Der Splitter im Herz

Roger Willemsen ist in seinem Buch "Der Knacks" auf den Spuren des beschädigten Lebens

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Arthur Schopenhauer war der Mensch wenig mehr als ein Maulwurf. Sein ganzes Leben lang gräbt er sich blind durch die Finsternis seines Lebens, und wozu? Für "Futter und Begattung: also nur die Mittel, dieselbe traurige Bahn fortzusetzen". Ende des 19. Jahrhunderts fand man den wohligen Schauder solch deprimierender Vergleiche schick. Wie es scheint, feiert der Pessimismus heute fröhliche Urständ - angetrieben von schrumpfenden Aktiendepots und diffusen Weltuntergangsängsten.

Schopenhauer heißt heute Roger Willemsen, sein philosophisches Hauptwerk nicht "Die Welt als Wille und Vorstellung", sondern "Der Knacks". Wer glaubt, ein Buch mit diesem Titel könne nur ironisch gemeint sein, irrt. Zwar behandelt Willemsen in seinem literarischen Essay neben vielem anderen auch die Ironie, aber geschrieben ist sein Werk mit geradezu existenzialistischem Ernst.

Der Knacks also. Wie bekommt man denn so etwas? Bei Willemsen war es der Krebstod des Vaters, den er als Kind mitansehen musste. Dennoch beharrt der Fernsehmoderator und Buchautor darauf, dass man den Knacks nicht mit dem Trauma der Psychoanalyse verwechseln sollte. Er sei nicht die Folge eines einzelnen, schrecklichen Ereignisses. Vielmehr ähnele er einem Ermüdungsbruch, der einen jeden von uns irgendwann unweigerlich ereile. Und ist ein Leben erst mal angeknackst, ändert sich alles. Als erstes die Wahrnehmung. Plötzlich erscheinen selbst die Farben wie ausgebleicht, die Aromen verblasst. "Der Knacks [...] ist nicht ein Riss mit Diesseits und Jenseits, Vorher und Nachher, er ist unmerklich, er teilt nicht, er prägt."

Traumatische Ereignisse, glaubt Willemsen, lassen sich mit Narben vergleichen, der Knacks dagegen mit Falten. Falten sind keine Verletzung der Oberfläche, sondern kommen von innen, zeigen das allmähliche Altern eines Menschen, die unaufhörliche Arbeit der Zeit, die Verwandlung von Zuversicht und Lebensmut in Schwermut und Resignation. Weshalb sich der Eindruck aufdrängte, beim Knacks handelte es sich um nichts anderes als um die altbekannte Midlife-Crisis - wären nach Willemsen nicht bereits Kinder vom Knacks bedroht.

Willemsens Adressat ist der "innere", der "fragmentarische" Mensch - und nicht das souveräne Subjekt, das sich einbildet, Herr seiner Entscheidungen zu sein. Und schon gar nicht der ewig leistungsfähige Angestellte des Turbokapitalismus. Die Biografie eines Menschen betrachtet Willemsen nicht wie üblich als Abfolge von Erfolgen und Niederlagen, Auszeichnungen und Abschlüssen, Beziehungen und Neuanfängen. An den Wendemarken des "inneren" Menschen geht es etwa um die Frage, was passiert, wenn ein Menschen aufhört, weiter in seinem Hamsterrad zu rennen - weil er plötzlich erkennt, dass er längst ein Leben hat, einen Beruf, einen Partner. Weil er sich fragt, warum er nicht der geworden ist, der er hätte werden können. "In jedem Leben kommt der Augenblick, in dem die Zeit einen anderen Weg geht als man selbst. Es ist der Moment, in dem man aufhört, Zeitgenosse zu sein. Man lässt die Mitwelt ziehen."

Willemsen entdeckt das Phänomen Knacks überall: beim Erkunden von Großstädten und Museen, im Nachdenken über Selbstmörder und jugendliche Amokläufer, Tschernobyl und den 11. September, ja sogar beim Anschauen von Fußballspielen und Pornos. Vor allem aber auf Bahnhöfen, in Taxis oder auf Flughäfen erkennt der Vielgereiste Spuren des beschädigten Lebens, erblickt vom Knacks gezeichnete Gesichter, Liebespaare oder Werke der Kunst. Seine Gewährsleute findet er, wenig überraschend, vor allem in der Literatur: F. Scott Fitzgerald, Joseph Conrad, Joseph Roth oder Robert Musil liefern ihm Stichworte, Beispiele und Zitate. "Kaum beginne ich zu reden, mischt der Knacks sich ein. Er greift sich die Sprache, lässt sie vielleicht nicht stottern, teilt ihr aber etwas Resignierendes zu. Das Vergebliche spricht mit. Der Knacks wirft sein Licht über die Rede wie ein Stroboskop: er ist nicht das Licht, er ist das Prinzip seiner Brechung, und in ihm splittert alles."

Nur folgerichtig also, dass Willemsens literarischer Essay gar nicht erst versucht, so etwas wie eine systematische Abhandlung zu sein. "Der Knacks" ist eine Sammlung von Aphorismen und Reflexionen, literarischen Kurzprosastücken, Alltagsszenen und Dialogen. Eine deprimierende Lektüre - vermutlich muss man sich schon in entsprechend melancholischer Stimmung befinden, um die fortgesetzte Kunde vom Knacks nicht irgendwann einfach nur larmoyant zu finden.

Wen das nicht abschreckt, der findet auf den über 200 Seiten manch Beeindruckendes, luzide Beobachtungen über die sich ausbreitenden Haarrisse in Beziehungen etwa oder großartige Reflexionen über die Zurschaustellung von Intimität im öffentlichen Raum - aber auch manch Banales, altbekannte Topoi der Kulturkritik in neuer, bedeutungsschwangerer Form. Willemsens Sprache, der Abstraktionsgrad mancher Passagen, hat oft etwas narzisstisch Intellektuelles, eine in die eigene Formulierungskunst verliebte Scheinschärfe, weshalb man dem Schöngeist seine Klage vom Knacks nicht so recht abnehmen will.


Titelbild

Roger Willemsen: Der Knacks.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
296 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783100921055

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