Vom Um-Schreiben, Be-Schreiben und Ver-Schreiben
Christoph Geisers neues Buch „Der Angler des Zufalls. Schreibszenen“ ist eine Zusammenstellung ausgewählter Texte zwischen 1975 und 2007
Von Sarah Pogoda
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNeunzehn Texte des Schweizer Schriftstellers Christoph Geiser aus dem Zeitraum zwischen 1975 und 2007 wurden jetzt anlässlich seines 60. Geburtstags in einem Textband vereint. „Der Angler des Zufalls“ umfasst Erzählungen, Reden, Vorträge und kurze poetische Stücke, die als „Schreibszenen“ zusammengeführt werden. „Schreibszene“ meint hier „das Inszenieren und Zusammenspielen von Spracharbeit und Selbstbeobachtung, von zuweilen sehr konkreten Praktiken, Gesten, Materialien, die dem Autor beim Schreiben während einer bestimmten Schaffensphase oder seit jeher zu eigen sind“, so Michael Schläfli im Nachwort.
Die Schreibszenen sind chronologisch in fünf Segmente aufgeteilt, die zugleich unterschiedliche Phasen von Geisers poetologischer Biografie umschreiben: „Anschreiben“, „Ankommen“, „In der Strafkolonie“, „Lust an den Wörtern – Angst vor den Wörtern“ und schließlich „Reden gegen nichts“. Das aufschlussreiche Nachwort sichtet und erschließt die Entwicklung von Geisers Kunstauffassung und schriftstellerischem Selbstverständnis, wie es sich über die Jahrzehnte hinweg entwickelt hat und macht dieses anhand der hier publizierten Texten nachvollziehbar.
Geisers Texte sind schon immer Texte über das Schreiben gewesen. Wollte man sie einem essentiellen Gedanken oder Problem zuordnen, so wäre es wohl die Sprache. Bereits die ersten beiden Texte des Bandes – „Tanz“ und „Anfänge“ (1975) – thematisieren die Angst vor Wörtern und das Zögern, „alles und jeden beim Namen zu nennen“.
Das, was hier nicht beim Namen genannt werden darf, ist das homosexuelle Begehren der Protagonisten. Um keine verräterischen Worte auszusprechen, aber dennoch zu erzählen, wird umschrieben, es wird um die Homosexualität herumgeschrieben. Diese Figuren können zwar „ich“ sagen, aber dieses Ich ist ein verleugnetes, das sich hinter harmlosen Worten und Metaphern verbirgt. Die Homosexualität zeigt sich nur indirekt im Sprach- und Bilderverbot. So kann Geiser seinen Figuren nur eine scheue Sprache zur Verfügung stellen, die die überwältigende Angst und Scham nur zurückhaltend und leise bezeichnen kann. Isolation und Hemmungen der Figuren erweisen sich als Stigmata der unterdrückten Sexualität.
Erst in den 1980er-Jahren scheint Geiser sich allmählich aus dem Schrecken der Sprache und der Nichtthematisierung der Homosexualität zu befreien. In seinem Roman „Wüstenfahrt“ (1984) erzählte Geiser von einer homosexuellen Beziehung und den Repressionen, welche sie von Seiten der Gesellschaft zu erleiden hat. Hatte sich in den Jahren zuvor sein Erzählen vorwiegend in der Form des Umschreibens und Verschweigens gezeigt, so setzte Geiser hier zum Aussprechen an. „Der Angler des Zufalls“ dokumentiert diesen Schritt mit zwei Preisreden des Autors. In „Sprechen aber heisst Grenzen verletzten…“ (1983) postuliert Geiser: „Literatur, also, fängt dort an, wo ein Erzähler auftritt und anhebt zu sprechen.“ Das Schreibverfahren des Um-Schreiben wird damit zum Be-schreiben. Das Problem der Homosexualität wird nicht länger verschwiegen.
Geiser sucht nun nach einer seinem Thema angemessenen Sprache. Wie ist ein tabu-, scham- und angstfreies Erzählen homosexuellen Begehrens möglich? Die auf „Wüstenfahrt“ folgenden Romane „Das geheime Fieber“ (1987), „Das Gefängnis der Wünsche“ (1992) und „Kahn, Knaben, schnelle Fahrt“ (1995) bildeten dieses Suchen und vorläufige Finden einer Sprache ab. In „Der Angler des Zufalls“ bezieht sich der Text „Simple Neugier. Schmerzhafte Gier“ von 1993 auf jene Schreibphase.
Geiser war in den drei Romanen der eigenen bürgerlichen Biografie entflohen, indem er fremde Biografien okkupierte. Im Fantasieren von und mit Michelangelo Merisi de Caravagios, Donatien-Alphonse de Sades oder Johann Wolfgang von Goethes Biografien hatte er sich aus der Enge und den Ängsten herausschreiben wollen. In „Simple Neugier. Schmerzhafte Gier“ aber konstatiert Geiser seinen Irrtum. Die Flucht in das Begehren und die Lustfantasien der Anderen drohte, das eigene Ich zu überschreiben. Es zeigte sich „das zunehmende, allmählich schier vollständige Schwinden des Ichs aus meinem Text – ein Alarmzeichen geradezu. Es war mir schier unmöglich geworden, noch ICH zu sagen im Text.“
Die fremde Biografie war eine Rettung des Schriftstellers vor seinem eigenen Begehren, das Erzählen des fremdes Begehrens war die Flucht vor dem Aussprechen der eigenen Wünsche. Die Dynamisierung des Stils, die Imitation von Begehren, Lust und Erregung im Sprach- und Textfluss hatte darüber hinweggetäuscht, dass die Sprache der Homosexualität bei Geiser weiterhin Ängste auslöste. Diese waren nur mit dem Ich aus der Erzählung verdrängt worden. Das Reden und das Erzählen waren also noch immer keine Akte der Befreiung. Der Autor unterlag weiterhin der Macht der Sprache und des Diskurses. Dieser Foucault’sche Gedanke sollte Geisers Nachdenken darüber, wie zu schreiben wäre, fortan bestimmen.
