Die Theorie des Diskurses

Die Kontroversen des Gottfried Wilhelm Leibniz

Von Patrick MenselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Mensel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Jacques Derrida, dem Begründer der Dekonstruktion, steht das gesprochene Wort über dem geschriebenen Wort. Es kann nicht missverstanden werden, da die Gegenwärtigkeit des Sprechers und die durch seine Person gegebene Möglichkeit des Diskurses alle Missverständnisse im Ansatz beseitigt. Die gängige Vorstellung, dass der Prozess des Schreibens Gedanken festhalten kann, ohne dass diese verfälscht oder geändert werden, ist nach Derrida hinfällig. Ein Text habe nicht nur einen Sinn, sondern mehrere. Durch Dekonstruktion, also durch das Auseinandernehmen des Textes seien mehrere Interpretationen möglich. Eine einzige Wahrheit sei ausgeschlossen. Somit müsse das ursprüngliche, erfüllende Wort der mit Makeln behafteten Schrift vorgezogen werden.

Neu ist dieser Gedanke nicht. Im zweiten Teil des Phaidros in den Platonischen Dialogen führen Phaidros und Sokrates ein Gespräch über die Redekunst. Darin zeigt Sokrates den Unterschied zwischen der Rede und der Schrift auf. Das Geschriebene ist tot und hat stets den gleichen Inhalt. Die Dialektik im Sinne Platons kann nur durch die Rede zur Entfaltung kommen und vervollkommnet so die Unterweisung des Schülers.

Wissenschaft lebt von Kommunikation - eine Maxime, der sich auch Gottfried Wilhelm Leibniz verschrieben hatte. Am 1. Juli 1646 in Leipzig als Sohn eines Rechtsgelehrten geboren, hat Leibniz bereits in frühen Jahren lateinische und griechische Werke aus der Bibliothek seines Vaters gelesen. Sein Studium nahm Leibniz 1661 an der Universität von Leipzig auf. Zwei Jahre später erfolgte ein Wechsel nach Jena. Da ihm die Möglichkeit der Promotion zum Doktor der Rechte in Leipzig verwehrt wurde, promovierte er 1667 an der - im Jahr 1809 aufgelösten - Universität Altdorf bei Nürnberg. Anschließend begann sein beruflicher Werdegang mit seiner ersten Stelle im Dienst von Johann Philipp von Schönborn, dem Erzbischof von Mainz. Diplomatie und Politik waren schon damals wesentliche Bestandteile seiner Arbeit und zeugen von seinem großen Betätigungsfeld - ein Umstand, der auch seine Werke in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Leibniz, von einigen als Aristoteles der Neuzeit angesehen, ist ein schwer zu verstehender Philosoph. Dies rührt nicht daher, dass seine Herangehensweise und sein Denken zu kompliziert seien. Leibniz ist vielmehr einer der letzten Universalgelehrten. Seine Interessen und Arbeitsschwerpunkte beschränken sich nicht nur auf die Naturwissenschaften oder die Mathematik. Er war Philosoph und arbeitete als Diplomat. Seine weitreichenden Kenntnisse in Geschichte und Politik zeugen von einem enzyklopädischen Wissen, das sich in seinen Werken widerspiegelt. Daher muss man sich - im Sinne einer profunden Beschäftigung mit Leibniz - auch immer mit dem gesamten Spektrum der von ihm geprägten, ja sogar beherrschten Wissenschaften auseinandersetzen. Die Logik nimmt einen der höchsten Stellenwerte in seiner Philosophie ein: So geht beispielsweise das Gesetz über das Identitäts-Prinzip, mit dem sich die Identität durch das Merkmal der Ununterscheidbarkeit feststellen lässt, auf ihn zurück. Die Unkenntnis seiner Logik würde das Nichtverstehen seiner Philosophie bedeuten. Um Kontakt zu anderen Gelehrten aus den verschiedensten Wissenschaftsbereichen zu pflegen, griff Leibniz auf das Medium des Briefes zurück. Ein großer Teil seiner Ideen ist in seiner Korrespondenz festgehalten worden. In den 53 Jahren von 1663 bis zu seinem Tod 1716 erhielt Leibniz über 20.000 Briefe, die er von ungefähr 1.100 Korrespondenten zugeschickt bekam. Daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Briefwechsel Leibniz' am 15. Juni 2007 vom Internationalen Beraterkomitee in das UNESCO-Programm Memory of the World aufgenommen wurde. Eine repräsentative Auswahl dieser Briefwechsel finden sich auch im vorliegenden Werk in englischer Sprache wieder. Übersetzt und kommentiert wurden sie von Marcelo Dascal, Professor für Philosophie an der Universität Tel Aviv, sowie von Quintín Racionero und Adelino Cardoso. In 45 Kapiteln werden Leibniz' Briefwechsel nach Themen sortiert vorgestellt. Dabei wurde größter Wert auf eine vollständige Abdeckung aller Themen gelegt. Sie reicht von der "Characteristica universalis", Leibniz' Versuch eine Universalsprache zu entwerfen, über seine Lehren zur Logik bis hin zur Darlegung seiner juristischen Arbeitsweise.

In diesem Zusammenhang sind die Briefe von und an Johannes Werlhof, Professor an der Universität Helmstedt, hervorzuheben, in denen die juristische Argumentationstechnik Leibniz' genauestens aufgezeigt wird. Werlhof veröffentlichte 1696 eine Schrift zur Verteidigung Hugo Grotius' Ideen. Dieser hatte 71 Jahre vor ihm mit seinem Werk "De jure Belli ac pacis" die Grundlagen des Völkerrechtes gelegt. Schwerpunkte beider Werke bilden die Quellen des Völkerrechts, das Territorialrecht, das jeweils geltende Recht zu Friedens- und Kriegszeiten sowie die Souveränität der Völkerrechtssubjekte. Die Themen sind besonders vor dem Hintergrund der damaligen Zeitumstände von großer Brisanz; so die Klassifizierung des Herzogtums Burgund als heimgefallene Lehen durch König Ludwig XI. entgegen der Forderung des römisch-deutschen Kaisers Maximilian I., der die einzige Erbin des Herzogtums heiratete. Leibniz' und Werlhofs Gedankengänge ergänzen sich gegenseitig. Ihr gedanklicher Austausch führt zu präzisen und sorgfältig argumentierten Postulaten bezüglich der Verjährung und der Ersitzung an unbeweglichen Sachen sowie der Bezüge zum Erbrecht. Dennoch verstehen es beide, nicht nur die rechtliche Sicht zu erörtern, sondern auch die politischen Argumente in die Bewertung miteinfließen zu lassen. Der Einfluss der Eroberungspolitik Ludwig XIV. und die deutsche Antwort in Form des Defensivbündnisses der Augsburger Allianz sind in den Ausführungen omnipräsent.

Die sorgsam zusammengestellte Korrespondenzsammlung von Leibniz bietet eine gute Alternative zu den Gesamtausgaben seiner Schriften und Briefe, will man sich dem kontroversen Diskurs Leibniz' mit seinen unzähligen und so vielfältigen Gesprächspartnern nähern und einen Eindruck von der Fülle der behandelten Themen gewinnen. Dieser eindrucksvoll erstellte Querschnitt erlaubt dem Leser, in die Theorie des Leibniz'schen Diskurs einzutauchen.


Titelbild

Marcelo Dascal: G.W. Leibniz. The Art of Controversies.
Springer Verlag Berlin, Heidelberg 2007.
516 Seiten, 181,85 EUR.
ISBN-13: 9781402052279

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