Es fehlt die Systematik

Zu Reiner Matzkers Band über die "Ästhetik der Medialität"

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rainer Matzkers Studie unternimmt den Versuch, mittels des Aufdeckens bestehender Relationen zwischen ästhetischen Auffassungen, Weltanschauungen, Kunsttraditionen und gesellschaftlichen Veränderungen, die sich in den vergangenen drei Jahrhunderten ereignet haben, einen "Entwicklungsweg des Medialen" aufzuweisen.

Wie dem Vorwort zu entnehmen ist, beschränkt sich der Begriff des Medialen bei Matzker nicht allein auf das durch Medien bzw. technische Apparate Vermittelte. Er umfasst zugleich das "in gewöhnlicher alltäglicher Kommunikation, im Gespräch zwischen Menschen Mitgeteilte" sowie auch "das in künstlerischer Absicht, aus besonderen Impulsen der kommunikativen Bereicherung Vermittelte". Gegenstand des Interesses einer Ästhetik der Medialität sei die Differenzierung zwischen Medien (etwa Instrumenten, Apparaten, Datenträgern) und dem durch diese medial Vermittelten. Der Vorgang der Medialisierung unterscheidet sich für Matzker nicht von dem der Zeichengebung.

Formal gliedert sich Matzkers "Ästhetik der Medialität" in 22 Kapitel, die unter anderem die Themen Aufklärung, subjektiver Idealismus, Sturm und Drang, Romantik, Naturästhetik, Restauration, Moderne, Fiktionalismus, Film, Pop-Art, Massenmedialität und Semiologie fokussieren. - Eine Gliederung, die vielversprechend klingt und an die der Leser angesichts der interessanten und gleichsam anspruchsvoll anmutenden Einleitung mit einer hohen Erwartungshaltung herantritt.

Relevant erscheint Matzkers Verweis auf die Medienauffassung des 19. Jahrhunderts: Ein Charakteristikum der Medienauffassung des 19. Jahrhunderts sei der als Medialisierungsleistung wahrgenommene Rückgriff der Kunst auf die Natur. Das Mediale werde dabei "unter Aspekten religiöser Verklärung in den Dienst eines ästhetisch-wissenschaftlich angestrebten Wertewandels gestellt".

Mit Ungenauigkeiten hat der Leser im Kapitel 22 "Struktur des Medialen - Semiologie knapp skizziert" zu rechnen. Darin erfolgt ein knapper Umriss der Methode des Strukturalismus und der Semiologie oder auch Semiotik, bei der - kaum wahrnehmbar - versucht wird, die strukturalistische Theorie in einen ästhetisch-medialen Kontext einzubetten. Eine Erörterung der Termini 'Semiotik' und 'Semiologie' fehlt. Dass es sich bei dem ersten Terminus um einen von John Locke geprägten Begriff handelt, der von dem Prager Strukturalisten Roman Jakobson in Einengung auf das sprachwissenschaftliche Gebiet neu etabliert wurde, bei dem zweiten Terminus 'Semiologie' hingegen um einen, den Roland Barthes prägte, um eine Wissenschaft von den Zeichen ins Leben zu rufen, die sich nicht allein auf das sprachliche Zeichen beschränkt, wird dem Rezipienten vorenthalten. Matzker spricht lediglich von einer Erweiterung des bei Ferdinand de Saussures "linguistisch angelegten Versuch[s] [...] auf die Auseinandersetzung mit der Semiologie der Kleidung, der Nahrung, des Mobiliars, des Automobils usw.". Zudem wird Roland Barthes' Ansatz in der Darstellung dem zeitlich weitaus früher zu verortenden theoretischen Ansatz Jakobsons vorangestellt, obgleich dessen Schriften einen wesentlichen Einfluss auf die Arbeiten des 'frühen', strukturalistisch geprägten Barthes hatten. Auch geht aus dem Kapitel nicht zur Genüge hervor, in welchem Verhältnis Strukturalismus, Semiologie und Semiotik zueinander stehen. Dieses Wissen setzt der Verfasser bei seinen Lesern voraus. Worauf es Matzker in diesem Kapitel ankommt, ist der Anteil, den der Strukturalismus an den einzelnen Auseinandersetzungen in den verschiedenen Bereichen Design, Kommunikation und Medien hat.

Die Bedeutung Deleuzes für die Film- und Medientheorie, die Matzker hervorhebt, sieht er in der Aufbereitung der strukturalistischen Methode für diese Bereiche gegeben: Deleuze formuliere "wichtige Aspekte einer Bedeutung der strukturalistischen Methode hinsichtlich des Gestaltens medialer und kommunikativer Wirklichkeit."

