Strangulierende Familienbande

Kojima Nobuos faszinierender Roman "Fremde Familie" beschreibt die verstörenden Auswirkungen der Nachkriegsjahre auf eine japanische Familie

Von Peter MünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Münder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Miwa Shunsukes Ehefrau Tokiko mokiert sich über ihn, die beiden Kinder Ryochi und Noriko wollen ihren Vater auch nicht mehr als ultimative Autoritäts-Instanz akzeptieren und die verschlampte Haushälterin ist offenbar nur noch auf die lässige Umverteilung von Schmutz spezialisiert. Doch Shunsuke, 45jähriger Uni-Dozent und Übersetzer amerikanischer Literatur, scheint sich mit einer merkwürdig lethargischen Indifferenz mit seiner misslichen Lage abgefunden zu haben. Shunsuke mag noch so verständnisvoll oder großzügig reagieren, er kann es offenbar niemandem recht machen. Obendrein besucht noch der junge amerikanische GI George seit einem Monat die Familie, doch die Affäre mit Tokiko, die sich da anbahnt, kann oder will Shunsuke nicht mit einem Machtwort verhindern.

Ein schicksalhaftes Verhängnis nimmt seinen Lauf - und Shunsuke kann nur hilflos und situationsbezogen reagieren, ohne ein überzeugendes Konzept oder einen Plan dafür zu entwickeln, wie es weitergehen soll mit dem geplanten Bau des neuen Hauses, mit der anvisierten Entlassung der Haushälterin und der verhängnisvollen Beziehung seiner Frau zum naiven George, der auf Kommando den Charleston wie ein Tanzbär vorführt. Shunsuke möchte zwar das traditionelle Rollenverhalten als Vater, Ehemann und souveräner Hausherr an den Tag legen, doch er ist damit total überfordert - seine fehlende Spontanität und eine unterentwickelte Identitätsstärke führen zu einem grotesken Defizit, das ihn die Rolle nur sporadisch ausfüllen lässt.

"Was sollte er jetzt sagen? Was tun? So etwas stand in keinem Buch und es hatte ihm auch niemand beigebracht", räsonniert er während eines heftigen Streits mit Tokiko. Die ist nicht nur völlig uneinsichtig wegen ihrer Affäre mit George, sie wirft Shunsuke auch noch vor, ihr die Jugend gestohlen zu haben - und überhaupt: "Wenn man mit einem Menschen wie Dir zusammen ist, dann müssen einfach die unmöglichsten Dinge passieren".

Der punktuellen Sichtweise Shunsukes entspricht die Erzählhaltung des Autors Kojima, die auf Exposition, Hintergrundinformationen oder ausführliche Figurenzeichnungen ebenso verzichtet wie auf hintergründige Analyseversuche oder auf tiefschürfende Psychogramme. Mit einer lakonisch-naturalistischen Erzählhaltung wird hier das Schicksal einer japanischen Familie während der unmittelbaren Nachkriegsepoche abgehandelt, deren ethisch-moralischer Kern verloren gegangen ist. Ein dünnes symbiotisches Band verbindet diese Familie zwar noch - doch ist es durch Sachzwänge, verkorkste Erwartungshaltungen und komplexbeladene Verhaltensmuster bestimmt. Und Shunzuke ist unfähig, diese strangulierenden, paralysierenden Familienbande zu kappen oder in eine positive Richtung zu lenken. Diese japanische Nachkriegsepoche ist mit ihrem traditionellen, von Hierarchien und ritualisierten Verhaltensweisen bestimmten zentralen Wertesystem plötzlich aus den Fugen geraten. Wir werden folglich in einen Strudel turbulenter Ereignisse gerissen, doch glücklicherweise verzichtet der Erzähler darauf, uns mit bedeutungsschwangerem Oberlehrergestus auf naheliegende Erklärungsmodelle hinzuweisen. So entfaltet dieser ungewöhnliche Roman sofort eine ungewöhnliche Faszination und Eigendynamik und zieht uns schon auf den ersten Seiten in einen unwiderstehlichen narrativen Sog.

