„Sachliche Leidenschaft“ für das Recht

Zu Irmtrud Wojaks Biografie des Juristen Fritz Bauer

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fritz Bauer (1903–1968) war eine Ausnahmeerscheinung. Seinem unermüdlichen Einsatz für eine Reetablierung demokratischer Rechtsnormen nach 1945 verdankt die Bundesrepublik das Zustandekommen einiger der bedeutendsten Prozesse gegen frühere NS-Täter, darunter den ersten Auschwitz-Prozess, und die Aufspürung Adolf Eichmanns in Südamerika. Als Generalstaatsanwalt in Braunschweig, wohin er aus dem dänischen und schwedischen Exil 1949 zurückkehrte, erreichte er mit dem Remer-Prozess 1952 eine Anerkennung des Widerstands vom 20. Juli 1944, bei dessen Niederschlagung der frühere Kommandeur des Berliner Wachbataillons „Großdeutschland“ Otto Ernst Remer (1912–1997) bereits eine unrühmliche Rolle spielte. Keine sieben Jahre später beschimpfte derselbe Remer die Attentäter des 20. Juli als Landesverräter, die vom Ausland bezahlt worden seien, wogegen im Juni 1951 Strafantrag beim Landgericht Braunschweig gestellt wurde. Zunächst war vom damaligen Oberstaatsanwalt Dr. Erich Günther Topf (1904–1983) eine Eröffnung des Verfahrens abgelehnt worden, aber Remer wurde schließlich auf Weisung Fritz Bauers wegen „übler Nachrede“ angeklagt. Für eine Verurteilung musste die Staatsanwaltschaft den juristischen Beweis erbringen, dass die Attentäter zu Recht gegen den NS-Staat Widerstand geleistet hätten. Und genau darauf zielte die gesamte Prozessführung: auf eine Rehabilitierung der Widerstandskämpfer. Bei der Ausarbeitung seiner Prozessstrategie kam Bauer entgegen, dass sich Konrad Adenauer im Oktober 1951 verpflichtet sah, sich gegenüber den alliierten Hochkommissaren von ähnlichen diffamierenden Äußerungen der Soldatenverbände abzugrenzen. Mit Hilfe von moraltheologischen Gutachten gelang es Bauer unter anderem, die Legitimation des Widerstandsrechts juristisch, politisch und moralisch zu klären. Das Gericht stellte schließlich fest, dass den Widerstandskämpfern des 20. Juli der zu einer Schuldfestsetzung im Sinne des 1944 geltenden Landesverratsparagraphen erforderliche Vorsatz nicht nachzuweisen sei. Die historische Bedeutung des Prozesses bestand aber vor allem darin, dass sich das Gericht der Auffassung der Staatsanwaltschaft anschloss, der NS-Staat sei kein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat gewesen.

Irmtrud Wojak, langjährige Mitarbeiterin des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts, hat mit ihrer eindrucksvollen Biografie Bauers Leben und Wirken erstmals umfassend rekonstruiert. Bislang lagen nur die beiden Monografien von Matthias Meusch (2001) und Claudia Fröhlich (2006) sowie einige verstreute Aufsätze über eine der zentralen Persönlichkeiten der ersten zwei Dezennien der Bundesrepublik vor. Der Arbeit an dieser Studie kam dabei zu Gute, dass Wojak auch schon für die materialreiche Ausstellung über den ersten Auschwitz-Prozess 1963-65 verantwortlich war, die 2004 zunächst in Frankfurt am Main und später in Berlin gezeigt wurde, und deren Konzeption und Realisierung sie übernommen hatte.

In sechzehn Kapiteln und einer Einführung präsentiert sie in ihrem Buch Bauers Leben – von dessen Besuchen bei seinen Großeltern in der schwäbischen Universitätsstadt Tübingen an bis zu seinem frühen Tod am 30. Juni 1968 in seiner Frankfurter Wohnung. Insgesamt entsteht in dem Buch das Bild eines arbeitswütigen radikalen Demokraten und Juristen, dessen „sachliche Leidenschaft“ für das Recht, wie er sich einmal ausdrückte, als Leitmotiv über seiner Biografie stehen könnte.

