„Die Sonne als roter Fliegenpilz“

Der jiddische Dichter Abraham Sutzkever wird in einer neuen Ausgabe seiner Texte vorgestellt

Von Stefana SabinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefana Sabin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wilne schtot fun gajst un tmimes”, Wilna, Stadt des Geistes und der Vollkommenheit – so beginnt ein jiddisches Gedicht aus dem 18. Jahrhundert, das zu einem Lied umgearbeitet wurde und den Beginn einer Theaterveranstaltung im Getto markierte. Dass die Juden sogar unter den existenziell-dramatischen Umständen im Getto in diesem Lied Trost fanden, zeigt ihre besondere Anhänglichkeit an die Stadt, die in Europa „litauisches Jerusalem“ genannt wurde.

Denn tatsächlich war Wilne, wie die Stadt auf Jiddisch heisst, eine jüdische Stadt: eine Hochburg jüdischer und jiddischer Gelehrsamkeit, ein zentraler Ort sowohl des Chassidismus als auch der Haskala und darüber hinaus eine bedeutende Verlags-, Literatur- und Theaterstadt. Vielleicht auch deshalb hatte die Wilnaer Haskala, die jüdische Aufklärung, anders als die Berliner Haskala, kein assimilatorisches Ansinnen. Während die jüdischen Intellektuellen in Berlin Jiddisch abschätzig als Jargon bezeichneten und diesen Jargon ablegten, um deutsche Gelehrte, Philosophen und Dichter zu werden, wurde Wilna das Zentrum der jiddischen Literatur und der Jüdischkeit überhaupt. Zu den bedeutendsten Kultureinrichtungen in Wilna gehörte das Jüdische Wissenschaftliche Institut, an dem Abraham Sutzkever lernte, bevor er sich dem avantgardistischen jüdischen Schriftsteller- und Künstlerkreis Jung-Wilne anschloss. Sutzkever, 1913 in Smorgon geboren und in Wilna aufgewachsen, gehört zu jenen jiddischen Dichtern, die den Jargon zu einer literarischen Sprache umformten.

Sein dichterisches Schaffen wird nun zusammen mit seiner dokumentarischen Darstellung des Wilnaer Getto in einer zweibändigen Ausgabe vorgestellt, die zu den letzten Großtaten des Ammann Verlags gehören wird. Hubert Witt hat eine schöne Auswahl der Gedichte getroffen und sie angemessen, also in einer rücksichtsvollen Gratwanderung zwischen Rhythmus, Reim und Sprachbildern, übersetzt. In „Wilner Getto“, das jetzt erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, beschreibt Sutzkever die Gettowirklichkeit und zugleich die Entstehung der Gedichte, die ihrerseits diese Wirklichkeit festhalten. So stellt diese Ausgabe den Lyriker als Zeitzeuge und den Zeitzeugen als Lyriker vor.

Sutzkevers erstes Gedicht erschien 1932. Danach veröffentlichte er in regelmäßigen Abständen Prosa und Verse in jiddischen Zeitschriften, und 1937 erschien sein erster Gedichtband „Lider“ – Gesänge. In diesen Gedichten schafft er suggestive Sprachbilder, um seelische Landschaften zu zeichnen, und kombiniert archaische mit modernen Ausdrücken. Aber der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Wilna unterbrach seine gerade begonnene literarische Karriere abrupt und setzte einem Kapitel jüdischer Geschichte ein absolutes Ende: „Als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache.“ So beginnt Sutzkevers Bericht „Wilner Getto“.

Das Getto in Wilna wurde schon 1941 errichtet, und über 40.000 Menschen wurden dorthin verschleppt und dort eingesperrt. „… trieb man uns in einen Käfig aus zwei-drei Gassen / und schleppte uns hinaus zu Hundert und Tausend / wie fiebriges rohes Fleisch, / und warf uns vor die Bestien“. Schon diese Anfangsverse kündigen die Stimmung des Gedichts an, dessen Titel „Kol Nidre“ sich auf ein jüdisches Gebet bezieht, das am Versöhnungstag gesprochen wird, aber anders als das traditionelle Gebet ist Sutzkevers nicht nur ein Widerruf aller Gelübde gegenüber Gott, sondern auch eine (An-)Klage angesichts der Verfolgung. Sutzkever beschreibt die Gewaltorgien der Besatzer und die kontinuierliche Angst der Eingeschlossenen, aber auch ihren Überlebenswillen. Bis heute hat dieses Gedicht, in dem er freie Verse und Prosa kombiniert und das lyrische Ich zu einer starken Figur gestaltet hat, seine verstörende Wirkung behalten.

Für den Gettoalltag fand Sutzkever den Ausdruck: „messerscharfe Wirklichkeit“ und in dem Gedicht „Die Tore des Gettos“ baute er eine magisch-realistische Landschaft auf, die das Grauen poetisch verbrämte: „Messerscharfe Wirklichkeit. / In den Scherben der Fenster / erscheint die Sonne als roter Fliegenpilz. / Jedes Gesicht ein Herbstblatt, / Ketten ein jeder Klang.“ Im Getto schloss sich Sutzkever einer Partisanenbrigade an, aber er beteiligte sich nicht an Sabotageakten und Anschlägen, sondern nutzte die ihm zugewiesene Zwangsarbeit für subversive Aktionen: Er musste jiddische und hebräische Manuskripte, alte und neue Bücher, Bilder und Kultobjekte, die vernichtet oder für die Sammlung über „die Wissenschaft des Judentums ohne Juden“ nach Deutschland verschickt werden sollten, sortieren, und unter Lebensgefahr schmuggelte er sie ins Getto und versteckte sie dort. „Eh mich die Kugel trifft, bringe ich / Gaben im vollen Sack“, heisst es im Gedicht „Weizenkörner“. „Alte Handschriften-Blätter / mit Purpur und Silberhaar, / pergamentene Wörter / durch Tausende grausige Jahr. / Wie einen zarten Säugling / beschütz ich das jiddische Wort, / schnuppre in jeden Berg Papier, / rette den Geist vor Mord.“ Tatsächlich rettete Sutzkever jüdisches Kulturgut, das nach Kriegsende nach New York gebracht werden konnte und dort die Sutzkever-Kaczerginski Collection begründetete.

Im Getto erlebte Sutzkever, was Menschen anderen Menschen antun können: Da „Geburtenverbot“ herrschte, wurden Neugeborene gleich ermordet – auch sein Sohn. Die großangelegte Vernichtung eines Volkes – fast die gesamte jüdische Bevölkerung Wilnas wurde ermordet, Häuser, Synagogen, Schulen, Bibliotheken wurden zerstört – hielt Sutzkever schreibend ebenso fest wie den entschlossnen Überlebenskampf der Juden, die Verstecke bauten, Nahrung und Medikamente besorgten und verteilten, kulturelle Veranstaltungen organisierten. „In der Straschun-Strasse 7“, notierte Sutzkever in seinem Getto-Bericht, „auf einem kalten Dachboden bei dem Schauspieler Bljacher, traf ich mich mit den verbliebenen Bühnenkünstlern. Alle befürworteten ein Theater.“ Im Wilnaer Getto wurde gelesen, musiziert, gebetet, geschauspielert. (Joshua Sobols berühmtes Stück über das Theater im Wilnaer Getto, „Ghetto“, führt in satirischer Überzeichnung die Gratwanderung der jüdischen Gettoleitung zwischen Kollaboration mit den Mördern und subversiver Rettungsaktion vor.) Es gab eine Vereinigung von Literaten und Künstlern im Wilnaer Getto, für die Schreibutensilien und Instrumente für das ein Symphonieorchester geschmuggelt wurden. In dem Gedicht „Zum Jahrestag des Getto-Theaters“ beschreibt Sutzkever die existenzielle Ambivalenz dieses Kulturbetriebs angesichts des Todes: „… Spielt, ihr jüdischen Mimen, in Flicken, in Mauern, / wo das Leben sich krümmt wie angesengte Haare, / wenn auf Steinen das Blut unserer Nächsten siedet, / und auf Gassen zucken wie halb geschlachtete Vögel / und können sich nicht erheben, nicht fliegen, nicht entrinnen. / Spielt, Freunde! Denken wir uns: Es ist ein Städtchen von einst“.

Mit Theater und Musik leisteten die Juden emotionalen und geistigen Widerstand – zugleich versuchten sie, bewaffneten Widerstand zu leisten: „Am Tage war kein Zeichen zu merken“, erinnerte sich Sutzkever. „Doch nachts, wenn die Bewegung im Getto abbrach, begann die Bewegung der Waffen. Unter der Erde, unter Fussböden, in Höhlen, in raffiniert konstruierten ausgehöhlten Balken befanden sich die Arsenale der Partisanenorganisation“. Aber der geplante Aufstand scheiterte, und im September 1943 flohen die Partisanen, auch Sutzkever und seine Frau, in die umliegenden Wälder.

Da war Sutzkever schon berühmter, als er selber ahnte. Denn sein Gedicht „Kol-Nidre“ hatte er aus dem Getto geschmuggelt und nach Moskau geschickt, wo es Ilja Ehrenburg, der angesehene Schriftsteller und Journalist, abgedruckt hatte. Ehrenburg war es auch, der sowjetische Partisanen beauftragte, Sutzkever und seine Frau zu finden und nach Moskau zu bringen – noch vor der Befreiung Wilnas durch die Rote Armee.

