An der Kante

Gianrico Carofiglios blickt auf eine abschüssige Karriere zurück

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Giorgio hat Glück gehabt. Heute ist er Staatsanwalt und bringt Leute hinter Gitter, sein Juraexamen hat er gemacht, dann Karriere, er könnte glücklich und zufrieden sein, aber er ist es nicht. Warum? Weil er nur mit Glück und mit einem Restquäntchen von Verstand und Moral davor zurückgeschreckt ist, sein schon auf die schiefe Bahn geratenes Leben endgültig in eine kriminelle Karriere münden zu lassen.

Girgio ist Jurastudent, er kommt aus einfachen Verhältnissen, hat jedoch die Chance zum Aufstieg. Ist er doch mit Giulia zusammen, die aus gutem Hause kommt, ein wenig langweilig ist, aber eben gut situiert. Ihm stehen alle Türen offen, aber Giorgio langweilt sich. Und so ist es ein glücklicher Zufall, dass er sich auf einer Party dazu entschließt, einem entfernten Bekannten zu helfen, der offensichtlich von ein paar angeworbenen Jungs verdroschen werden soll. Francesco dankt es ihm und nimmt ihn mit zu nächtlichen Pokerpartien.

Dort entpuppt sich Francesco als gewiefter Kartentrickser, und Giorgio, nicht minder begabt in Sachen Karten, wird sein Partner. Die beiden mischen die Pokerszene in Bari auf, halten sich dabei aber an die Amateure und Spielsüchtigen, die Profis lassen sie aus. Zu gefährlich. Der Trick bei der Sache ist, dass Francesco, der die Karten manipuliert, nicht selbst gewinnt. Nein, er verliert sogar. Aber dafür gewinnt Giorgio umso mehr. Manchmal, wenn die beiden eine Revanche geben, verlieren sie sogar, damit das alles nicht auffällt. Aber netto bleibt immer genug für sie.

Das Leben, das Giorgio damit führt, ist verführerisch. Das Pokern gefällt ihm, weil es abenteuerlich ist. Außerdem wirft es gutes Geld ab, von dem sich der Zweiundzwanzigjährige schnell sogar einen BMW leisten kann, was für einen Studenten seiner Herkunft anders nicht denkbar ist. Dafür aber geht die Beziehung zu Giulia den Bach runter. Er ist nicht mehr an ihr interessiert, denn neben dem Geld gibt es auch noch eine Menge Sex des Nachts, und wen interessiert schon eine Tochter aus gutem Haus, wenn man mit ihren bösen Schwestern zu tun haben kann?

So könnte es eine Weile weiter gehen, wenn nicht langsam eine Spirale einsetzte. Die Bahn, die für Giorgio bislang immer nur nach oben und vorn wieß, wird abschüssig. Francesco nimmt ihn mit auf eine Spanienreise, die sich erst spät als Beschaffungsreise entpuppt. Francesco will Heroin kaufen, um es dann in Bari mit doppeltem Gewinn zu verscherbeln. Der Deal gelingt sogar, auch wenn Giorgio hier erstmals Skrupel verspürt. Sein abenteuerliches Leben gerät an den Rand. Sein Verführer ist schon lange darüber hinweg.

Giorgio weiß, dass er zu weit gehen würde, wenn er Francesco schließlich in seine nächste Leidenschaft folgen würde: Sex, sagt Francesco, sei mit Frauen, die ihn gleichfalls wollten, nur halb so gut wie mit solchen, die dazu gezwungen werden müssten. Francesco betrügt nicht nur mit Karten, er dealt nicht nur, er ist auch der Serienvergewaltiger, der seit Monaten die Stadt beunruhigt.

Führt Carofiglio diesen Teil der Handlung anfangs nur parallel, wird spätestens jetzt erkennbar, warum er diesen Teilstrang überhaupt schon so früh in die Handlung eingeführt hat, auch wenn er damit von seiner Basis-Konstruktion abweichen muss. Denn der Hauptteil der Handlung ist als Erinnerung des älteren Giorgio gehalten, der nach Jahren jener Frau begegnet, bei deren Vergewaltigung er Francesco attestieren sollte. Aber auch wenn er damals mitgegangen ist, auch wenn er es zugelassen hat, dass Francesco die Frau niedergeschlagen hat – hier, jetzt, verweigert er Francesco die Gefolgschaft endlich.

Carofiglios Kammerspiel über die Willfährigkeit des jungen Mannes und seiner Abenteuerlust ist von vorneherein so angelegt, dass Giorgio immer wieder in Situationen geführt wird, in denen er sich entscheiden muss und in denen er ‚nein‘ sagen kann. Aber Giorgio sagt immer wieder ‚ja‘. Erst ganz zuletzt, im allerletzten Moment, als es zur Vergewaltigung kommt, besitzt er die Stärke, sich zu verweigern.

Freilich versteht er selbst das nicht als Stärke, sondern als Zufall. Ihn hat keine Kraft ausgezeichnet, sondern ihn schmerzt die dauernde Unfähigkeit, ‚nein‘ zu sagen. Die Vergewaltigung wäre nur der vorletzte Schritt, ein Mord wäre der nächstfolgende.

Schwäche ist es also, was ihn bedrückt, seine permanente Schwäche, die nie aufhört, eben auch jetzt nicht, nachdem er aus alledem heil herausgekommen ist und sich wieder auf die richtige Seite gerettet hat. Aber was kann schon richtig sein, wenn es nur aus Zufall und nicht aus Stärke entschieden wurde?

Titelbild

Gianrico Carofiglio: Die Vergangenheit ist ein gefährliches Land. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Julia Eisele.
Goldmann Verlag, München 2009.
288 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783442311835

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch