Trauer und Schönheit einer ganzen Welt

Über Norbert Scheuers Roman „Überm Rauschen“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ungelebte Leben, leichtfertig verspieltes Glück, Selbstbetrug und Selbstzerstörung sind die Motive, die Norbert Scheuer in seinen Romanen immer wieder verwendet – so auch in „Überm Rauschen“. Der Roman spielt in der Provinz der Eifel und überrascht mit einer Milieustudie, die viel mehr zu bieten hat, als der nichtssagende Klappentext des Buches vermuten lässt.

Der Ich-Erzähler Leo, von dem der Leser nur erfährt, dass er in Düsseldorf studiert hat und in Hamburg lebt, geht fischen. Früher angelte er gemeinsam mit seinem Stiefvater und seinem Bruder Hermann. Nach langer Abwesenheit kommt Leo nun wieder in die Eifel, den Ort seiner Kindheit, da ihn die Lebensgefährtin seines Bruders und seine beiden Schwestern herbeigebeten haben, da Hermann dem Wahnsinn verfallen ist und sich seit Tagen in seinem Zimmer eingeschlossen hat. Der Ich-Erzähler nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit und das Leben der Brüder am Fluss.

Fast jeden Tag gingen die Männer zusammen an den Fluss. „Damals verlor ich die Köder allerdings absichtlich, denn Angeln und der Fluss bedeuteten mir nichts. Für Hermann hingegen war es alles“, erinnert sich Leo. Das ganze Leben der drei wurde vom Fliegenfischen und der Suche nach dem besten Köder geprägt, selbst gebundenen bunten Köderfliegen, für den größten Fisch. Dieser „größte Fisch“, der mysteriöse „Ichtys“, der „größer als ein ausgewachsener Mann“ sein soll, alt und mit „großen schwarzen, traurigen Augen“ war Thema unzähliger, langer Abende in der familieneigenen Gastwirtschaft. Zwischen Bierpfützen und knirschenden Glasscherben faselten die betrunkenen Gäste – Angler, die in der zur Kneipe gehörenden Pension übernachteten – und der Vater des Erzählers, dass man den Fisch am Wehr, „am Rauschen“, gesehen habe und finden könne. Am Rauschen des Wassers beginnt und endet alles in der Erzählung: Als Kind beruhigte die Brüder Leo und Hermann das Rauschen des Wehrs, später wird im Winter die Leiche der niederländischen Geliebten von Hermann unter dem Eis am Wehr entdeckt – und Ichtys kreist allgegenwärtig unterm Rauschen.

„Ichtys“, das griechische Wort für „Fisch“, ist das traditionelle Symbol Christi und stellt eine Abkürzung für ein Glaubensbekenntnis der ersten Christen dar: Jesus, Christus, Gott, Sohn, Retter. Leo und sein Bruder Hermann lauschten als Kinder im Bett dem Rauschen, „und wir trieben wie leblos, mit ausgebreiteten Armen, langsam auf das rauschende Wehr zu, nur ein unendlicher Sternenhimmel über uns“. Sie werden zum Ichtys, dem Erlöser, gezogen. Dieser Sog in die Unendlichkeit erinnert an die pantheistische Überzeugung, dass Gott mit der Natur identisch ist. Die unter dem Wasser verborgene Wahrheit zu fangen ist das unausgesprochene Ziel der drei Männer am Fluss, die versuchen, den alten Ichtys zu greifen. Die Wahrheit entgleitet dem Fischer leicht, sie verspricht aber Nahrung. In der Geschichte vom Fischzug des Petrus erweist sich Jesus damit auch als Wegweiser zur Wahrheit.

Das Fliegenfischen wird von Norbert Scheuer als „Sieg des Schwachen über das Starke“ bezeichnet. Schonungslos wird dem Leser dann auch die Schwäche präsentiert: Ichtys überlebt, doch der Vater stirbt, die Mutter erleidet zwei Schlaganfälle, der Gaststätte droht mangels Gästen die Schließung. Hermann verliert bei der Suche nach der Wahrheit den Verstand. Er wird schließlich nackt, glatt rasiert und geschminkt wie ein Fisch auf seinem Bett sitzend vorgefunden und aus seinem Zimmer in eine Klinik gebracht. Die Realität beinhaltet Krankheit, Tod und Alleinsein. Die traurige Geschichte der Familie wird zu einem existenziellen Menschheitsdrama erhoben. Der Melancholie, welche der Erzählung inhärent ist, stellt Scheuer die Erinnerung als Ausweg entgegen: „Erinnerungen und Träume treiben vorbei, es gibt keinen Unterschied zwischen unseren Vorstellungen und der Wirklichkeit, alles sinkt irgendwann auf den Grund des Flusses, in stille Erinnerung“, sinniert Leo, während er mit Wathose und Angel im Wasser steht.

„Überm Rauschen“ ist ein sprachliches Werk voller Symbolik, ohne jemals der Manie zu verfallen. Scheuer legt einen Roman vor, der zugleich eine poetische Anleitung zum Angeln, angereichert mit Zeichnungen von Fischen und genauen Artbeschreibungen, mitleidloses Familiendrama, tiefgehende psychoanalytische Studie und suggestive Handreichung zur Lebensfreude ist – denn obwohl das Glück immer wieder scheitert, verzweifelt Leo nicht, sondern setzt seine Suche fort, lebt den Augenblick und wartet „im Fluss stehend […] auf Erinnerungen.“ Das Glück ist da, im Rauschen, in der wehmütigen Kraft des Erzählens. Im Lesen des Romans ist das Glück für den Leser greifbar. Wer wünschte sich angesichts der Herausforderungen des Lebens nicht ein wenig von der „vollkommenen Gelassenheit“, mit der Ichtys im Wasser gleitet.

Titelbild

Norbert Scheuer: Überm Rauschen. Roman.
Mit 20 Zeichnungen.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
167 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783406590726

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