Arbeit am Mythos

Christiane Holm untersucht die "Erfindung" von Amor und Psyche im 18. und 19. Jahrhundert

Von Frauke BerndtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frauke Berndt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Amor und Psyche" - so viel vorab - ist nicht nur ein Buch, mit dem Christiane Holm das akademische Wissen zur so genannten Sattelzeit von 1765 - 1840 um Aspekte desjenigen Wissens bereichert hat, das unsere Phantasie belebt, unsere Träume, Wünsche und unser Hoffen speist, sondern "Amor und Psyche" ist auch ein ausgesprochen schönes Buch. Dem Deutschen Kunstverlag und einer Reihe von Sponsoren ist es zu verdanken, dass wir in diesem in Leinen gebundenen Werk mehr als hundert, teilweise farbige Abbildungen in hervorragender Kunstdruck-Qualität bewundern dürfen, was sowohl das einlässliche Lesen als auch das zerstreute Blättern zum Genuss macht - dazu trägt der fein geschliffene Stil der Autorin im Übrigen nicht unwesentlich bei. Eine solche Erscheinungsform ist heute kaum einem wissenschaftlichen Buch vergönnt.

Auf Langfristigkeit ist dementsprechend auch der Inhalt der kulturwissenschaftlichen Studie angelegt, in der Christiane Holm in der Tradition der anglo-amerikanischen 'Material Cultural Studies' gewissermaßen Wissenschaft von unten betreibt - und zwar nicht, weil es gerade en vogue ist, sondern weil Amor und Psyche statt auf dem kulturellen Höhenkamm in der Peripherie entdeckt werden. Historischer Ausgangspunkt ist die antike Überlieferung von Amor und Psyche seit deren später Erfindung in der römischen Antike, vor allem aber die Revision des Mythos in der Renaissance (diese Vorgeschichte wird in einem vierzigseitigen Exkurs erzählt). Von dort aus startet die Arbeit bei einem der Gründungsdokumente des Mythos im 18. Jahrhundert - bei Karl Philipp Moritz' Darstellung der jüngsten Göttin in der "Götterlehre" aus dem Jahr 1791. Sie führt Psyche als Doppeleinheit von Fantasie und Seele mit 'Schwellenpotenzial' ein. Drei Probleme zeichnen diese Schwelle zur Moderne aus: erstens die Neue Mythologie, und das heißt der veränderte Umgang mit der mythologischen Überlieferung, zweitens die mit der anthropologischen Wende der Wissensordnung einhergehende Diskursivierung der Seele und drittens die Neuordnung der Geschlechter. Der Mythos von Amor und Psyche führt diese Probleme zusammen, reflektiert sie und bietet ästhetisch vermittelte Lösungen an.

Ein solcher interdisziplinärer Zuschnitt schlägt sich in der Anordnung der Hauptteile nieder, in der die Quellen nach geselliger, altertumswissenschaftlicher, bildungsästhetischer und kunsttheoretischer Aneignungsweise des Mythos sortiert und gruppiert werden. Der erste Teil widmet sich den Seitenwegen, auf denen der Mythos das Zeitalter der Aufklärung erreicht hat: Gemmen, Briefe und so genannte Kasualpoesie sind die Medien des Mythos in der Epoche der deutschen Empfindsamkeit, in der Amor und Psyche als Rollen in einem groß angelegten, erotisch-freundschaftlichen Gesellschaftsspiel dienen. Von den geschnittenen Steinen führt dieses Spiel über die anakreontische Lyrik zu Christoph Martin Wielands "Geschichte des Agathon" sowie schließlich zu einer Darmstädter Gruppe, die sich Anfang der 1770er-Jahre als "Gemeinschaft der Heiligen" um die Landesfürstin Caroline von Hessen-Darmstadt sammelt.

Der zweite Teil behandelt die Rekonstruktion des Mythos von Amor und Psyche in Altphilologie und Archäologie. Apuleius' Erzählung von Amor und Psyche im "Goldenen Esel" bildet den Referenztext für das 18. Jahrhundert. Mit den neuen Übersetzungen des Romans, die sich von der französisch-höfischen Tradition ablösen, weil sie ein breiteres (bürgerliches) Publikum - vor allem auch Frauen - ansprechen wollen, stellt die Autorin Formen der Aneignung, Aktualisierung und Domestizierung der antiken Überlieferung vor. Sie zeichnen sich grob dadurch aus, dass die Psyche-Darstellungen nun in Form und Inhalt der vom Menschen her entworfenen Seelenform der Aufklärung folgen. Dass damit eine Verlagerung der Aufmerksamkeit vom mythologischen Paar Amor und Psyche auf die weibliche Figur einhergeht, sorgt gewissermaßen für die Feminisierung des Mythos, in deren Zug wir Psyche nun als einer Art weiblichem Herakles begegnen. Diese Übersetzungsarbeit wird von einer altertumswissenschaftlichen Debatte um christliche Seelenmystik und antike Mysterien begleitet, die schließlich über Johann Jakob Bachofen mit Carl Gustav Jung das 20. Jahrhundert erreicht.

