Philologische Exegese statt Philosophischer Bergbau

Eine Aufsatzsammlung zur Beziehung von Martin Heidegger und Aristoteles

Von Mario WenningRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wenning

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als dritter Band einer Reihe, die ihre Aufgabe darin sieht, einen wegweisenden Beitrag zu der Auseinandersetzung mit dem Denken Heideggers zu leisten, widmet sich das neueste Heidegger Jahrbuch dem Verhältnis dieses "Meisters aus Deutschland" zu Aristoteles. Es handelt sich also nicht um einen Vergleich der beiden Denker, sondern um die Erforschung der Stellung, die Aristoteles im Denken Heideggers einnimmt.

Gegliedert ist der Band in drei Teile. In einem Dokumentationsteil finden sich die Mitschriften eines Teilnehmers der Seminare über Aristoteles vom Sommersemester 1921 und vom Wintersemester 1922/23. Im Hauptteil widmen sich international ausgewiesene Heideggerexperten wie Günter Figal, Walter Brogan und Franco Volpi spezifischen Aspekten der Beziehung zwischen Heidegger und Aristoteles. Daraufhin finden sich eine Reihe von Kurzbeiträgen und Rezensionen.

In den Aristotelesseminaren, die nun in Form der Mitschriften verfügbar sind, werden zentrale Stellen aus "De Anima", der "Physik", der "Metaphysik" und der "Nikomachischen Ethik" erörtert. Heidegger betont, dass es der scholastischen Aristotelesinterpretation wie auch der der Neukantianer nicht gelingt, Aristoteles aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Dabei glaubt der Ursprungsdenker Heidegger nicht, dass Aristoteles weniger weit fortgeschritten sei als die Philosophie nach ihm: "Die Modernen sind über Aristoteles nicht nur nicht hinausgekommen, sondern man steht ihm hilflos gegenüber". Auf Grund der vielen nicht übersetzten griechischen Zitate und dem stichpunktartigen Charakter der Mitschrift, ist eine zusammenhängende Argumentation jedoch nur schwerlich erkennbar. Der Text ist daher vorrangig für ein Verständnis der Entwicklungsgeschichte von Heideggers Denken vor dem Durchbruch, der ihm in seinem Hauptwerk "Sein und Zeit" gelingt, von Bedeutung.

Dass die Auseinandersetzung mit Aristoteles während der frühen 1920er-Jahre formierend für Heideggers Denken war, ist bekannt. Erst in den letzten Jahren sind im Zuge einer allgemeinen Aristoteles-Renaissance die Seminare und Schriften, die sich mit dem Griechen auseinandersetzen, detailliert erforscht worden. Der Schlüsselcharakter, der Aristoteles insbesondere in der Vorbereitungsphase zu Heideggers Hauptwerk zukommt, erklärt sich daraus, dass die "Phänomenologie des Lebens" es Heidegger ermöglichte, sich von einer objektivierenden Philosophie, wie sie der Neukantianismus und auch sein Lehrer Husserl vertraten, zu befreien. Nur so war es möglich, das In-der-Welt-sein, das Eingebundensein menschlichen Daseins in Lebens- beziehungsweise Weltzusammenhänge, fundamentalontologisch zu erschließen. Die Faktizität eines in seine Welt eingebundenen und zum Sein in Beziehung stehenden Daseins offen zu legen, war die zentrale Aufgabe, an der sich Heidegger Zeit seines Lebens abgearbeitet hat.

Dem Leben scheint alles Lebendige zu entfliehen, sobald es in das Gerüst philosophischer Begriffe gezwungen wird. Dieser Konsequenz wollte Heidegger im Rückgriff auf Aristoteles entgehen. Dabei spielt die Aristotelische Vorstellung beseelter Materie und eines materialen Seelenlebens eine Rolle. Hinzu kommt die Konzeption einer praktischen Vernunft, der phronesis, die nicht regelgeleitet ist und so einen Gegenpol zu dem Primat objektivierenden Denkens bietet.