Von nun an betrieb Geiser, wie es der neue Band mit seiner Poetik-Vorlesung „Gerede wider Sinn“ von 2001 dokumentiert, „Foucaults Furor gegen Geständnis & Beichte; wider die Macht des Geredeten, diese Ausübung von Herrschaft durch Codierung der Rede. Unterlaufen, unterlaufen – was sonst; decodieren, chiffrieren nach eigenem Code.“
Der etwa zeitgleich entstandene Text „Von der (Ent-)Fesselung der (An-)Rede“ erfasst, wie Geiser das Verhältnis von Sprache und Macht von nun an überdenkt. Zentrale Bedeutung erhält die semantische Ordnung des Homosexualitätsdiskurses. Geiser begreift die Benennungsmacht von Sprache als Ursache seiner Angst vor der Sprache. Aufzulösen sind beide nur, indem der semantische Zwang von Sprache aufgehoben wird: „Wie entkommt man den Diskursen, diesen Schatten aller Rede? Den Wörtern entkommt man nie. Und so könnte man… die schrecklichen Wörter einfach aussparen? Beßre Wörter suchen, positiv besetzte, die negativ besetzten Wörter einfach umpolen durch positiv besetzten Kon-Text…“
Geiser stellt schließlich den Geltungsanspruch des Gesprochenen in Frage: „Als trügen Wörter nur Bedeutung und wären an & für sich nichts. Dürften nichts für sich sein! nur für die Bedeutung. Als wären’s Diagnosen. Präzise! Wertung. Gute oder böse Wörter, negativ oder positiv gepolt: und so könnten wir sie einfach umpolen, als wären wir Elektriker? anders aufladen, quasi? Elektrisch aufgeladene Wörter, die elektrisieren […]“
Der Autor muss also mit Sprache so verfahren, dass er semantische Indifferenz produziert. Geiser bricht die semantischen Zuordnungen der Sprache und Schrift auf, entzieht damit aber allem beschreibenden Erzählen den Boden. Sprache kann nicht mehr mimetisches Werkzeug der erzählenden Vermittlung sein. „Be-Schreiben“ lassen sich Lust, Begehren und Erregung also nicht mehr, nur noch schreiben. Für Geisers Schreibverfahren bedeutet das die endgültige Abwendung von der Narration zugunsten der Rhetorik: „Schrift-Bild & Klang: das Schrift-Bild sichtbar machen in Sprach-Rhythmus & Klang hörbar machen im Schrift-Bild: das ist die Auf-Lösung der Geschichte; der Geschichten. Wozu eigentlich, gibt’s Satzzeichen? Mit der Hilfe von Schrift-Zeichen einen bewohnbaren – hörbaren und sichtbaren, bestenfalls wie Vibrationen, allenfalls wie motorisches Schnurren spürbaren – Sprach-Raum schaffen“.
Lust wird also nicht mehr nur abgebildet, sondern in der Sprache selbst erfahren. Sprache wird selbst zu Begehrendem und Begehrtem. Das Spiel mit der Sprache kann beginnen und als lustvoll empfunden werden. „Von der (Ent-)Fesselung der (An-)Rede“ führt vor, wie Sprache zum Sexualpartner wird: „Geile Teufelchen, die die Wörter reizen, spreizen, die Zeichen manu sturbieren quasi, bis die Sprache quasi geil wird; lüstern; lust-ig!; wohl-lust-ig; wolllüstig! scharf! – denn: schreiben macht scharf! – bis die Rede anfängt, begehrlich zu reden, wie man begehrlich blickt, und: wo man’s nicht erwartet! bis der Begriff dich trübt und jede Deklaration, bis die Bedeutungen sich verwirren, verschwimmen; die Sätze anfangen zu vibrieren, zu stocken oder zu strömen, zu zittern und zu schlottern; zu quillen, wie der Pudel hinterm Ofen quillt, sich zu blähn, wie sich die Nüstern blähn, und die Sprache – endlich? un-endlich! – kommt: alles zur Sprache kommt, und alles, was da kommt, nur eins noch sagen will… es kommt?! wie blöd! banal! dann ist’s ja gleich gekommen, und: was dann?… ja, was denn?… Nichts!“
„Der Angler des Zufalls“ trägt Texte zusammen, die die Emanzipation des Autors von der Sprache und zugleich die Befreiung der Sprache vom Autor dokumentieren. Am Ende der Lektüre glaubt man begriffen zu haben, dass eine befreite Sprache nicht nur die Möglichkeiten erweitert, Fantasien mitzuteilen, sondern dass die befreite Sprache selbst Fantasie besitzt. Die Verselbständigung von Sprachspielen ist auch ein Produkt zügellosen Fantasierens der Sprache, nicht nur ein Produkt der zügellosen Fantasie des Autors.
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