Die auf wenigen Seiten nachgezeichnete Familiengeschichte, die auch den erzwungenen Verkauf des Familiengeschäfts an einen SA-Mann einschließt, versteht Wojak als Porträt einer exemplarischen Geschichte angestrebter, aber am Ende durch den Nationalsozialismus zerstörter deutsch-jüdischer Akkulturation. Zur Akkulturationsgeschichte gehörte auch, dass Bauer in Stuttgart das traditionsreiche Eberhard-Ludwigs-Gymnasium besuchte, auf das im 19. und 20. Jahrhundert eine Reihe berühmter Philosophen, Autoren, Politiker sowie auch einige Widerstandskämpfer gingen, darunter Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Berthold Auerbach, Gustav Schwab, Eugen Gerstenmaier oder Alexander und Claus von Stauffenberg. Wojak bezeichnet die Jahre des Ersten Weltkriegs als die „politischen Lehrjahre“ Bauers. Mit dem Untergang des deutschen Kaiserreichs hätte sich auch seine Einstellung zu Krieg und Nation sowie zur Frage nach der Verantwortung deutscher Politik nachhaltig gewandelt. So wusste Bauer bereits am Ende seiner Schulzeit, dass er Jura studieren wollte. Über seine Studentenzeit zwischen 1921–24 in Heidelberg, München und Tübingen ist wenig bekannt. Wojak zufolge seien es vor allem drei Faktoren gewesen, die seinen Weg zur Sozialdemokratie beeinflusst hätten: Dass ein Jude nach dem Ersten Weltkrieg hatte Minister werden können – gemeint ist der Sozialdemokrat Berthold Heymann (1870-1939), der vom 11. November 1918 bis zum 20. Oktober 1919 württembergischer Kultusminister war und anschließend bis zum 1. Juli 1920 das Innenministerium verwaltete –, zweitens die Lektüre von Johann Wolfgang Goethes „Wilhelm Meister“ und schließlich die persönliche Begegnung mit Kurt Schumacher. Als weiteren Anstoß erwähnt sie den Heidelberger Rechtsphilosophen Gustav Radbruch (1878–1949), bei dem Bauer zwar nicht studierte, dessen Schriften er aber las und auf den er sich später immer wieder bezog. Mit Radbruch sah Bauer gewisse individuelle Rechte als der staatlichen Gesetzgebung vorgegeben an, womit im Wesentlichen die unveräußerlichen Grund- und Menschenrechte gemeint sind. Im Zusammenhang mit den späteren Prozessen gegen die NS-Täter wurde zu deren Diffamierung gerne das Rückwirkungsverbot herangezogen, also der Grundsatz nulla poena sine lege, wonach eine Straftat nur dann vorliege, wenn zum Zeitpunkt ihres Begehens ein Gesetz die entsprechende Handlung unter Strafe stelle. Nach Radbruch und Bauer kann sich freilich niemand auf das Rückwirkungsverbot berufen, wenn es um die Verletzung grundsätzlicher Menschenrechte durch Mord, Totschlag oder Freiheitsberaubung geht.

Nach seiner Promotion entschied sich Fritz Bauer „zu Gunsten einer strafrichterlichen und politisch aktiven Betätigung“ gegen eine akademische Laufbahn, wie er 1937 in einem Brief an Max Horkheimer mitteilte. Er wurde Amtsrichter und war als Sozialdemokrat auch Mitglied des 1924 zur Verteidigung der Weimarer Republik gegründeten überparteilich-republikanisch orientierten „Reichsbanner“ sowie des Berthold-Auerbach-Vereins.

Bereits im März 1933 wurde er verhaftet und für acht Monate in das Konzentrationslager Heuberg eingesperrt, bevor er nach einer Verlegung auf den Oberen Kuhberg nach kurzer Zeit entlassen wurde. Ende 1935 gelang ihm die Flucht ins dänische Exil. Erst im November 1937 erhielt er dort jedoch eine Arbeitsgenehmigung. Nach der „Reichskristallnacht“ konnte Bauer schließlich nach langjährigem Bemühen erreichen, dass auch seine Eltern eine Einreisegenehmigung nach Dänemark erhielten. Zu den erschütternden Einzelheiten dieser Flucht gehört die systematische Beraubung der aus dem Lande Getriebenen durch den deutschen Staat, wodurch das ihnen noch verbliebene Vermögen von 64 800 Reichsmark auf 13 654 RM schrumpfte. Obendrein dauerte es wegen dieser drangsalierenden Auflagen über ein Jahr, bis Bauers Vater schließlich die Fahrkarten nach Kopenhagen erwerben konnte. Besonders pikant erscheint vor diesem Hintergrund die von der Württembergischen Wiedergutmachungsstelle in den 1950er-Jahren vorgenommene Prüfung, ob die Bauers „Erster“ oder „Zweiter Klasse“ gereist seien.

Während der fünf Jahre dauernden deutschen Besatzung Dänemarks war Fritz Bauer als Jude und SPD-Mitglied besonders gefährdet. Am 11. September 1940 wurde er von der dänischen Polizei verhaftet und kam mit dem zweiten Häftlingstransport aus Kopenhagen in das Internierungslager Horserød, wo er jedoch auf dänische Intervention am 4. Dezember 1940 wieder entlassen wurde. Schließlich gelang ihm zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester Margot mit ihrer Familie am 13. Oktober 1943 in einem Fischkutter versteckt die weitere Flucht nach Schweden.

Obwohl Bauer nach seiner Remigration in Deutschland keineswegs mit offenen Armen aufgenommen wurde, bemühte er sich vom Tage seiner Rückkehr an mit einem ungeheuerlichen Arbeitspensum, an der Wiedererrichtung des durch den Nationalsozialismus völlig entstellten Rechtssystems mitzuwirken. Noch im Exil hatte Bauer das Problem der NS-Verbrechen umgetrieben, worauf er mit seiner Broschüre „Kriegsverbrecher vor Gericht“ reagierte, die bereits 1944 erstmals in Stockholm verlegt wurde. Darin plädierte er dafür, das Kriegsverbrecherproblem auf dem Hintergrund des geltenden Völkerrechts juristisch anzugehen. Im Kern sind hier Tatbestände formuliert, wie sie während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt wurden. Wojak erinnert in den Kapiteln ihres Buches, die sich mit der Tätigkeit Bauers nach seiner Rückkehr nach Deutschland beschäftigen, an eine Vielzahl von Ermittlungen und Prozessen, die von ihm angestoßen wurden. In der Darstellung der einzigartigen Lebensleistung Fritz Bauers zeigt sich gleichzeitig ein Panorama der jungen Bundesrepublik und ihres Umgangs mit den NS-Tätern. Deutlich wird an den vielen im Sande verlaufenden Verfahren, der regelmäßigen Weigerung von Justizbehörden, NS-Täter als „Täter“ oder „Mittäter“ anzuklagen und den vielen Freisprüchen, dass die politischen Stichworte „Amnestie“ und „Integration“ der frühen Bundesrepublik kaum zur Erfolgsgeschichte gereichen. Die Historikerin lässt keinen Zweifel daran, dass eine ausschließlich positive Würdigung der Anpassungsleistungen früherer Nazis eine Umdeutung der Geschichte der 1950er- und 1960er-Jahre darstellt. Für Remigranten wie Fritz Bauer musste die weitgehend gescheiterte juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen zum zweiten Exil werden. Sein auf Resozialisierung und Schuldanerkennung setzendes Rechtsverständnis eigenverantwortlicher Individuen, das er nicht durchsetzen konnte, stand solch aberwitzigen Konstruktionen wie dem „unüberwindbaren Verbotsirrtum“ gegenüber, durch den im Extremfall mit der ideologischen Überzeugung eines NS-Täters dessen Schuldunfähigkeit begründet werden konnte, was verschiedentlich geschah. In seinen letzten Jahren sah sich Bauer daher zunehmends isoliert, obwohl gerade dann auch einzelne jüngere Juristen anfingen, seine Ideen aufzugreifen.

In der Rekonstruktion der politischen Bedingungen und der Debatten der 1950er- und 1960er-Jahre gelingt es der Historikerin anhand der besonderen Erfahrung Bauers, auch das Exemplarische der politischen Remigration nach Deutschland insgesamt zu beleuchten. Dass dabei der mittlerweile häufig eigenartig versöhnte Blick auf die „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) der 1950er- und 1960er-Jahre entsprechend zurecht gerückt wird, stellt kein geringes Verdienst dieser ausgezeichneten politischen Biografie dar.

Titelbild

Irmtrud Wojak: Fritz Bauer. 1903-1968 Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
638 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783406581540

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