Sprachevolution

Neuere Befunde zur Audiovisualität des menschlichen Sprachvermögens

Von Ludwig JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludwig Jäger

Historische Reminiszenz zum Sprachursprungsproblem

Trotz der Erkenntnisfortschritte, die die Wissenschaften in den beiden letzten Jahrhunderten auf den Gebieten der Sprache, des Gehirns und der menschlichen Gattungsgeschichte gemacht haben, können wir auch gegenwärtig nicht feststellen, dass die Frage nach den Voraussetzungen und Ursachen der Sprachevolution wissenschaftlich und philosophisch abschließend beantwortet sei. Das Problem der Genese des menschlichen Sprachvermögens steht deshalb zu Recht nach wie vor auf der Forschungsagenda von Wissenschaften wie der Evolutionären Anthropologie, der Paläoneurologie und natürlich auch der Linguistik und hier insbesondere der Gebärdensprachforschung.

Tagungen und Konferenzen wie etwa die der kalifornischen Akademie der Wissenschaften zum "Ursprung und der Ausbreitung der Sprachen" bekunden ein auch in jüngerer Zeit anhaltendes Interesse an den gattungsgeschichtlichen Umständen sowie an den philosophischen Implikationen der Entstehung jener Fähigkeit, von der Terrence W. Deacon festgestellt hat, sie insbesondere unterscheide den Menschen als die "Symbolic Species" von allen anderen Arten, die die Evolution hervorgebracht hat.

1999 schloss auch die Berliner Akademie der Wissenschaften mit einer Konferenz wieder an ihre eigene Tradition auf diesem thematischen Feld an und blickte vom Stand der heutigen Forschung zurück auf die großen Debattenbeiträge, die seit dem frühen 18. Jahrhundert in ihrem Umfeld entstanden waren und die mit der 1710 von Gottfried Wilhelm Leibniz in der ersten Akademiepublikation veröffentlichten "Kurze[n] Schilderung der Erwägungen zur Herkunft der Völker, die sich am ehesten aus dem, was die Sprachen zu erkennen geben, ableiten lässt" ihren Anfang nahm.

Der Ursprungsdiskurs, in dem theologische sowie philosophisch und zunehmend auch naturwissenschaftlich inspirierte Positionen aufeinandertrafen, intensivierte sich dann im Laufe des 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt durch die von der Berliner Akademie 1769 ausgeschriebene Preisfrage, ob die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, Sprache hätten erfinden und durch welche Mittel sie diese Erfindung hätten bewerkstelligen können. Johann Gottfried Herders Beitrag, seine "Abhandlung über den Ursprung der Sprache" von 1772, die aus dreißig - zumeist anonym eingereichten - Schriften als Sieger hervorgegangen war, stellte den letzten großen Versuch dar, das Problem des Sprachursprungs im Horizont einer philosophischen Anthropologie zu lösen.

1851, achtzig Jahre später, gab Jacob Grimm in seinem Akademievortrag "Über den Ursprung der Sprache" dann der Hoffnung Ausdruck, dass es nicht mehr die Philosophie sei, sondern dass es die Wissenschaften seien - und unter diesen besonders die Sprachwissenschaft -, die einen grundlegenden Beitrag zur Lösung des Sprachursprungsrätsels zu leisten vermöchten: "Alle sprachstudien" - so Grimm - "finden sich nun heutzutage ungleich vortheilhafter gestellt und ausgerüstet [...], ja sie sind, kann man sagen, erst in unserm jahrhundert zur wahren wissenschaft gediehen." Von der vergleichenden indoeuropäischen Sprachforschung versprach er sich deshalb - in expliziter Absetzung von Herder - "die ergibigsten aufschlüsse" über "den allgemeinen gang und verlauf der menschlichen sprache" und insbesondere "über deren ursprung." Denn - so Grimm: "Aus dem verhältnis der sprachen [...], welches uns über die verwandtschaft der einzelnen völker sichereren aufschluß darreicht, als alle urkunden der geschichte es vermögen, lässt sich auf den urzustand der menschen im zeitraum der schöpfung und auf die unter ihnen erfolgte sprachbildung zurück schließen."

Es war dann aber gerade das wachsende Wissen über die Gattungsgeschichte und die eindrucksvollen Erkenntnisfortschritte der naturwissenschaftlich orientierten vergleichenden Sprachwissenschaft, in deren Horizont die Grimm'sche Hoffnung zerstob und die die "Société linguistique de Paris" am Ende des 19. Jahrhunderts bewog, ihren Mitgliedern von einer weiteren Teilnahme an Ursprungsdiskursen abzuraten.

Die Sprachwissenschaft hat sich seitdem weithin an dieses Verbot gehalten, und Noam Chomskys Verachtung für evolutionsbiologische Fragen tat hier ein Übriges. Vielleicht ist es der Prestige-Verlust des Chomsky'schen Kognitivismus und seiner kategorischen Zurückweisung eines phylogenetischen Zusammenhanges zwischen Kommunikation und Sprache, der das Thema 'Sprachevolution' wieder auf die Agenda etwa der evolutionären Anthropologie oder der Gebärdensprachforschung gebracht hat. Und es sind auch die neueren Befunde dieser Wissenschaften, die überraschende Einsichten über die Genese des menschlichen Sprachvermögens generiert haben, Hypothesen, unter denen mir die vom gestisch-visuellen Anfang der Sprachevolution von besonderem Interesse zu sein scheint. Dieser Hypothese möchte ich mich im Folgenden widmen.

Menschwerdung und Sprache: Die Kette der Befreiungen

Werfen wir zunächst einen allgemeinen Blick auf die Evolution des menschlichen Sprachvermögens. Die Entwicklung der Sprache verläuft in etwa parallel mit der Gattungsgeschichte des Homo sapiens sapiens insgesamt und ist ein elementarer Teil von ihr. Charakteristisch geprägt wird diese phylogenetische Entwicklung zum modernen sprachfähigen Menschen, die vor etwa 40.000 Jahren in Bezug auf den gegenwärtigen bio-historischen Entwicklungsstand abgeschlossen war, durch eine - wie André Leroi-Gourhan formuliert - "Kette von Befreiungen", die aus einer Folge von ineinander verflochtenen Prozessen besteht.