Ein wenig tautologisch mutet Matzkers Begründung der 'ästhetiktheoretischen Chance' des Strukturalismus an, die "in seiner Tendenz zur Koordination interdisziplinärer Entsprechungen" liege. Der Autor argumentiert diesbezüglich: "Die ökonomischen Strukturen, die Althusser aufdeckt, korrelieren mit den psychischen Strukturen bei Lacan wie mit den Strukturen der kommunikativen Elemente in den Sprachwissenschaften bei Jakobson". Dem ist zweifellos zuzustimmen. Es ist insofern aber nichts Außergewöhnliches, als es sich insbesondere bei Jakobson um einen Vertreter des Strukturalismus handelt. Auch stellt der Rückgriff des strukturalistischen Marx-Interpreten Louis Althusser sowie des Psychoanalytikers Jacques Lacan auf die strukturale Methode keine neuartige Erkenntnis dar. Die Interdisziplinarität des Strukturalismus ergibt sich aus seiner Genese, da seine Anwendung keineswegs von vornherein der Linguistik zufiel, sondern er zunächst in der Ethnologie von Claude Lévi-Strauss praktiziert wurde und erst darüber hinaus eine Ausweitung auf die Bereiche der Sprach- und Literaturwissenschaft sowie der Psychoanalyse und anderer Fachgebiete erfolgte.

Insbesondere in der Vorgehensweise fehlt es der Studie an Systematik, wie es etwa in den Kapiteln über die Romantik, den Realismus oder die Moderne ersichtlich wird. Neben ästhetisch-theoretischen Schriften bezieht sich der Verfasser auf die bildenden Künste, lässt aber die Literatur - ähnlich wie die Musik - in seiner Arbeit weitestgehend außen vor. Die Verweisungen wirken willkürlich. Mitunter erscheint es so, als arbeite Matzker einzelne Theorien lediglich ab. Die Herstellung eines Zusammenhangs zu einer Ästhetik der Medialität erfolgt nur unzureichend. Auch wirkt die Gliederungsweise etwas diffus. Dass Matzker außerhalb seiner Einleitung der Antike kein Kapitel widmet, ist zwar nachvollziehbar, die intensive Beschäftigung mit Platon und Aristoteles innerhalb des Einleitungsteils erweckt jedoch den Eindruck, als würden diese für die weitere Arbeit noch eine Rolle spielen.

Friedrich Nietzsche wird dem Zusammenhang der ästhetischen Moderne entrissen, die Matzker "zwischen Impressionismus und Expressionismus" verortet. Der Symbolismus hingegen findet in der Darstellung kaum Beachtung - umso irritierender scheint daher die intensive Einbeziehung des Symbolismus in den Epilog, wo Matzker diesem einen gleichrangigen Stellenwert neben den verschiedenen Stilrichtungen Realismus, Naturalismus, Impressionismus und Expressionismus zugesteht.

Vermissen lässt Matzkers "Ästhetik der Medialität" ein Kapitel, das auf jüngere, digitale Phänomene näher eingeht wie etwa digitale Kommunikation oder aber digitale Kunst und Literatur und die Konsequenzen, die sich aus ihrer immateriellen Beschaffenheit ergeben. Eine Begründung für die weitgehende Ausgrenzung digitaler Medien liefert Matzker in seiner Einleitung: "Das Internet und so genannte virtuelle Realitäten sind in diesem Sinn nicht tatsächlich neue Entwicklungen wie seinerzeit die Photographie und das Kino." Ungeachtet dessen sollte eine Ästhetik der Medialität der Vollständigkeit halber jüngere digitale Phänomene keineswegs außen vor lassen.

Zum Teil treten Dopplungen in der Gliederung auf. Dies macht sich beispielsweise an den Kapiteln 10 und 13 bemerkbar, wo der Expressionismus einmal in Verbindung mit dem Impressionismus und der Moderne, ein anderes Mal unter dem Aspekt der Empathie abgehandelt wird. Dem Film wird ein eigenes Kapitel gewidmet, wohingegen Zeitungen und Zeitschriften sowie der Rundfunk lediglich marginale Erwähnung finden. Wie der Symbolismus unterliegen auch die poststrukturalistischen Theorien erst im Epilog einer ausführlicheren Betrachtung.

Einen weiteren Kritikpunkt stellt die essayistisch anmutende Zitierweise dar. Vereinzelt werden die Quellen genannt, ohne dass es sich dabei jedoch um eine amerikanische Zitierweise handelt. Auf einen Fußnotenapparat wollte sich der Verfasser nicht einlassen, was vermuten lässt, dass die "Ästhetik der Medialität" als ein essayistisches Werk gelesen werden soll.

Dies hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Zielgruppe. Wie bereits aus den Ausführungen ersichtlich wurde, setzt der Verfasser bei seinen Rezipienten ein gewisses philosophisches und semiotisches Grundwissen voraus. Eine Eignung des Buches für Künstler als auch Kunstinteressierte, die als Lesergruppe miterfasst werden sollen, unterliegt daher diesen Bedingungen. Literaturwissenschaftler und Philosophen, die sich für Ästhetik interessieren, könnten bei zu hohen Ansprüchen von Matzkers Werk enttäuscht werden.


Titelbild

Reiner Matzker: Ästhetik der Medialität. Zur Vermittlung von künstlerischen Welten und ästhetischen Theorien.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
237 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783499557033

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