den zufällig wahrgenommenen Tannenzapfen in Brand, sondern auch sein Manuskript und sodann die gesamte Universität, in der er arbeitet, ohne dass ein Motiv für sein Tun erkennbar wäre.

Während sich Polizei und Feuerwehr dem Brandort nähern, entfernt sich Wieland unbeschadet, um irgendwo im Lande eine neue Existenz zu erproben. Unter einem falschen Namen arbeitet er in einer Drückerkolonne, die an Haustüren Zeitschriftenabos verkauft. Eines Tages gelangt er auf diese Weise in die Wohnung einer Frau, die er zu kennen glaubt. Als sein Kompagnon indes in diebischer Absicht die Zimmer durchstöbert, zieht die junge Frau eine Pistole und erschießt ihn. Auch hier kann Wieland irgendwie entkommen, und spätestens jetzt wird deutlich, dass wir uns mitten in jener Epoche befinden, welche als "bleierne Zeit" bekannt wurde und in die auch die erste Romanveröffentlichung von Höfele ("Das Tal" 1975) fiel.

Deshalb erinnert auch in seinem jüngsten Werk, mit dem der neu gegründete Weissbooks-Verlag sein Programm eröffnet, nicht nur die heute leicht verstaubt wirkende Kulisse (Schreibmaschine, RAF-Terrorismus, Menschen aus Jugoslawien) an die 1970er-Jahre, sondern auch das damals geläufige Thema der Selbstfindung, mit dem eine Phase der "Neuen Subjektivität" eingeleitet wurde. Allerdings ist dieser Zeitraum für Höfele, einem Homme de lettres wie er im Buche steht, dieser Zeitraum nur ein zufälliger Ausgangspunkt, von dem aus er weit ausholen kann. Der lapidare Anfang hat bereits auf Kafka, am ehesten den der Tagebücher, verwiesen. Aber: "So lebten sie hin." Das ist der Erzählduktus der Romantik, ebenso: "Einmal nämlich geschah es...".

Wieland ist ein typischer Möglichkeitsmensch, voller Selbstzweifel und Orientierungsprobleme. Den zunehmend häufiger auftretenden Entfremdungszuständen, Panikattacken, deren Genese parallel zur eigentlichen Handlung erzählt wird, versucht er zunächst durch die gängigen Therapien, dann aber durch immer radikalere Schnitte zu entkommen. Dabei entfernt er sich immer mehr aus der ihn umgebenden Wirklichkeit und verwickelt sich in seine Geschichten, die schließlich, so viel sei verraten, eine eigene, durchaus plausible und überaus spannungsvolle Realität annehmen. Weil der Leser den alptraumhaften Erlebnissen als hilfloser Zeuge gegenüber steht, wird er umso stärker von dem Sog des Geschehens erfasst. Indes, je rätselhafter die Handlung wird, desto präziser, und darin liegt Höfeles Meisterschaft, wird seine Sprache, in der erst die Fatalität der Ereignisse eine klare Kontur gewinnt. Mit großem Können wird hier das Handwerk der Dekonstruktion betrieben, an deren Ende, auch dies ein romantisches Motiv, Wieland seinem Doppelgänger, dem Tod begegnet. In die Düsternis der personalen Entgrenzung fällt jedoch gegen Ende ein Lichtstrahl. Von der angestrebten und letztlich wohl gescheiterten Habilitation hat Wieland nämlich, ein weiteres Paradox, das man auch als Buch im Buche lesen könnte, lediglich den Schluss verfasst, der da, ganz unwissenschaftlich, aber höchst poetisch lautet: "Und, wer weiß, vielleicht fügte sich ihm, ehe die Welt endgültig zerbrach, aus den Scherben seines Lebens ein letztes Bild von großer Klarheit."


Titelbild

Andreas Höfele: Abweg. Eine Erzählung.
Weissbooks, Frankfurt a. M. 2008.
110 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783940888228

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