Der Romancier, Dramatiker und Übersetzer Kojima Nobuo (1915-2006) schrieb den Roman "Hoyo kazoku" (direkt übersetzt "Umarmungsfamilie") 1961, als er, so wie seine Hauptfigur Shunsuke, mit dem Bau eines neuen Hauses begann und seine Frau an Krebs erkrankte. Kojima war während des Zweiten Weltkriegs ab 1942 in China eingesetzt worden, er kehrte erst im Frühjahr 1946 nach Japan zurück und hat offenbar - wie der brillante Übersetzer Ralph Degen in seinem scharfsinnigen Nachwort anmerkt - sein negativ geprägtes Menschenbild aus diesen chinesischen Kriegsjahren empfangen.

Der westlich geprägte Kojima war Rockefeller-Stipendiat, übersetzte amerikanische Literatur ins Japanische und erhielt hohe literarische Auszeichnungen wie den Akutagawa- Preis für die Kurzgeschichte "American School" 1954, den Tanizaki-Preis für "Fremde Familie" sowie die Auszeichnung und Titel des Kultusministeriums als "bunka koro-sha" ("Verdienter Kulturträger"). Wie seine Hauptfigur Shunsuke war auch Kojima Uni-Professor (an der Meiji-Universität) und Übersetzer, auch seine Frau war krebskrank und verstarb früh. Diese autobiografischen Bezüge sind zwar unverkennbar, dennoch liefert Kojima hier kein simples, naturalistisch eingefärbtes Familien-Protokoll.

In Augenblicken größter Not, wenn Shunsuke etwa von der Krebserkrankung seiner Frau erfährt und dann mit ihrem Tod konfrontiert wird, während er die unbeschwert Tennis spielenden Krankenhausärzte vom Krankenzimmer aus beobachtet - da durchweht ein Hauch von Tschechow'scher tragischer Melancholie diesen Roman. Die Hoffnungen und Sehnsüchte dieser Figuren, die alle auf einen trügerischen Verdrängungsprozess fixiert sind, werden allmählich auf die profane Ebene eines plumpen Konsumfetischismus konzentriert. So hofft man den Horror des Krieges ebenso aus den Erinnerungen löschen zu können wie die schwer erträglichen Folgen eines generellen Werteverlustes dieser total auf den Kopf gestellten Gesellschaft. Mit subtilen Kunstgriffen hypostasiert Kojima diesen Mikrokosmos auf eine universelle Ebene, auf der sich die Beschädigung der japanischen Psyche nach dem verlorenen Krieg widerspiegelt. Die fast übergangslose hektische Suche nach einer neuen Frau, die Shunsuke kurz nach dem Tod seiner Frau betreibt, das aktionistische Planen und Bauen eines neuen Hauses im modernen amerikanischen Stil - dahinter offenbart dieser grandiose Erzähler eine tragische Dimension permanenter Verdrängung, die im Konsum oder im prestigeträchtigen Anhäufen von Status-Symbolen Bestätigung suchen muss, um früheres Versagen und unkritisches Akzeptieren autoritärer Strukturen vergessen zu können. Wie stark ihn dieses Thema bewegte, ist auch daran zu erkennen, dass Kojima noch eine Fortsetzung von "Fremde Familie" schrieb, die 1997 veröffentlichten "Glanzvolle Tage".

Mag sein, dass hier einige Aspekte des Romans an Dostojewski oder an surrealistische Effekte Gogols erinnern; vielleicht hat Kojima Nobue seinem mitunter etwas sprunghaft zwischen direktem Erzählduktus und innerem Monolog wechselnden Erzähler auch Züge eines von Arthur Schnitzler übernommenen Verinnerlichungsprozesses implantiert. Aber Kojima, der als Übersetzer mit dem Werk vieler europäischer und amerikanischer Autoren vertraut war, hat in "Fremde Familie" einen melancholischen Erzählstil von einer ebenso eigenständigen wie betörenden Kraft entwickelt, dessen grotesk-defätistische Komik oft zu surrealistischen Effekten führt. Ein großes Lob gebührt dem in Tokio an der Hitotsubashi-Universität lehrenden Übersetzer Ralph Degen, der die diffizilen, subtilen verbalstrategischen Untiefen in den Konfliktzonen dieser "fremden Familie" so souverän auf unseren Sprachhorizont übertragen hat.


Titelbild

Kojima Nobuo: Fremde Familie. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ralph Degen.
be.bra verlag, Berlin 2008.
254 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783861249054

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