Die Aufrichtung des Ganges und die so entstehende Bipedie hatten einerseits die Freisetzung der Hand von den Aufgaben der Fortbewegung und damit die Eröffnung der Möglichkeit technischen Handelns und handgestützter Kommunikation, andererseits die Entlastung des Gesichtes von den Funktionen des Ergreifens und Zurichtens der Nahrung und zeitversetzt seine Freisetzung für die Lautartikulation zur Folge; zugleich war mit der veränderten Aufhängung des Schädels "auf der Spitze einer vollständig aufgerichteten Wirbelsäule" eine "Befreiung des Gehirns" verbunden: Die Schädeldecke öffnete sich "buchstäblich wie ein Fächer", so dass insgesamt "der aufrechte Gang zu einer Steigerung der Schädeloberfläche im mittleren Frontal-Temporal-Bereich" führte (Leroi-Gourhan).

Die mit der Aufrichtung verknüpfte Vergrößerung und Veränderung des Schädels ging einher mit einer dramatischen Zunahme des Gehirnvolumens von 450 cm3 des Australopithecus-Gehirns vor circa 4 Millionen Jahren zu 1500 cm3 beim Gehirn des gegenwärtigen Menschen. Dieser Befund ist in unserem Zusammenhang äußerst bedeutsam: Bei der Region, die durch die von Leroi-Gourhan so genannte "Schädelaufrollung" neu entstanden ist - dem "Kortikalfächer" -, handelt es sich nämlich um eben jenen Bereich des Schädels, der den "Kortikalkomplex" des heutigen Menschen aufnahm, das heißt jene Region, die neben dem senso-motorischen Kortex, der vor allem der Steuerung von Gesicht und Hand dient, die Sprachareale des Gehirns beherbergt. Dieser Komplex repräsentiert - so Leroi-Gourhan - die kortikale Ausstattung der Sprache beim Menschen. Es besteht also insgesamt ein enger Zusammenhang zwischen der Aufrichtung des Menschen und den hiermit verknüpften Freisetzungen von Gesicht und Hand und der Auffaltung des Schädels in eben jenen Regionen, die die Gehirnareale für Kognition und Sprache beherbergen.

Aus diesem Befund dürfen wir wohl ableiten, dass Menschwerdung und Sprachentstehung eng miteinander verknüpft sind. John C. Eccles und Daniel N. Robinson sprechen - wie später Terrence W. Deacon - von der bestechenden evolutionären Hypothese, dass Sprachentwicklung und die für den Menschen spezifische Gehirnentwicklung Hand in Hand gingen. Auch Harry J. Jerison hat in seinem Buch über die "Evolution des Gehirns und der Intelligenz" (1973) die Expansion des Gehirnvolumens auf einen Selektionsdruck zurückgeführt, der aufgrund klimatischer Veränderungen die Entstehung eines sprachlichen Systems zur Informationsverarbeitung begünstigt habe. Allein die Entwicklung eines geistigen Instrumentes, wie es die Sprache darstelle, das eine neue Art der Konstruktion von Wirklichkeit ermöglicht habe, könne - so Jerison - die dramatische evolutionäre Zunahme von Gehirngewebe erklären. "Diese neue Fähigkeit erforderte einen enormen Zuwachs an Nervengewebe, und ein Großteil der menschlichen Gehirnzunahme rührt von der Entwicklung der Sprache her und den verwandten Fähigkeiten geistiger Vorstellungsbilder." Ähnlich wie Jerison hat auch Jacques Monod einen engen Zusammenhang zwischen der Gehirnevolution und der Evolution der Sprache gesehen. In "Zufall und Notwendigkeit" (1975) schreibt er: "Man kommt unmöglich um die Annahme herum, daß zwischen der bevorzugten Entwicklung des Zentralnervensystems und der Evolution der den Menschen auszeichnenden einzigartigen Leistungen eine sehr enge Koppelung bestanden hat, welche die Sprache nicht nur zum Produkt, sondern zu einer der Ausgangsbedingungen dieser Evolution werden ließ."

Wir können also ein erstes Resümee ziehen: Der in der Evolutionsbiologie und in der Paläoanthropologie weithin als Forschungskonsens postulierte enge Zusammenhang zwischen der gattungsgeschichtlichen Entwicklung der Sprachareale und der allgemeinen Volumenzunahme des Gehirns in den Arealen unbestimmter Funktion legt es nahe, Sprache und die durch sie möglichen kognitiven Fähigkeiten als Ergebnis einer Kette von Befreiungen anzusehen, die für die Entstehung des modernen Menschen bestimmend waren. Man kann also - angesichts der skizzierten evolutionsbiologischen Befunde - mit Erhard Oeser und Franz Seitelberger davon ausgehen, "daß die Erwerbung der Sprache als Geburtsstunde des Menschen und ihr Besitz als das entscheidende menschliche Vermögen schlechthin angesehen werden kann" (Gehirn, Bewusstsein und Erkenntnis, 1995).

Als bemerkenswert für unseren Zusammenhang muss nun insbesondere der Umstand angesehen werden, dass die Aufrichtung und Befreiung der Hand offenbar bereits beim Homo habilis (vor 1,9 bis 1,6 Millionen Jahren) zur Entwicklung eines Repertoires gestisch-kommunikativer Embleme und im Zeitraum des Homo erectus (vor 1,8 Millionen bis 300.000 Jahren) neben einer fortgeschrittenen Werkzeugkultur zu gestisch-mimischen Zeichensystemen geführt haben, die sich schließlich beim Homo sapiens zu - in Bezug auf Lexikon und Grammatik - ausdifferenzierten Gebärdensprachen entwickelten. Erst vor circa 200.000 Jahren - darauf wird noch zurückzukommen sein - findet dann offenbar mit der Auslagerung der Sprache aus dem gestisch-visuellen in das vokal-auditive System eine zweite Befreiung der Hand statt, die nun nicht mehr durch Technik und Sprache doppelt belegt war: Sprachliche Instruktion und technisches Handeln konnten nun in ein neues komplexes Verhältnis treten, das offensichtlich zu einem revolutionären kulturellen Schub führte.

