Deduktive Methode
Ludwig Schnauder nähert sich Joseph Conrads Werk philosophisch
Von Stefanie Leibetseder
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJoseph Conrads Romane sind nach wie vor in aller Munde, vor allem werden sie im Rahmen der Postcolonial Studies (insbesondere „Heart of Darkness“) kontrovers diskutiert. Beispielhaft sei hier nur Chinua Achebe genannt, der in Conrad zwar einen Kritiker kolonialer Ausbeutung erkannte, ihn aber trotzdem für einen Rassisten hielt („Ein Bild von Afrika“, 2000.)
Die literarische Öffentlichkeit reagiert demnach offensichtlich zwiespältig in Bezug auf Conrads Sichtweise des Individuums und seines Verhältnisses zur Gesellschaft seiner Zeit. Dies bot möglicherweise den Anlass für Schnauder, um in seiner Wiener Dissertation von 2006 drei große Romane Conrads („Heart of Darkness“,1902, „Nostromo: A Tale of the Seaboard“, 1904, „The Secret Agent“, 1907) zum ersten Mal vor dem Hintergrund der philosophischen Theorien des Determinismus und des Freien Willens zu diskutieren. Diesen theoretischen Zugang erweiterte er um zeitgeschichtliche Bezüge. Bei ihnen handelt es sich um die mit dem Aufsteigen des Kapitalismus im 19. Jahrhundert verbundenen theoretischen Konzepte des Marxismus und Darwinismus. Die aktuelle literaturwissenschaftliche Forschung wurde jeweils in die einzelnen Diskussionsstränge eingeflochten.
Wie Schnauder nach der Einleitung zunächst in einem philosophischen Abriss erläutert, liegt dem Konzept des Determinismus die These zugrunde, dass alle Ereignisse eine zwangsläufige und eindeutige Folge aus vorangegangenen Geschehnissen sind. Wenn die in einem System geltenden Gesetze eindeutig sind, so ist der Zustand eines Systems zu jedem zukünftigem Zeitpunkt festgelegt. Dem steht das Konzept des bedingungslosen Freien Willens gegenüber.
Wie der Autor weiter ausführt, wurden diese beiden Konzepte unter anderem von Thomas Hobbes unter dem Begriff Kompatibilismus miteinander verbunden. Er verstand darunter, dass eine Person dann frei handelt, wenn sie eine Handlung wünscht und auch anders handeln kann, wenn sie anders handeln möchte. Anhand einer Darstellung des Viktorianischen Kompatibilismus gelangt der Autor sodann zu den Zwischenstufen zwischen Determinismus und Freiem Willen. Deren äußerste Eckpfeiler bilden Harte Deterministen auf der einen Seite und Libertarianer auf der anderen Seite. Während jene behaupten, dass weder Determinismus noch Indeterminismus einen freien Willen zulassen, meinen die Anhänger des Libertarianismus, dass die Erfahrung des freien Willens eine nicht deterministische Weltsicht voraus setzt.
Daran schließt sich ein Abschnitt an, der Conrads Stellung innerhalb dieser Debatten zu bestimmen versucht. Conrad betonte in seinen Romanen stets die Freiheit des Individuums, also dessen freien Willen und seine hieraus resultierende moralische Gebundenheit im Zeichen der durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisenhaftigkeit determinierten Moderne. Conrads seismografisches Bewusstsein hierfür erklärt der Autor mit dessen biografischer Wurzellosigkeit: als Joseph Konrad Korzeniowski in der Ukraine geboren, verließ er sein Vaterland und mit ihm seine Muttersprache, um ab dem Alter von 15 Jahren zur See zu fahren. Erst mit 21 Jahren begann er die englische Sprache zu erlernen, in der er später seine großen Werke verfasste. Hierfür beruft der Autor sich auf Conrads autobiografische Schrift „A Personal Record“ (1912) als Quelle.
Wie der Autor zu recht deutlich macht, erkannte aber nicht nur Conrad die Zeichen einer neuen Zeit, sondern auch seine Schriftstellerkollegen wie zum Beispiel Thomas Hardy („Jude the Obscure“, 1895) machten die daraus resultierenden ökonomischen und menschlichen Verwerfungen zum Thema ihrer Romane.
Die folgenden drei großen Kapitel sind jeweils einem der drei Romane gewidmet. Den Anfang macht „Heart of Darkness“, das wie eingangs erwähnt in Zusammenhang mit den kolonialen Bestrebungen des Britischen Empire diskutiert wird. Die koloniale Ausbeutung des Kongo, die hier auf der Grundlage von Conrads eigenen Erfahrungen beschrieben wird, vollzog sich jedoch historisch unter dem belgischen König Leopold II.