Da die Beiträge augenscheinlich nicht unter Absprache entstanden sind, kommt es zu vielen Überschneidungen und Wiederholungen. Bei den meisten Aufsätzen handelt es sich um akribische Rekonstruktionen der Rezeption Aristotelischer Motive im Denken Heideggers. Eine Ausnahme ist Franco Volpis originelle Kritik an dem Versuch Heideggers und seiner neoaristotelischen Schüler Arendt, Gadamer und Ritter, sich auf die praktische Philosophie des Aristoteles zu berufen. Volpi betont, dass es Aristoteles - entgegen der Absichten des praxisbetonten Neoaristotelismus nach Heidegger - um eine Hinführung durch die Praxis zum theoretischen Leben, der vita contemplativa, ging und nicht etwa um politische Existenz als Selbstzweck. Zudem ist die Rehabilitierung Aristotelischer Motive in der Moderne problematisch, weil man von der praktischen Vernunft, so Volpi, keine Orientierungshilfe in einer Welt erwarten dürfe, der es an "vernünftige[m], verbindliche[m] Wissen über identitätsbildende und konsensfähige symbolische Ziele für den Menschen als Individuum und Gattung" mangele. Dies war vermutlich der Grund, warum Heidegger - im Gegensatz zu vielen seiner Schüler - Aristoteles Ansatz letztlich als unzureichend verwarf.

Wie Friederike Rese in ihrem Beitrag überzeugend zeigt, bestehen erhebliche Unterschiede in der Methode und Durchführung zwischen Aristoteles "Nikomachischer Ethik" und Heideggers "Sein und Zeit". Heidegger distanziert sich zunehmend von dem Stagiriten, nicht weil Ethik und Politik für ihn nicht wichtig wären, sondern weil im "technischen Zeitalter" ihr Aufgabenbereich von einer größeren Macht, der sich stets potenzierenden technischen Entwicklung, dominiert wird. Ethik scheint für Heidegger angesichts der globalen Problemlagen überholt zu sein. Ihre vorletzten Fragen sollten durch die letzten Fragen einer Fundamentalontologie überboten beziehungsweise kompensiert werden.

Gerade an diesem Punkt könnte man Heidegger jedoch widersprechen. Die Verteufelung der Technik in toto hätte Aristoteles nicht geteilt. Er gesteht der Technik eine Bedeutung und einen Eigenwert zu, der ihr als für verschiedene Zwecke einsetzbares Mittel nicht zukommt. Die philosophische Disziplin der Ethik begnügt sich zudem nicht damit, Handlungsanweisungen zu geben, sondern zielt auch darauf, eine Einsicht in praktische Dimensionen menschlichen Lebens zu eröffnen. Robert Metcalf und Anna Pia Ruoppo verteidigen Heidegger zwar in ihren Beiträgen gegen den gängigen Einwand, er abstrahiere von der Ethik und von der Politik; aber auch sie können letzlich nicht plausibel darlegen, worin Heideggers Ethik besteht.

Bei aller Achtung vor dem philologisch hohen Niveau, auf dem sich die Forschungsbeiträge durchweg bewegen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die in diesem Band gesammelten Aufsätze mit Philosophie - verstanden als eine begrifflich genaue Erkundung der Wahrheit - nicht viel gemein haben. Die Beiträge begnügen sich bis auf wenige Ausnahmen mit Fragen der Exegese.

Dabei hatte gerade Heidegger versucht und gefordert, Aristoteles und mit ihm die Tradition der abendländischen Metaphysik zu "destruieren" und damit denkend an sein Werk anzuknüpfen und über es hinauszugehen: "Jede Interpretation muss einen Vorsprung gewinnen, sonst leistet sie nichts (sie muss weiter sehen als der Text) [...] Das Philologische bei der Interpretation ist nicht unnötig, aber sekundär".

Nur durch vorspringende Destruktion, argumentiert Heidegger, sei es möglich, die Philosophie zu erneuern und die Struktur menschlichen Daseins zu ergründen. Mit Destruktion, wie Helmuth Vetter in seinem Beitrag betont, ist freilich nicht ein Verwüsten gemeint, sondern ein "Ab-bauen". Der philosophische Bergbau, der aus den nach wie vor anregenden Heidegger'schen Mienen Neues hervorzaubern könnte, ist in diesem Band bei aller Präzision und Quellenkenntnis leider nicht zu beobachten.


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Alfred Denker / Günter Figal / Franco Volpi / Holger Zaborowski (Hg.): Heidegger Jahrbuch 3. Heidegger und Aristoteles.
Verlag Karl Alber, Freiburg 2007.
332 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783495457030

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