Was sind Gebärdensprachen?

Ich habe in meiner bisherigen Darstellung des engen Zusammenhanges von Sprachevolution und Evolution der Gattung eine Voraussetzung benannt, die nicht selbstverständlich ist und die näher begründet werden muss: Diese Voraussetzung besteht in der Annahme, dass die Entstehung der menschlichen Lautsprachen ein relativ junges Ereignis der Gattungsgeschichte darstellt und dass ihre Herausbildung eine wesentliche Voraussetzung in der viel älteren Gebärdensprache hat. Erlauben Sie mir deshalb einige Bemerkungen zu der Frage "Was sind Gebärdensprachen?".

Grundsätzlich müssen wir zunächst festhalten: Gebärdensprachen sind natürlichsprachliche Zeichensysteme, die Lautsprachen auf allen strukturellen Ebenen ebenbürtig sind. In der Tat kann der Befund, dass sie in jeder Hinsicht eine den Lautsprachen vergleichbare Komplexität aufweisen, beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht mehr bezweifelt werden. Es gibt eine Vielzahl von Gebärdensprachen, die wie Lautsprachen in Einzelsprachen und Dialekte aufgegliedert sind. Das heißt zunächst, sie sind weder - wie Wilhelm Wundt annahm - universale Verständigungsmittel, noch sind sie - wie Friedrich Kainz meinte - "Korrelate primitiverer Geistigkeit", die nur auf "einem weit niedrigeren geistigen Niveau" möglich seien "als die Lautsprachen". Sie sind vielmehr Sprachen, die hinsichtlich ihrer kognitiven und kommunikativen Reichweite prinzipiell auf der gleichen entwicklungsgeschichtlichen und systematischen Stufe operieren wie Lautsprachen. Wie die Lautsprachen verfügen sie über die sprachsystematischen Ebenen Lexikon, Syntax, Morphologie und Phonologie, wobei ich hier auf die intensive und teilweise kontroverse Debatte zu den strukturellen Analogien und Differenzen der beiden medial verschiedenen Sprachtypen nicht eingehen kann.

Trotz dieser funktionalen Äquivalenz tritt, vergleicht man Gebärden- und Lautsprachen hinsichtlich ihrer jeweiligen medialen Formate, eine konstitutive Differenz hervor: Zwar erstreckt sich für beide Typen von Sprachsystemen die Prozessierung der Zeichen in der Zeit, doch ist die sprachliche Semiose in den Gebärdensprachen in einer für sie konstitutiven Weise mit der Operationalisierung des Raumes verwoben: Während Lautsprachen zeitlich-sequentiell artikuliert und auditiv rezipiert werden, nutzt die natürlich auch zeitlich-konsekutiv prozedierende Gebärdensprache einen räumlichen Artikulationsmodus, dessen Zeichenhervorbringungen in der Rezeption visuell verarbeitet werden.

Gebärdensprachen sind also Sprachen, die den Raum zu ihrer operationalen Entfaltung nutzen, ihn zugleich aber als sprachsystematischen oder topografischen Raum allererst konstituieren: In dem Maße, in dem sprachliche Gebärden räumlich entfaltet und visuell verarbeitet werden, entwerfen sie den Gebärdenraum in unterschiedlichen Formaten als Bühne ihrer semiologischen Performanz. Gebärdensprachen lassen sich insofern verstehen als semiologische Performanzsysteme im Raum und zugleich als zeichenförmig-visuelle Inszenierungen des Raums.

Wesentliches Organ zur sprachlichen Artikulation sind - sieht man von der Körperausrichtung und der Mimik des Gesichts ab - die Hände. Hände haben sich in der Gattungsgeschichte des Menschen - im Zuge seiner Aufrichtung zur Zweifüßigkeit - von Fortbewegungsorganen zu präzisen Manipulationsorganen fortentwickelt. Sie artikulieren sprachlichen Sinn, indem sie Raum durch spezifische Bewegungen strukturieren - und zwar so, dass sie im visuellen Modus rezeptiv als Sprachzeichen verarbeitet werden können. Raum und Bewegung - als Sichtbarkeit manueller Artikulation - sind die medialen Kennzeichen eines Typus von Sprache, der zwar den Schaltkreis von Ohr und Stimme ignoriert, gleichwohl aber alle Bedingungen humaner Sprachlichkeit erfüllt.

Die strukturelle Äquivalenz der Gebärdensprachen lässt sich auch durch neurologische Befunde validieren. Gebärdensprachen werden nämlich - wie Studien des gestörten Gebärdengebrauchs nach Hirnschädigungen sowie Studien mit Verfahren der funktionellen Bildgebung zeigen - durch die gleichen Regionen der linken Hemisphäre der Großhirnrinde gesteuert wie Lautsprachen. Beide 'Artikulationssysteme' sind auf der sensomotorischen Rinde im Vergleich zur Steuerung des Körpers insgesamt spektakulär überrepräsentiert. Auch beim rezenten Menschen kann deshalb heute noch - unter bestimmten Bedingungen - die feinmotorische Leistungsfähigkeit der Hand im Rahmen eines gestisch-visuellen Dispositivs sprachlich in Dienst genommen werden.

