Zwischen Standardisierung und Weiterentwicklung

Über Silke Lahns und Jan Christoph Meisters "Einführung in die Erzähltextanalyse"

Von Alexander PreisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Preisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den vielen "Turns" der Kulturwissenschaften zählt seit den 1980er-Jahren auch die sogenannte "Narrative Wende". Kultur wird als erzähltes und erzählbares Konstrukt aufgefasst, das Narrative als Organisationsform von Sinn verstanden. Begleitet wird diese Hinwendung zum Erzählen von den Philologien durch eine intensive Methodendiskussion und -reflexion, die unter der Bezeichnung Narratologie firmiert. Forschungsabsicht dieser Richtung ist die möglichst "objektive" Beschreibung von Texten, um so deren Funktionieren und ihre Machart kategorisierbar zu machen. Aufgrund ihrer Praxisorientierung bietet sich die Erzähltheorie als grundlegendes Verfahren vor der eigentlichen Textinterpretation an. Sie gehörte in den letzten Jahrzehnten sicherlich zu den am meisten beforschten Teilbereichen der Literaturwissenschaft, was sich vor allem an der starken Standardisierung und Kanonisierung von Methoden, Theorien und Modellen zeigt. Unzählige - recht ähnliche - Einführungen (um nur einige zu nennen: Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie; Peter Wenzel (Hrsg.): Einführung in die Erzähltextanalyse; Monika Fludernik: Erzähltheorie. Eine Einführung; Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa) sind erhältlich und geben dem Bedürfnis Ausdruck, ein methodologisches Basiswissen zu etablieren und bereitzustellen. In den Verlagsprogrammen ist diese Form der Standardisierung sicherlich auch als Reaktion auf die neuen universitären Ausbildungsformen samt der Straffung von Wissen zu verstehen.

Mit dem Buch "Einführung in die Erzähltextanalyse" liegt nun auch ein solches Werk aus dem Metzler Verlag vor. Die Verwendung eines hochgradig standardisierten theoretischen und methodologischen Settings, vorwiegend aus dem Bereich strukturalistisch-semiotischer Theorien, macht es für neue Werke nicht leicht, sich deutlich vom Bisherigen abzusetzen. Diesen spezifischen Hintergrund und diese inhaltliche Anforderung gilt es bei der Bewertung einer neuen Einführung besonders zu berücksichtigen.

Auffallend am vorliegenden Band ist zunächst vor allem die klare Strukturierung, die sich von der inhaltlichen Gliederung des Buches bis hinunter auf die textuelle Ebene spannt: Den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind Überblicksdarstellungen, die die folgenden Abschnitte in einen thematischen Zusammenhang stellen und den roten Faden vorgeben. Auf Absatzebene ermöglicht eine Marginalspalte das rasche Zurechtfinden innerhalb der Abschnitte. Textboxen mit Definitionen und ausgezeichnete Tabellen und Grafiken erhöhen zusätzlich die Übersicht, und diverse Visualisierungen bieten sich dem Leser als Hilfestellung an (diese können im Internet angesehen und auch heruntergeladen werden). Die Texte sind allesamt kurz und pointiert, zentrale Wörter und Phrasen werden zusätzlich hervorgehoben. Praktische Analysearbeit an literarischen Texten findet in Interpretationsskizzen statt, die deutlich vom Haupttext getrennt sind. Die hohe Anschaulichkeit des Buches wird durch ein Glossar, weiterführende Literatur, kapitelspezifische Leitfragen für die Analyse sowie durch ein Sachregister weiter erhöht.

Inhaltlich bietet das Buch wenig Überraschendes: Neben einer allgemein gehaltenen Einführung in das Erzählen und einem historischen Abriss der Narratologie gliedert sich das Buch - ein Prinzip, dass freilich auch von anderen Einführungen verwendet wird - in die drei Dimensionen des Erzähltextes (Erzähler, Diskurs, Geschichte). Das fünfte Kapitel beschäftigt sich ausgesprochen kurz mit dem Erzählen in Lyrik, Drama und Film und kommt dabei über einige rudimentäre Bemerkungen kaum hinaus. Franz Karl Stanzels Typenkreis ist ebenso vorhanden wie die binären Kategorien Gérard Genettes, die Konzepte Vladimir Propps und Algirdas Julien Greimas' finden sich bei der Handlungsanalyse und eine Vielzahl von Dichotomien (showing vs. telling, innere vs. äußere Handlung, offener vs. verborgener Erzähler...) bilden das kategoriale Repertoire zur textuellen Beschreibung. In der aus anderen Einführungen ebenso gewohnten Manier werden die Kategorien Ort, Zeit, Figuren und Handlung samt ihrer Analysemethoden durchdekliniert. Die Innovationen liegen im Detail: Abschnitte zu Stilkonzepten und Stilanalyse, zu Textinterferenzen oder zum Erzählen über das Erzählen sind durchaus ungewöhnlich und bringen neue Aspekte in die Analyse mitein. Mit diesen neuen Zugängen reagieren die Autoren auf verschiedene erzähltheoretische Diskussionen der letzten Jahre: So wird etwa die Fokalisierung bei Genette (intern, extern, nullfokalisiert), die mit gewissen epistemologischen Unschärfen einher ging, nun durch die von Wolf Schmid entwickelten fünf Parameter der Perspektive (Elemente der Narratologie, 2008) ergänzt. Ebenso verfahren die Autoren mit der Textinterferenz, die auch von Schmid übernommen wird, oder bei der Figurenanalyse mit der Übernahme von neuen theoretischen Ansätzen von James Phelan oder Per Krogh Hansen. Betrachtet man die vorliegende Erzähltextanalyse aus einem entwicklungstheoretischen Kontext, so trägt das Buch nicht nur zur Etablierung des bisherigen Kanons an erzähltheoretischen Methoden und Konzepten bei, sondern weist damit auch auf Weiterentwicklungen hin, die als Reaktion auf problematisierte Konzepte zu verstehen sind und sich zukünftig möglichweise als neue Standards etablieren werden.

Die Grundfrage bleibt aber: Lohnt sich der Kauf dieser Einführung, die mit unzähligen anderen am Markt konkurriert und durch die Kanonisierung der Erzähltheorie wenig inhaltliche Akzente setzen kann? Die Frage kann mit ruhigem Gewissen bejaht werden: Gegenüber Bode oder Martinez/Scheffel zeichnet sich die Einführung durch ihre Übersichtlichkeit und ihren Pragmatismus aus. Inhaltlich werden durch den Rückgriff auf aktuelle Forschungsergebnisse, etwa Schmid, neue Standards etabliert. Und für die Zielgruppe der Publikation sicherlich am wichtigsten: Mit diesem Buch lässt sich ohne lange Lektüre direkt am literarischen Text arbeiten, können Fachbegriffe schnell nachschlagen und abstrakte Konzepte rasch verstanden werden.


Titelbild

Silke Lahn / Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse.
Unter Mitarbeit von Matthias Aumüller, Benjamin Biebuyck, Anja Burghardt, Jens Eder, Per Krogh Hansen, Peter Hühn und Felix Sprang.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2008.
311 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783476022264

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