„Führer befiehl…“
Aus der These der charismatischen Führerherrschaft entwickelt Hans-Ulrich Wehler in seinem Buch „Der Nationalsozialismus“ eine überzeugende Politikgeschichte des „Dritten Reichs“
Von H.-Georg Lützenkirchen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin sehr souveränes Buch. Der Autor, Hans-Ulrich Wehler, kann für seine Darstellung „Der Nationalsozialismus“ aus seiner üppigen „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ schöpfen. Der 2003 erschienene vierte Band dieses vielgelobten fünfbändigen Großwerks behandelte den Zeitraum 1914 bis 1949. Schon diese Darstellung des Nationalsozialismus empfanden viele Rezensenten als gelungene Gesamtdarstellung. Im Vorwort zum vorliegenden Band relativiert Wehler selbst diese Einschätzung, sei doch seine Analyse „als zusammenfassender Überblick nicht voll zur Geltung gekommen“. Zudem seien sie dort „vor allem Bestandteile der angestrebten umfassenden gesellschaftsgeschichtlichen Synthese“ gewesen. Nun aber stehe eine „keineswegs eng verstandene Politikgeschichte des Nationalsozialismus und des Führerabsolutismus eindeutig im Vordergrund“.
Wehler teilt seine Darstellung in drei Kapitel ein: Aufstiegsphase, Regimephase und „Das ,Dritte Reich‘ im Vernichtungskrieg“. Der Text ist klar gegliedert und prägnant formuliert. Man spürt eine angenehme schriftstellerische Solidität, wenig Expertenjargon. Wegen dieser Souveränität vertraut man dem Autor und seiner Kompetenz, mit der er souverän über die „Spitzenleistungen der einschlägigen Forschungsliteratur“ verfügt. Infolgedessen kann Wehler problemlos auch auf einen Anmerkungsapparat verzichten.
Die bestimmende Ausgangsthese seiner Darstellung der NS-Herrschaft formuliert Wehler gleich zu Beginn seiner Studie: „Ohne Hitlers charismatische Sonderstellung mit ihrem Monopol der Weltdeutung und Handlungsanweisung für den finalen Krieg zwischen Ariern und Juden wäre es nicht zum Holocaust gekommen.“ Diese Konzentration auf die vermeintlich außergewöhnliche Figur Hitler wird zu recht immer dann kritisch in Frage gestellt, wenn sie dazu neigt, aus dem Sonderstatus Hitlers eine geradezu unausweichlich anmutende Verführung des deutschen Volkes durch den ,mythischen‘ Führers herzuleiten. Schnell wird freilich klar, dass Wehler mit solchen kurzatmigen ,Unfalltheorien‘’ nichts zu tun hat. Die „charismatische Sonderstellung“ Hitlers alleine hätte nicht die verheerenden Folgen zeitigen können, wenn nicht entscheidende Faktoren hinzugekommen wären. Diese freilich bestätigten wiederum die „charismatische“ Führerrolle Hitlers.
Zu den Faktoren, die den Aufstieg der Nazis samt ihre Führers möglich machten, zählt Wehler einen seit 1918 zunehmend dynamischer werdenden deutschen „Radikalnationalismus“. Dessen Dynamik, in Kombination mit einem gezielt geschürten Angst vor dem ,Bolschewismus‘, mobilisierte seit den 1920er-Jahren den Massenanhang des Führers: „Es kann kein ernsthafter Zweifel bestehen, dass Hitlers Wirkung als charismatischer Prophet und sein plakativer Radikalnationalismus den stärksten Mobilisierungseffekt auslösten.“ Dieser Effekt konnte aber nur wirken, da es zugleich eine tiefsitzende Sehnsucht in weiten Teilen der der deutschen Bevölkerung nach einem „politischen Messias“ gab. Wehler spricht von einer gesellschaftlichen und sozialpsychischen Erwartungshaltung, „die einem Messias, einem ,zweiten Bismarck‘ in inbrünstiger Hingabewilligkeit entgegen fieberte.“
Sofort nach der ,Machtergreifung‘ begann die „totalitäre Revolution“, die eine „in der deutschen ja europäischen Verfassungsgeschichte einmalige Regimeform der charismatischen Führerdiktatur“ ausbildete. Nun gewann auch der zeitweise noch zurückgehaltene aber immer vorhandene und aggressive Antisemitismus der Hitlerbewegung an Bedeutung. Eingeschüchtert durch die gewaltintensive Dynamik der Hitlerherrschaft, aber auch aus „mangelnder Zivilcourage“, oder aber auch aus „hämischer, stillschweigender Billigung“ wurde die zunehmende „Apartheidspraxis“ hingenommen. Ein wichtiger Aspekt, auf den Wehler auch an anderer Stelle immer wieder hinweist: Trotz aller überwältigenden Dynamik der Bewegung, konnte sie letztlich nur deshalb ,erfolgreich‘ werden, weil es keine zivilgesellschaftlichen Traditionen und Strukturen gab, die ihr hätten Widerstand entgegenbringen können.
Die charismatischen Herrschaft führte zunächst zu einem „Ausbau von Hitlers Monokratie“. Doch parallel dazu entwickelte sich „eine Polykratie miteinander rivalisierender Partikulargewalten“. Zuweilen werden diese beiden „Herrschaftsphänomene“ von Historikern gegeneinander ausgespielt. Das, so Wehler, ist „erkenntnisblockierend“. „In der Realität des NS-Regimes gehörten die charismatische Einherrschaft und die Polykratie der Machtaggregate sogar mit systembedingter Notwendigkeit zusammen“, der „Pluralismus der Aktionszentren“ verstärkte letztlich, so kann Wehler plausibel zeigen, Hitlers „Führerherrschaft“.
Wehler strukturiert seinen Text immer wieder mit sehr ,einleuchtenden‘ direkten Fragen. So nähert er sich auch dem größten Verbrechen der NS-Herrschaft: Wie konnte es zur systematischen Vernichtungspolitik gegen die Juden in Europa kommen? Maßgebend war auch hier zunächst der „fanatische Antisemitismus“ Hitlers. „Erst der „Führerwille“ kanalisierte den dumpfen, gewaltbereiten oder den bisher nur schwadronierenden Antisemitismus in die Zielrichtung der Vertreibung und Vernichtung.“ Ihm „entgegenzuarbeiten“ wurde zu einem entscheidenden Impuls der Vernichtungspolitik. Dazu brauchte es auch keinen schriftlichen Befehl. Die Wechselbeziehung zwischen charismatischem Herrscher und einer ihm ,ergebenen‘ Gesellschaft schuf die verhängnisvolle Vernichtungsdynamik.
Wehlers Buch ist eine überzeugende Gesamtdarstellung der NS-Herrschaft. Es gelingt ihm, die zentrale These der charismatischen Herrschaft als plausiblen Ansatz zur Erklärung der komplexen und vielschichtigen Realität der NS-Herrschaft heranzuziehen. So wird er dem eigenen Anspruch nach einer „Politikgeschichte des Nationalsozialismus“ mehr als gerecht. Ein Standardwerk.
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