Schließlich weisen auch die Befunde aus der Erforschung des Gebärdenspracherwerbs nachdrücklich darauf hin, dass Gebärdensprachen natürliche Sprachen sind: Wie etwa Laura Ann Petitto gezeigt hat, durchlaufen gehörlose Kinder (gehörloser Eltern) beim Erwerb der Gebärdensprache die gleichen Entwicklungsstufen wie hörende Kinder. Insgesamt lässt sich also mit guten Gründen der Schluss ziehen, dass der Homo sapiens sapiens mit Gesicht (Mund) und Hand offensichtlich über zwei "sprechende Organe verfügt."

Dabei ist im Hinblick auf die funktionale Äquivalenz von Visualität und Lautlichkeit der Befund außerordentlich interessant, dass die Spezialisierung bestimmter Regionen der linken Hirn-Hemisphäre für Sprache offensichtlich nicht eine Sekundärfolge der Spezialisierung dieser Gehirnregion für rasche Zeitanalyse ist, wie man lange angenommen hat. Tatsächlich lässt sich die Sprachfunktion als Spezialisierung der linkshemisphärischen Sprachareale prinzipiell auch durch die visuell vermittelte, räumlich-simultane Medialität der Gebärdenzeichen realisieren. Howard Poizner, Edward Klima und Ursula Bellugi stellen deshalb fest, "daß die zeitlich-sequentielle Organisationsstruktur der [...] Lautsprachen sowie die rasche zeitliche Verarbeitung, die diese Organisation erfordert, nicht Grundlage der Sprachspezialisierung der linken Gehirnhälfte sein können." Die von Gotthold Ephraim Lessing bis Ferdinand de Saussure postulierte Überlegenheit zeitlich-sequentieller über räumlich-simultane, visuell verarbeitete Zeichen muss vor dem Hintergrund dieser Forschungsergebnisse offensichtlich ebenso revidiert werden wie die klassische Ansicht des Neurobiologen Alvin M. Liberman, es gebe eine vorrangige Verbindung zwischen Laut und Sprache. Wir können also feststellen: Gebärdensprachen operieren in einem medialen Format, in dem die Sichtbarkeit der Sprachzeichen im Raum sowie ihre visuelle Verarbeitung zu konstitutiven Momenten einer Sprachlichkeit werden, die strukturell in jeder Hinsicht der kommunikativen und kognitiven Leistungsfähigkeit von Lautsprachen gleichkommt.

Die Vorgängigkeit der Gebärdensprachen

Für die Annahme einer phylogenetischen Vorgängigkeit der Gebärdensprachen vor den Lautsprachen lassen sich nun einige Gründe anführen, von denen drei herausgegriffen werden sollen:

Gyrus angularis

Zunächst weist etwa die Existenz des in der älteren Forschung 'Lesezentrum' genannten Gyrus angularis im menschlichen Gehirn darauf hin, dass es stammesgeschichtlich einen ausgeprägten visuellen Kommunikationsbedarf gegeben haben muss, der zur Ausbildung entsprechender neuronaler Strukturen führte. Deren Existenz stellt im übrigen auch heute noch eine wichtige Basis der neuronalen Kapazität für die Ausbildung von Fähigkeiten zur visuellen Symbolverarbeitung bereit, die seit der - mit der Schrifterfindung einsetzenden - Visualisierung der artifiziellen Kommunikationsmedien notwendig wurden. Es spricht also einiges dafür, dass gestisch-visuelle Kommunikation nicht nur bereits lange vor dem Auftreten der Schrift, sondern auch bereits lange vor dem Entstehen von Lautsprachen eine zentrale Rolle im Prozess der Menschwerdung gespielt hat.

Die Vokalisationsfähigkeit von Primaten

Für einen gebärdensprachlichen Ursprung des menschlichen Sprachvermögens lassen sich noch weitere Argumente geltend machen. Zunächst deuten Befunde aus der Primatenforschung auf eine gattungsgeschichtliche Vorgängigkeit der Gebärdensprache vor der Lautsprache und damit auf eine phylogenetische Priorität gestisch-visueller vor vokal-auditiver Kommunikation hin. So findet etwa die von Michael C. Corballis vertretene These zunehmend Zustimmung, dass die Sprache sich nicht aus der Vokalisationsfähigkeit von höheren Primaten, sondern aus deren gestischem Vermögen entwickelte: Primaten sind - so Corballis - vor allem "visuelle Tiere". Die kortikale Kontrolle der Bewegungen der Hand ist bei ihnen weit besser ausgebildet als die der Stimme. Carsten Niemitz etwa hat mit Blick auf die kommunikativen Eigenschaften der äffischen Vorfahren des Menschen gezeigt, dass für eine Erstentwicklung der vokal-auditiven Sprache in der Hominisation wenig spricht. Während das Lautrepertoire etwa von Gibbons genetisch fixiert und vererbt ist, so dass sie nicht in der Lage sind, die geringste Variation des genetischen Repertoires zu lernen, sind jedoch im mimisch-gestischen Bereich "[a]lle höheren Affen und Menschenaffen [...] sehr lernfähig." So wird etwa das Imitationsspiel von Menschenaffenkindern nur durch visuelle Reize angeregt. Was sie hören, führt bei ihnen nicht zu akustischer Nachahmung. Offensichtlich hat die vokal-akustische Kommunikation - wie sich an diesen und anderen Forschungsergebnissen ablesen lässt - bei Primaten kaum eine Rolle gespielt.

Ihre speziesspezifischen und weithin nicht willkürlich kontrollierbaren Rufesysteme werden von einem evolutiv alten neuronalen System gesteuert. Die Steuerung der Stimme erfolgt bei Primaten nicht in jener Struktur des Gehirns, die mit dem Broca-Areal homolog ist, das beim Menschen die Vokalisation steuert. Es ist aber bemerkenswert, dass dieser Vorläufer des motorischen Sprachzentrums beim Menschen bei den Primaten durchaus die Handgestik kontrolliert. Von Rufesystemen der Primaten führt deshalb kein evolutionärer Weg zur menschlichen, artikulierten Vokalisation, die durch das Broca-Areal gesteuert wird. Hierfür spricht auch der Umstand, dass die anatomischen Veränderungen, die beim Menschen eine Voraussetzung für die artikulierte Sprache sind, wie etwa die Absenkung des Kehlkopfs, wahrscheinlich erst spät in der Evolution entstanden sind. Primaten-Rufe sind deshalb, wie Michael A. Arbib feststellt, keine direkten Vorläufer der menschlichen Sprache. "Es scheint" - wie Julia Fischer formuliert - "paradox, dass gerade die nächsten Verwandten des Menschen weder in der Lage sind, akustische Signale zu imitieren, noch, die bestehenden Laute flexibel einzusetzen."

