Prinzip: Verantwortung

Wolfgang Erich Müller bringt uns den Philosophen Hans Jonas näher

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans Jonas ist einer der bedeutendsten Technikphilosophen des 20. Jahrhunderts. Mit "Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation" (1979), das in einer Zeit zunehmenden Umweltbewusstseins erschien (im Januar 1980 gründet sich in Deutschland eine Partei, die das Umweltthema politisch wirksam werden lässt: die Grünen), wird Jonas zum Wortführer der Technikskeptiker und gerät zugleich bei Technikoptimisten in den Verdacht, apokalyptische Drohungen aus dem Geist eines gnostischen Weltbildes auszusprechen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Uns stellt sich heute die gleiche Frage, die Jonas (und viele andere) vor dreißig Jahren umtrieb, durch die drohende Erzkatastrophe des "Klimawandels" vielleicht aufdringlicher als je zuvor: Wie setzen wir das Verantwortungsprinzip in die Tat um, mit Blick auf die Menschen, die heute leben und die, die morgen leben wollen? Was heißt es, verantwortlich zu sein, in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft?

Der durch zahlreiche einschlägige Facharbeiten, darunter zwei Monografien ("Der Begriff der Verantwortung bei Hans Jonas", 1988; "Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik", 2003) ausgewiesene Jonas-Experte Wolfgang Erich Müller platziert in diese Stimmung ein Buch über Jonas als "Philosophen der Verantwortung". Er führt den Leser schrittweise an Jonas' Hauptwerk heran, indem er biographische Erläuterungen und die Deutung früher Bücher mit Bezug zum Verantwortungsbegriff vornimmt und so verdeutlicht, wieso Verantwortung bei Jonas in der Tat ein Prinzip ist, das Leben und Werk bestimmt. Müller arbeitet dabei heraus, dass man, wie es sonst oft geschieht, keine scharfe Trennung vornehmen sollte zwischen dem frühen Gnostiker Jonas und dem späten Technikkritiker Jonas, zwischen dem tief religiösen Menschen und dem Philosophen Jonas. Diese Aspekte gehören unbedingt zusammen betrachtet, um Jonas' Konzept der Verantwortung richtig zu verstehen. Denn für Jonas ergibt sich die Notwendigkeit, das Handeln unter der Perspektive der Verantwortung zu betrachten, nur mit Berücksichtigung des Transzendenzbezugs menschlichen Daseins. Dies ist Müller bewusst.

So beschäftigt er sich nicht nur mit Jonas' verantwortungsethischer Position im Hinblick auf die Herausforderungen der technologischen Zivilisation, sondern bettet das zweifelsohne zentrale Werk in Jonas' Arbeiten zur Gnosis, seine Freiheitsvorstellung (hier bezieht sich der Autor auf das wenig bekannte Werk "Organismus und Freiheit") sowie seine Religionsphilosophie ein, denn es gehe, so Müller, darum, Jonas' "Denkweg von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik transparent" zu machen, damit das "Denken eines Philosophen nachvollziehbar werde, der wichtige Anstöße für ein wirklich humanes Leben auf der Erde gegeben hat".

Dies ist ein wichtiges Vorhaben, denn bei Jonas geht es in der Tat nicht um Technikkritik als Kulturpessimismus, sondern als Aspekt einer Perspektive auf die Schöpfung, die in der Bewahrung des Lebens für Gott das eigentliche Motiv für die Übernahme kollektiver Verantwortung der Menschheit erkennt. Müller umreißt die für Jonas' Ansatz charakteristische Vorstellung: "Auch wenn Gott sich aus der Welt zurückgezogen hat, so ist er ihr Ermöglichungsgrund und wird sie wieder zu sich zurücknehmen. Deshalb sollte der Mensch so handeln, dass Gott sein Tun nicht bereut. Er wird für Gott verantwortlich, der seiner Macht entsagt hat. Deshalb sollte der Bezug auf Gott, der die Kategorie des Heiligen darstellt, daran hindern, das Leben - als Ergebnis der Selbstkontraktion Gottes - aufs Spiel zu setzen, weil dies dann auch Gott betrifft."

Diese Position ist der heute vorherrschenden naturalistischen Sicht auf die Welt fremd. Sie lässt sich mithin nur verstehen, wenn man um das religiöse Gepräge von Jonas' Menschenbild weiß. Müllers Verdienst ist es, über diese Anthropologie als Basis des Verantwortungsbegriffs zu informieren und dabei zahlreiche wissenschaftsphilosophische Themen im Kontext des Mensch-Natur-Verhältnisses anzusprechen, die von ungebrochener Aktualität sind (zum Beispiel den Begriff der Theorie oder die Frage nach Teleologie in der Natur).

Zu dem sich von der Gnosisforschung zur philosophischen Biologie in "Organismus und Freiheit" abzeichnenden Wandel der Problemsicht von der Gott-Mensch-Beziehung hin zur Mensch-Natur-Beziehung und der dabei aufkommenden Idee eines möglichen "Eigenrechts der Natur" bemerkt Müller, dass es sich um Ergebnisse metaphysischer Überlegungen handelt. Damit macht Müller deutlich, dass sich im Ergebnis aus Jonas' Ethik eine anthropozentrische (mit dem Menschen als zur Transzendenz hin orientierten Wesen), keinesfalls aber eine physiozentrische Position ableiten lässt, denn bei Jonas wird nicht der Mensch materialisiert, sondern die Natur gleichsam vergeistigt. Auch wenn Jonas den Gegensatz von Mensch und Natur in der von Francis Bacon ausgehenden neuzeitlichen Rhetorik der "Naturbeherrschung" zugunsten eines Aufgehobenseins des Menschen im "Weltorganismus" überwindet, bleibt doch unbestritten, wer in dieser neuen Beziehungskultur maßgebend ist: Der Umwelt- und analog dazu auch der Klimaschutz ist für ihn kein Selbstzweck, sondern muss dem Menschen dienen. Verantwortlich handeln bedeutet in Jonas' Philosophie des Lebens, das beste für den Menschen zu tun, um für ihn als Geschöpf und Verrichtungsgehilfen Gottes die "Weiterwohnlichkeit der Welt" zu gewährleisten. Seine "Physiozentrik" hat demnach nichts mit der brachialen Einebnung des Mensch-Natur-Verhältnisses in der Ideologie eines fanatischen Umweltschutzes zu tun, wie er heute als Resultat einer Eskalation des guten Willens bisweilen in Erscheinung tritt.

Müllers Buch erschöpft sich aber nicht darin, Jonas' Denken mit dieser holistischen Zugangsweise angemessen darzustellen. Es nimmt zudem ausführlich Stellung. Auf die Werkanalysen folgen anhand der Rezeptionsgeschichte und der eigenen Meinung des Autors kritische Würdigungen. Das Kernstück der Auseinandersetzung bildet die Technikphilosophie aus "Prinzip Verantwortung", die Müller unter anderem an der Diskusethik Karl-Otto Apels spiegelt, der in seiner Transzendentalpragmatik Jonas' Ethik zwar deontologisiert (das "Sollen" der Verantwortungsübernahme folgt nicht aus einer Situation der Dringlichkeit, dem "Sein", sondern aus der Pflicht zur "Beteiligung an der Organisation dieser Verantwortung als solidarische Verantwortung gemäß einem formalen Diskursbezug verallgemeinerter Gegenseitigkeit"), an der zentralen Bedeutung des Verantwortungsbegriffs jedoch festhält: Menschheit als "reale Kommunikationsgemeinschaft" erhält sich durch gegenseitige Anerkennung ihrer Mitglieder, auch derer, die (noch) nicht mitreden können, die künftigen Generationen also, deren Votum es mitzubedenken gilt. Die von Jonas motivierte Reflexion von Zukünftigkeit als Ausdruck von Verantwortung im Zeitalter der Technik führt bei Apel zur "idealen Kommunikationsgemeinschaft".

Müller zeigt, dass Jonas' Ansatz durchaus anschlussfähig zu metaphysikschlanken Ethiken ist und dass er - bei aller abstrakten Ontologie und mangelnden Praxisorientierung - einen bleibenden Wert besitzt, der in der Begründung eines verbindlichen moralischen Prinzips besteht. Wenn es uns darum geht, auch und gerade angesichts des Klimawandels einen philosophisch fundierten Zugang zur risikobehafteten Welt der Technik zu erhalten, insbesondere zur Rolle, die der Mensch als Macher und Nutznießer des Fortschritts darin spielt und wenn wir zudem eine moraltheoretische Alternative zu Utilitarismus und Relativismus suchen, dann bietet der Ansatz von Hans Jonas eine Möglichkeit zur Orientierung im Beziehungsgeflecht von Mensch, Natur und Technik. Mit Wolfgang Erich Müllers sorgfältiger Studie kann dazu mehr als ein erster Überblick gewonnen werden, denn die vorgelegte Gesamtschau von Jonas' philosophischem Werk zeichnet sich durch eine Vielfalt an Aspekten, eine dennoch stringente Gedankenführung mit dem stets präsenten Fluchtpunkt "Verantwortung für die Permanenz menschlichen Lebens auf Erden" sowie nicht zuletzt durch eine genaue Prüfung der tragenden Ideen unter Berücksichtigung der aktuellen Sekundärliteratur aus.


Titelbild

Wolfgang Erich Müller: Hans Jonas. Philosoph der Verantwortung.
Primus Verlag, Darmstadt 2008.
256 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783896786326

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