Der dritte Teil - und wissenschaftliche Höhepunkt des Buches - verknüpft den Mythos mit den Imaginationsformen des Weiblichen in Bild und Bildungserzählungen, die Christiane Holm im Spannungsfeld von technischen Darstellungsverfahren und dem Wissen über die menschliche Seele verortet: Allegorisierung - Symbolisierung - Psychologisierung. Was folgt ist eine bemerkenswert kenntnisreiche Verbindung sämtlicher literarischer Gattungen der Zeit (von der Elegie bis zum Roman) mit der bildenden Kunst (von der Plastik bis zur Gartenkunst). Dabei wird Psyche zum Knotenpunkt mythologischer Verknüpfungen, der sie mit allen Bereichen des Lebens wie des Todes in Verbindung bringt. Unter dem Strich steht eine komplexe Imago: Mutter, Geliebte, Muse und Amazone. Diese Überfrachtung, ja Überforderung der Figur ist sowohl Symptom als auch Index der epochalen Umbrüche, wie sie mit der Modernisierung der Gesellschaft einhergehen: Im 19. Jahrhundert stellen Amor und Psyche keine realen Rollen mehr bereit, die man in gesellschaftlich geregelten Liebesspielen nachahmen kann, sondern organisieren die imaginäre Seite des sexuellen Begehrens, was sowohl gravierende Veränderungen in der Geschlechterordnung voraussetzt als auch nach sich zieht.

Der vierte Teil zeigt die Verschiebungen innerhalb des Mythos, sprich: die Überblendung Amors durch Pygmalion und Psyches durch Galatee - im Grunde genommen die Folge der Wendung des Mythos ins sexuell Imaginäre. So entsteht ein neues Paar: Pygmalion und Psyche, das zum Gegenstand der kunsttheoretischen Reflexion in arabesken Programmbildern und in der romantischen Kunst-Prosa wird. Zwischen dem klassisch-klassizistischen Narrativ der schönen Seele sowie der ästhetischen Konzeption des Kunst- beziehungsweise Anschauungssymbols vermittelt Psyche einerseits die Einsicht in die prinzipielle Medialität aller Modelle von Verkörperung und Verlebendigung, von denen der Pygmalion-Mythos erzählt. Denn mittels der Figur wird der weibliche Körper im paradoxen Zuschnitt von Anwesenheit und gleichzeitiger Abwesenheit codiert. Andererseits führen die Enterotisierung der Figur sowie ihre Engführung mit Herakles und Prometheus schließlich von der passiven auf die aktive Seite der Kunst, nämlich zu einem eigenen Modell weiblicher Autorschaft.

Christiane Holm verfährt nicht nur philologisch akribisch und historisch genau, sie hat eine ganz eigene, man könnte auch sagen: gelassene Methode, mit der enormen Fülle ihres heterogenen Materials umzugehen - eine Methode, die sie an Hans Blumenbergs fundamentale Studie zur "Arbeit am Mythos" anlehnt. Unbeeindruckt vom akademischen Zeitgeist erfüllt die Autorin dabei mit der Anlage ihrer vier Teile, denen vier verschiedene Arbeitsweisen am Mythos entsprechen, die Forderung der Kulturwissenschaft nach Trans- und Interdisziplinarität ohne großes Aufheben. "Die Konjunktur der Psyche-Figur", so bringt sie die Ergebnisse auf der letzten Seite ihres Buches ebenso knapp wie souverän auf den Punkt, "erklärt sich also nicht nur aus ihrer Verdichtungsleistung von aktuellen Umbrucherfahrungen, der Suche nach einem angemessenen Umgang mit dem Mythos, dem Orientierungsbedürfnis innerhalb der verwirrenden Diskursivierungen der Seele und den Bemühungen um eine Neuordnung der Geschlechter, sondern sie wird gerade aus dieser Konstellation heraus als eine mediale Herausforderung verhandelt und ästhetisch bearbeitet."


Titelbild

Christiane Holm: Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765-1840).
Deutscher Kunstverlag, München und Berlin 2006.
336 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3422065547

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