Einige bedeutende Sprachwissenschaftler, wie etwa Noam Chomsky, Derek Bickerton und Steven Pinker, haben diesen Befund als Argument für die These genutzt, es gebe überhaupt keine kontinuierliche evolutionäre Entwicklung von der Primatenkommunikation zur menschlichen Sprache. Sie setzen aber mit dieser Argumentation fälschlicherweise Sprache mit Lautsprache gleich und votieren deshalb für eine so genannte 'Big-Bang-Theorie der Sprachevolution'. Aber wie in der Gebärdensprachforschung zurecht festgestellt worden ist, können Theorien dieses Typs nur die These zurückweisen, dass es eine kontinuierliche gattungsgeschichtliche Linie von den Vokalisationsformen der Primaten zur menschlichen Lautsprache gebe, nicht aber die in der Forschung inzwischen gut fundierte Annahme, dass sich die Sprachevolution ohne plötzliche Sprünge kontinuierlich im Medium visuell-gestischer Kommunikationsformen vollzogen haben könnte. Tatsächlich kann die Hypothese als gut begründet angesehen werden, dass die frühen Hominiden eher für eine sprachliche Kommunikation mit den Händen als für eine mit den Artikulationsorganen des Mundes ausgestattet waren. In der Forschung hat sich deshalb das von Niemitz vertretene Postulat weithin durchgesetzt, Sprache sei "phylogenetisch ableitbar von mimisch-gestischer Kommunikation" und insofern "primär optisch".

Spiegelneuronen und Sprachursprung

Auch ein dritter Befund spricht für die Vorgängigkeit der Gebärdensprachen vor den Lautsprachen: die Entdeckung der so genannten "Spiegelneuronen". Diese bilden - wie die Neurologen Michael A. Arbib und Giacomo Rizzolatti formulieren - ein neuronales Spiegelsystem, das "dem Gehirn gleichermaßen erlaubt, Handlungen zu erkennen und sie auszuführen": Sie sind also dadurch charakterisiert, dass in ihnen "eine klare Beziehung zwischen der beobachteten und der ausgeführten Handlung besteht". Die einschlägige Forschung spricht hier von einem "common coding", von einer gemeinsamen Kodierung von Rezeption und Aktion.

Die Rizzolatti-Forschungsgruppe in Parma hat das Spiegelsystem bei Experimenten mit Makaken entdeckt. Dort zeigte sich, dass eine bestimmte Gruppe von Neuronen nicht nur feuerte, wenn die Versuchstiere selbst Handbewegungen wie Greifen, Halten und Manipulieren von Objekten durchführten, sondern auch, wenn sie analoge Bewegungen bei den Experimentatoren sahen. Das Sehen bestimmter bedeutungsvoller Handbewegungen der Forscher löste also bei den Makaken die Aktivierung genau jener Neuronengruppe aus, die auch für die Durchführung entsprechender eigener Handbewegungen zuständig gewesen wäre. Spiegelneuronen sind Teil einer Gruppe von Neuronen in einem Areal der Großhirnrinde von Primaten (F5-Neuronen), die für bestimmte motorische Handlungen zuständig sind - insbesondere für das visuell geleitete, zielgerichtete Greifen mit der Hand. Diese Neuronen bilden einen kortikalen Schaltkreis, der visuelle Informationen über Eigenschaften von Objekten in Handbewegungen übersetzt, die ihre (präzise) Ergreifung erlauben. Neuronen dieses Typs haben also sowohl sensorische als auch motorische Eigenschaften; sie sind nicht nur in der Lage, motorische Handlungen zu kodieren, sondern auch auf die visuellen Merkmale zu antworten, durch die die Handlungen ausgelöst werden. In gewissem Sinne 'klassifiziert' das System Objekte der äußeren Welt hinsichtlich ihres Wertes für ein handelndes (greifendes) Subjekt. Es versieht auf diese Weise Objekte auf einem vorbegrifflichen Niveau mit 'Bedeutung'.

Spiegelneuronen verfügen nun über die skizzierten Eigenschaften hinaus über eine zusätzliche Eigenschaft: Sie feuern nämlich nicht nur bei blickgeleiteten Eigenhandbewegungen wie Greifen, Halten und Manipulieren von Objekten, sondern auch bei der Beobachtung analoger Bewegungen bei anderen. Die bei anderen Individuen beobachteten Handlungen lösen offenbar bei den Beobachtern dieselben neuronalen Muster aus, die während der eigenen Ausführung der entsprechenden Handlungen aufträten.

Das 'Spiegelsystem' integriert also nicht nur die visuellen Eigenschaften von Objekten im Hinblick auf zielgerichtete eigene Greifbewegungen, sondern darüber hinaus auch die visuellen Eigenschaften der zielgerichteten Handmotorik anderer Subjekte, die in absichtsvoller Weise mit Objekten umgehen. Es verknüpft also im selben neuronalen Schaltkreis die Klassifikation von Objekten je nach der Handform, die nötig ist, um sie zu ergreifen, und das 'Fremdverstehen' von Hand-Gesten anderer. Auf der Basis dieser Befunde schlagen nun Rizzolatti und Arbib vor, die Entwicklung der menschlichen Sprachzentren in der Gattungsgeschichte als die Konsequenz der Tatsache anzusehen, dass der Vorläufer des Broca-Areals bei höheren Primaten bereits vor der Sprachentwicklung mit dem Mechanismus ausgestattet war, die Handlungen anderer zu erkennen: "Dieser Mechanismus" - so Rizzolatti und Arbib - "war die neuronale Voraussetzung für das Entstehen interindividueller Kommunikation und schließlich der Sprache."