Und es war wieder Ehrenburg, der Sutzkever aufforderte, über das Wilnaer Getto in öffentlichen Veranstaltungen zu berichten, und der ihn in eine Literarische Kommission berief, die eine Dokumentation über den Völkermord an den Juden auf dem Gebiet der besetzten Sowjetunion zusammenstellen sollte. Das von Ehrenburg und Wassili Grossman vorbereite „Schwarzbuch über den Völkermord an den sowjetischen Juden“ war die erste große Dokumentation über die Shoah, die allerdings bei Fertigstellung Ende der 1940er-Jahre nicht wie vorgesehen erscheinen konnte. Erst 1980 erschienen Teile des Schwarzbuchs in Israel und 1994 erschien in Deutschland eine erste vollständige Ausgabe, die auf die Korrekturfahnen Grossmans basierte. Ein Grossteil des Materials, auf dem das Schwarzbuch beruht, befindet sich heute in Yad Vashem, der Jerusalemer Gedenkstätte an die nationalsozialistische Judenvernichtung.

In einer von der sowjetischen Zensur stark redigierten Form erschien Sutzkevers Bericht „fun wilner getto“ 1946 in Moskau, im selben Jahr in einer erweiterten Ausgabe in Paris. „Wilner Getto“ wechselt zwischen dem narrativen Gestus von Memoiren und dem knappen Stil des Tagebuchs, das jedoch fingiert ist, denn Sutzkever verfasste seinen Bericht nach der Rettung und also im Wissen um die Shoah. Deshalb konnte er Beschreibung und Kommentar verknüpfen und von Einzelschicksalen erzählen, durch die er Opfer und Täter aus der Anonymität herausholte. Sein Bericht ist zwar mit heißer Feder geschrieben, aber der literarische Gestaltungswille ist ihm dennoch anzumerken.

Hatten ihn seine Gedichte innerhalb der jiddischen Welt berühmt gemacht, so machte ihn der Bericht über das Getto auch in der nicht-jüdischen Welt bekannt, und Sutzkever wurde eingeladen, als Zeuge der Anklage im Nürnberger Prozess gegen die Nazi-Führer auszusagen. Das Gedicht, das er am Tag der Zeugenaussage schrieb, beginnt in realistischem Ton, geht in die Resignation über und endet mit einem fast militanten Appell: „Gerechtigkeit für den Millionenmord / hab ich nun eingeklagt, zu dieser Stunde. / Doch die Millionen – sind sie nicht verschwunden? / War da Gerechtigkeit das rechte Wort? /… / Mein Volk, du musst dich für dein Schwert entscheiden, / wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit“.

Es war nicht zuletzt das Erlebnis des Nürnberger Prozesses, das entscheidend dahin wirkte, dass er 1947 mit seiner Frau nach Israel auswanderte. In Tel Aviv, wo er heute noch lebt, gründete er eine jiddische Literaturzeitschrift, „Di goldene Kejt“ – Die goldene Kette und wirkte bis 1995 als Herausgeber – sowie als spiritus rector einer kleinen Gruppe von jiddischen Dichtern. Während der jüdische Staat sich in einer altneuen Sprache, dem aus dem alten Hebräisch geformten Iwrit, eine moderne Identität gab, blieb für Sutzkever das Jiddische, die Sprache des Exils, ein Symbol für das Überleben der Juden. Wie sein Freund Marc Chagall, der manche seiner Gedichte illustrierte, glaubte Sutzkever, dass eine moderne jüdische Identität die Traditionen ebenso wie die Erfahrungen der Vergangenheit reflektieren müsste.

Sutzkever war selbst auf besondere Weise ein jüdischer Heldendichter: Er erlebte die Blütezeit jüdischer Kultur, ihre Zerstörung in Europa und den Neubeginn in Israel; er riskierte sein Leben, um jüdisches Kulturgut zu retten, und bezeugte den Volkermord an den Juden. Und er hielt diese Erfahrungen in Versen fest, die seelische Zustände auf fantastische Landschaften projizierten und implizit die erneuernde Kraft der Poesie postulierten. Das späte Gedicht „Erinnerungen von Andern“ endet mit den Zeilen: „Ich selbst bin mein Volk und trage mich auf den Schultern“.

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Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941-1944. Gesänge vom Meer des Todes. 2 Bände.
Übersetzt aus dem Jiddischen von Hubert Witt.
Ammann Verlag, Zürich 2009.
430 Seiten, 38,95 EUR.
ISBN-13: 9783250105329

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