Zu dem erwähnten Rassismusvorwurf an Conrad hat unter anderem geführt, dass Conrads Alter Ego – der Erzähler Marlow – die Schilderung der grausamen Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung durch die Kolonisatoren, deren Symbol im Roman der unheimliche Mr. Kurtz bildet, mit Metaphern des Tierhaften und Triebhaften unterstrich. Hierin rezipierte er als Mittel der Kritik zeitgebundene koloniale Diskussionsmuster, wie sie sein Freund Rudyard Kipling wesentlich ausgeprägter („The White Man’s Burden“, 1899) verwendete. Davon ausgehend diskutiert der Autor auch die Evolutionstheorie nach Thomas Huxley („Evidence as to Man’s Place in Nature“, 1863). Diese Ausführungen werden schließlich in Hinsicht auf die Diskussion des Determinismus und Indeterminismus gesondert zusammengefasst. Dem Autor zufolge werden beide Konzepte auf thematischer und struktureller Ebene des Romans verarbeitet, wobei jedoch der persönlichen Moral und Freiheit des Erzählers der höchste Stellenwert zukommt. Dies spricht für Marlow/Conrad als einen Vertreter des Freien Willens.
Das zweite große Kapitel ist dem thematisch mit „Heart of Darkness“ verwandten Roman „Nostromo: A Tale of the Seaboard“ gewidmet. Dessen Schauplatz ist die fiktive Republik Costaguana. In ihr bündeln sich bestimmte klischeehafte Vorstellungen von Südamerika, wie aus dem Wechsel von Bürgerkriegen und Diktaturen in ihrer Geschichte abzulesen ist. Die Gesellschaft dieses Landes besteht aus einer Unterklasse aus bäuerlichen Mestizen und Indios, einer Oberschicht aus spanisch stämmigen landaristokratischen „Blancos“ sowie Zuwanderern aus Großbritannien und Italien. Zu ihnen zählt der Seemann Nostromo. Dies lässt den der Roman angemessen für die Analyse unter dem Aspekt der Whig- oder bürgerlichen Perspektive beziehungsweise marxistischen und darwinistischen Gedankenguts erscheinen.
Hierbei erweist sich, dass der Kampf um das Überleben des am besten Angepassten die Voraussetzung für die Existenz in dieser auf Egoismus, Materialismus und menschlicher Isolation beruhenden Gesellschaft ist. In seiner Düsternis, was gesellschaftliche Zukunftsperspektiven angeht, „Heart of Darkness“ verwandt, erscheinen auch in diesem Roman die Figuren mit einem Minimum an „moral sense“ nach Auffassung des Autors etwas freier und menschlicher. Er leitet hieraus eine Position Conrads zwischen einem „Fast“- Determinismus und einem Solipsismus beziehungsweise radikalen Indeterminismus ab.
Ähnliche Fragen in Bezug auf die gesellschaftlichen Determinanten menschlichen Verhaltens wie „Nostromo“ wirft auch der inmitten des Molochs London angesiedelte Roman „The Secret Agent“ auf, dem das letzte große Kapitel gewidmet ist: Was sind die eigentlichen verborgenen Antriebe im Handeln des Einzelnen? Ist deren stärkste Kraft das auf sich selbst gerichtete Interesse? Folgt hieraus das ungehemmte Aufeinanderprallen konträrer Interessen in der politischen und privaten Sphäre? Diesbezüglich gelangt der Autor zu dem Schluss, dass „The Secret Agent“ der pessimistischste unter Conrads großen Romanen ist, weil er die Möglichkeit einer uneigennützigen moralischen Handlungsweise unter den Bedingungen einer materialistisch-darwinistischen Welt radikal verneint.
Ein letzter Abschnitt ist der abschließenden Einordnung der drei Romane zwischen Determinismus und Freiem Willen gewidmet. Demnach ist Conrad als Inkompatibilist einzuschätzen. Genauer gesagt wechselt Conrads Haltung nach Auffassung des Autors zwischen „Fast“-Determinismus und Inkompatibilismus.
Hierin liegt auch das Problematische der Arbeit: die deduktive Methode des Autors führt dazu, dass die eigentlichen ästhetischen Qualitäten von Conrads Romanen nicht ausreichend zur Sprache kommen. Der Widerspruch zwischen Conrads Insistieren auf Moral und moralischer Verantwortung, als Voraussetzung für den Freien Willen in einer materialistisch-deterministischen Welt, die eben dies verneint, wird berührt. Er wird aber nicht weiter verfolgt.
|
||