Die Entdeckung des Systems der Spiegelneuronen, das inzwischen auch für Menschen nachgewiesen wurde, legt also die Hypothese nahe, dass sich die Sprache als Gebärdensprache aus der Möglichkeit reziproken Gestengebrauchs entwickelte, der durch das neuronale Spiegelsystem ermöglicht wurde. Diese Hypothese wird auch durch den Umstand gestützt, dass das Areal des Makaken-Gehirns, in dem die Spiegelneuronen angesiedelt sind, homolog ist zum Broca'schen Sprachareal des menschlichen Gehirns. Zugleich würde durch eine solche Deutung der Rolle der Spiegelneuronen für die Sprachentstehung auch der enge Zusammenhang zwischen der durch Handformen bewerkstelligten Klassifikation von Gegenständen, einer Leistung der Kognition, und dem Entstehen von sozial geteiltem Wissen durch einen intersubjektivem Gebärdengebrauch, also letztlich der Zusammenhang von begrifflichem und hermeneutischem Wissen, deutlich: Denn in der Tat sind an der Hand-Objekt-Interaktion neben den F5-Neuronen auch Neuronen des Sulcus temporalis superior (STS) beteiligt. Bei dieser Gehirnregion, deren Rolle für crossmodale Begriffsbildung bei Primaten bereits die ältere neurologische Forschung nachgewiesen hat, handelt es sich um ein Areal, das im Makaken-Gehirn homolog zum Wernicke-Areal des menschlichen Gehirns situiert ist - dem für die semantische Verarbeitung von sprachlichen Zeichen verantwortlichen Sprachareal.

Folgt man dem bislang skizzierten Entwicklungsmodell, so hat sich also in der Evolution des Menschen die stimmliche Modalität der Sprache erst mit einiger Zeitversetzung nach der gestisch-visuellen herausgebildet und diese erst sehr spät substituiert, nachdem beide Systeme über einen längeren Zeitraum parallel existierten. Die Entstehung des menschlichen Sprachvermögens wäre also - folgt man der Evolutions-Hypothese Corballis' - für eine Zeitspanne von beinahe zwei Millionen Jahren durch einen audio-visuellen Rahmen bestimmt, in dem sich die Gewichte zwischen visuellem und akustischem Zeichengebrauch allmählich zugunsten des letzteren verschieben, ohne dass die neuronale Ausstattung für beide 'Sprachorgane' verloren gegangen wäre.

Auch wenn im Verlaufe der Gattungsgeschichte die gestisch-visuelle durch eine vokal-auditive Sprache verdrängt wurde, darf dieser Übergang gleichwohl nicht als ein Substitutions-Prozess verstanden werden. Dies lässt sich unter anderem an der Tatsache ablesen, dass sich auch gegenwärtig noch der natürliche Spracherwerb im Falle von angeborener Gehörlosigkeit ohne jede sprachstrukturelle Einschränkung als Erwerb einer Gebärdensprache vollziehen kann. Das gestische Sprachzeichenvermögen bleibt also als visuelles Programm auch nach dem erfolgreichen Auftreten der vokal-auditiven Sprache prinzipiell erhalten, und man kann durchaus feststellen, dass dem gegenwärtigen Menschen prinzipiell beide Sprachmodalitäten zur Verfügung stehen.

Die Entdeckung des Spiegelsystems liefert so einige Evidenz für die Annahme, dass sich das menschliche Sprachvermögen phylogenetisch nicht aus stimmlichen Kommunikationsformen entwickelte, sondern gleichsam auf dem Rücken einer visuellen Sprachlichkeit entstanden ist. Sprachlichkeit scheint sich - vieles spricht dafür - ursprünglich im Horizont gestisch-visueller Signifikativität entwickelt zu haben. Die Fähigkeit zur Produktion und Verarbeitung visueller Semantik gehört deshalb zu den gattungsgeschichtlichen Grundausstattungen der menschlichen Spezies. Es ist nicht zuletzt dieses visuelle Zeichenvermögen, das die phylogenetisch späte Entwicklung von Graphismus und Schrift sowie die der jüngeren medialen Formen visueller Kommunikation möglich gemacht hat.

Die Entdeckung des neuronalen Spiegelsystems ist dabei noch in einer anderen Hinsicht von zentraler Bedeutung. Wenn - wie Arbib glaubt - das Spiegelsystem einen neuronalen Mechanismus für soziale Interaktion liefert, wenn es - wie Vilayanur S. Ramachandran formuliert - eine basale Voraussetzung für die Möglichkeit darstellt, die Intentionen anderer zu verstehen und eine "theory of other mind" zu entwickeln, so ist zugleich klar, dass in die kognitive und soziale Entwicklung des Menschen von Beginn an konstitutiv eine visuelle Sprachzeichenverarbeitung eingewoben ist. Die von Gallese und Goldman "mind-reading" genannte Fähigkeit, das Vermögen also, über die mentalen Zustände anderer, ihre Perzeptionen, Ziele, Überzeugung, Erwartungen und Verstehenshypothesen zu generieren, hätte sich ursprünglich in einem Rahmen räumlich-visueller Kommunikativität entfaltet.

Ausblick: Audiovisualität der Sprache und Pictorial Turn

Ein nicht unwesentlicher Teil der gegenwärtigen Diskurse in den Kulturwissenschaften wird von dem Versuch bestimmt, gegen einen Kritik-Gestus, der in der Visualisierung rezenter Medienkulturen eine anthropologische Überforderung des 'posttypographischen' Menschen sieht, das Bild oder mehr noch eine piktorale Vernunft wieder in ihr Recht zu setzen. Sowohl die Kritiker als auch die Apologeten des Bildes gehen dabei in einer grundlegenden Weise von der Entgegensetzung von Bild und Sprache, von Ikon und Logos aus. Abschließend möchte ich aus der Perspektive des skizzierten Befundes zur Audiovisualität des menschlichen Sprachvermögens einige Bemerkungen zu Bildkritik und Bildapologie machen.

Dabei soll es mir der Blick auf das gattungsgeschichtliche Verhältnis von Laut- und Gebärdensprache vor allem ermöglichen, drei Annahmen zur Audiovisualität des menschlichen Sprachvermögens zu plausibilisieren, die vielleicht geeignet sein können, die These einer - das anthropologische Programm des Menschen gefährdenden - 'Macht der Bilder' in ihrer Suggestivität zu relativieren. Denn in der Tat darf gerade die Ausbildung der Fähigkeit zur Verwendung visuell-räumlicher Sprachzeichen, die sich noch in den rezenten Gebärdensprachen zeigt, aber in der Frühgeschichte des Menschen bereits lange vor der Entwicklung der Lautsprachen eine prominente Rolle spielte, als wesentliche Voraussetzung für das ausgeprägte Gattungsvermögen zur Verarbeitung visueller Symbolizität angesehen werden.

(1) Die erste Annahme bezieht sich auf die sowohl in den visualitäts-kritischen Diskurs als auch in die Verteidigung der piktoralen Vernunft tief eingeschriebene Entgegensetzung von Ikon und Logos, von Bild und Sprache, von einer - wie Vilém Flusser formuliert hatte - "neuen, einbildenden, 'oberflächlichen' Denkart" im Modus des Visuellen auf der einen und einem wissenschaftlichen, textuell-linearen Denken im Modus sprachlicher Diskursivität auf der anderen Seite. Zwar sind wir es - spätestens seit Lessing - gewöhnt, Bild und Sprache, Ikon und Logos in eine begriffliche Opposition zu bringen. So vertraut uns dieser Gegensatz allerdings erscheint, so unangebracht ist er.

Meine erste Annahme lautet deshalb: Es gibt - wie uns gerade die Gebärdensprachen zeigen - keinen kategorialen Gegensatz von Bild und Sprache. Sprache kann sich sowohl in der vokal-auditiven Form der Lautsprache als auch in der gestisch-visuellen Form der Gebärdensprache realisieren, und zwar ohne jede strukturelle Einschränkung ihrer jeweiligen kommunikativen und kognitiven Leistungsfähigkeit. Die Unangemessenheit der von Sybille Krämer zurecht kritisierten "disjunkte[n] Schematisierung zwischen der Sprache, die ausschließlich diskursiv, und den Bildern, die ausschließlich ikonisch seien", zeigt sich vielleicht noch grundlegender als etwa in der "notationalen Ikonizität" der Schrift in den Gebärdensprachen, in denen Visualität diskursiv und Diskursivität visuell prozediert wird. Der Raum des Bildlichen exkludiert Sprachlichkeit keineswegs, wie umgekehrt Sprachlichkeit sich gerade auch als Bild-Sprachlichkeit realisieren kann.

(2) Meine zweite Annahme, die in enger Beziehung zur ersten steht, bezieht sich auf die tief in der medienkomparativen Debatte der letzten zweihundertfünfzig Jahre verwurzelte Hierarchisierung des Verhältnisses von Sprachlichkeit und Bildlichkeit. Dass die neuere Bildkritik, für die - wie Sybille Krämer und Horst Bredekamp formulieren - Bildlichkeit "die stumme 'kleinwüchsige' Schwester der Sprache, ohne argumentierendes und erst recht ohne wissenerzeugendes Potenzial" darstellt, die Sprache gegen die Visualität, den Logos gegen das Ikon, ausspielt, spiegelt nur das ältere Vorurteil, mit dem die idealistische Ästhetik und Zeichentheorie das Wort gegen das Bild in Stellung gebracht hatte. Die rezente Kritik des Visuellen beleiht deshalb nachhaltig die spezifische Wende, die Lessing und mit ihm Humboldt und Hegel der Ut-pictura-poiesis-Tradition gegeben hatten: Den zeitlich-akustischen Zeichen (nebst ihren skripturalen Pendants) wird hier ein höherer Status als den räumlich-visuellen Zeichen zugemessen.

Für Hegel etwa ist die 'Intelligenz', sofern sie zum Ausdruck ihrer Vorstellungen Bilder verwendet, nicht wirklich frei, weil sie - wie er formuliert - "mit dem Inhalte der Anschauung" noch nicht fertig geworden ist: Sie liefert sich gleichsam der semantischen Eigenmacht des Bildlichen aus und muss dieses ikonische Bedeutungsreservoir bei der Expression ihrer Ideen beleihen. Erst wenn sie dieses Stadium hinter sich lässt, "beweist [...] die Intelligenz eine freiere Willkür und Herrschaft im Gebrauch der Anschauung [...]."Erst durch die Tilgung des Bildlichen befreit sich die zeichenmachende Fantasie auf dem nun erreichten Niveau der "bildlosen Allgemeinheit" von der Aufdringlichkeit des Piktoralen, ist sie "von dem Inhalte des Bildes freigewordene allgemeine Vorstellung" (Hegel). Erst hier verwandelt sie sich in das willkürliche Zeichen - in Sprache - und lässt die Stufe des bildlichen Symbols zurück. Gegen diese wirkungsmächtige Hierarchisierung von räumlich-visuellen und zeitlich-akustischen (skripturalen) Zeichen lautet meine zweite Annahme: Räumlich-visuelle Zeichen sind keine den zeitlich-akustischen (skripturalen) Zeichen subordinierte Zeichenform. Vielmehr gehörte die Fähigkeit zur Verarbeitung visueller Zeichen bereits zur anthropologischen Grundausstattung der Gattung, als das System der Lautsprachzeichen - und natürlich erst recht das der (alphabetischen) Schrift - noch lange nicht ausgebildet war. Sprachlichkeit hat sich insofern gattungsgeschichtlich auf dem Rücken der Bild(sprach)lichkeit ausgebildet, die geradezu als der Herkunftsort des Sprachlichen und anderer nicht unwesentlicher kognitiver Vermögen angesehen werden muss.

(3) Meine dritte Annahme leitet sich aus dem - sowohl bei Apologeten als auch bei Kritikern des Pictorial Turn - häufig nicht hinlänglich beachteten Umstand ab, dass sich auch in den dramatischen Umbruchsphasen kommunikativer Kulturen der mediale Wandel weniger im Rahmen kompetitiver Inklusions- und Exklusionskämpfe je autonomer Medien vollzieht, als vielmehr immer in der Form von Umorganisationen und Neukonfigurationen intermedialer Verhältnisse. Alle Medien sind - wie W. J. Thomas Mitchell formuliert - "gemischte Medien, die verschiedene Kodes, diskursive Konventionen, Kanäle, sensorische und kognitive Modi kombinieren" - oder, um Jay David Bolter und Richard Grusin zu zitieren: "Kein Medium - und sicher kein einzelnes mediales Ereignis - scheint heute seine kulturelle Arbeit in Isolation von anderen Medien machen zu können [...]."

Auch hier kann ein Blick auf die gattungsgeschichtliche Herausbildung der menschlichen Sprachfähigkeit zeigen, dass die räumlich-visuelle Gebärdensprache und die zeitlich-auditive Lautsprache wahrscheinlich über einen längeren Zeitraum parallel zur Verfügung standen und sich so - als "audio-visuelles Dispositiv", als ein intermediales Vermögen - auch in die jüngere Kulturgeschichte der Gattung nachhaltig eingeschrieben haben. Bereits in die frühen Vorformen menschlicher Kommunikationsfähigkeit ist Multimodalität inhärent eingeschrieben. Und auch unabhängig vom System der Gebärdensprache gilt für die rezente Lautsprachlichkeit, dass - wie David McNeill gezeigt hat - die visuell zu verarbeitende Handgestik aufwendig mit der mündlichen Rede verwoben ist. Meine dritte Annahme lautet deshalb: Das menschliche Sprachvermögen ist nicht nur ein Vermögen zur Hervorbringung je monomedialer, entweder visuell-räumlicher oder auditiv-zeitlicher Sprachzeichen, sondern immer zugleich auch ein Vermögen intermedialer Prozessierung. Bildlichkeit und Sprachlichkeit sind deshalb in der Kulturgeschichte des Menschen in einer Vielfalt von medialen Formaten miteinander verwoben.

Resümee: Der piktorale Anfang

Ich kann hier nicht im Einzelnen zeigen, in welch vielfältigen Formen sich die gattungsgeschichtliche Disposition zu intermedialem Zeichengebrauch bereits in die präliterale Kulturgeschichte des Menschen eingeschrieben hat. Lange vor dem Einsetzen der Literalisierung finden wir zum Beispiel in den frühen Kulturen der Jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum) Formen der intermedialen Organisation des kulturellen Wissens, das offenbar nicht nur monomedial in mündlicher Sprache prozessiert wurde, sondern eng mit ideografischen symbolischen Formen verwoben war.

Wie Leroi-Gourhan gezeigt hat, lassen sich etwa die in verschiedenen Höhlen Südfrankreichs und Nordspaniens aufgefundenen Darstellungen von Tierarten, die an verschiedenen Fundorten in großer topografischer Konstanz angeordnet sind, als eine ideografische Semantik auffassen, die erst durch 'paratextuelle' mündliche Diskurse lesbar gemacht wurde. Bereits die 30.000 Jahre alten Zeugnisse paläolithischer Kunst belegen ein in Gravur, Malerei und Bildhauerei sich ausdrückendes symbolisches Darstellungsverhalten des frühen Menschen, das virtuos die semantischen Potentiale intermedialer Verfahren nutzte. Natürlich haben sich im Zuge der kulturellen Entwicklung - über die Schrift, den Buchdruck bis zu den elektronisch-digitalen Medien - die Struktur, Reichweite und Komplexität von Symbolsystemen gewandelt. Dieser Wandlungsprozess vollzog sich aber immer im Rahmen eines seinerseits beständigen anthropologisch-medialen Schemas, das die Ausbildung des Ichs und seines Weltbezugs seit jeher an symbolische Ordnungen bindet, in denen schon früh in der Gattungsgeschichte Bild-Sprachlichkeit eine konstitutive Rolle spielte. Sprache - so scheint es - war vor dem Hintergrund einer langen Phylogenese bereits in ihrer präliteralen Phase in einen multimedialen Horizont signifikativer Aktivität eingebunden, aus dem sich in der späteren Kulturgeschichte ein reiches, zunehmend technologisch bestimmtes Spektrum symbolischer Praktiken ausfaltete.

Die Grenzen des anthropologischen Schemas scheinen hierdurch, bislang jedenfalls, nicht gesprengt worden zu sein, und zwar deshalb nicht, weil die Verbindung von Visualität und Sprachlichkeit konstitutiv in dieses Schema eingeschrieben ist, eine Verbindung, die - wenn man so will - als Synthese von Ikon und Logos angesehen werden kann. Insofern ist der Pictorial Turn keine Wende. Er beleiht vielmehr einen Anfang des menschlichen Sprachvermögens - den piktoralen Anfang humaner Symbolizität.

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Hinweis der Redaktion: Die umfangreichere Druckfassung dieses Beitrages erschien zuerst in: David Gugerli/ Michael Hagner/ Michael Hampe/ Philipp Sarasin/ Jakob Tanner (Hg.): Nach Feierabend 2008. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 4: Darwin. Zürich: Diaphanes, S. 149-169. - Wir danken dem Autor, den Herausgebern des Jahrbuchs und dem Verlag für die Genehmigung zur Nachpublikation.