„Ich bin noch da. Wir sind alle noch da.“

Thomas Jonigks frühe Stücke zeigen einen politischen Autor, der seine Mittel beherrscht

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neues Theater hat es schwer, in genau bestimmbarer Hinsicht. Zwar ist in den letzten Jahren die Zahl der Uraufführungen gestiegen – doch ist unter den bestehenden Machtverhältnissen der Autor allzuoft dem Regisseur ausgeliefert, der ganz eigene Ideen hat, die mit dem Text nicht immer sehr eng verbunden sind. Kritisiert wird das Ergebnis dann als Werk des Autors, der heute vor einem Problem steht: sein Stück zu publizieren, so dass die Differenz zwischen der Absicht und der Umsetzung auf der Bühne immerhin überprüfbar wird. Der Buchmarkt hat sich verengt, auf Prosa. Lyrische und dramatische Texte sind kaum mehr verkäuflich.

Umso verdienstvoller ist es, wenn der Droschl Verlag Thomas Jonigks frühe Stücke als „Theater eins“ veröffentlicht. Der Titel weckt die Erwartung, bald auch „Theater zwei“ und vielleicht sogar „Theater drei“ lesen zu können.

Der erste Band vereint Stücke, die ihre Premieren zwischen 1994 und 2003 erlebten. „Von blutroten Sonnen, die am Himmelszelt sinken“ exponiert als frühester der Texte wichtige Motive, die sich durchs Theaterwerk ziehen werden: Die Familie als Gewaltzusammenhang, die schwache Position der Kinder, der Vater als Quelle der Brutalität, die Mutter als die von ihm folgsam Unterworfene, die die erlittenen Normen triumphierend den Kleinen aufzwingt. Vater, Mutter und Tochter, dazu ein Kindermädchen – es heißt Renzi „und sieht auch so aus“ – und am Ende der Teufel, den sich Jonigk auf jeden Fall mit Dreizack und Pferdefuß wünscht: Dieses extrem typisierte Personal bevölkert das Stück.

Die Psychologie der Familie wird gleichsam antipsychologisch ausgestellt: Indem Liebesbedürfnisse und Machtgesten unverdeckt ausgesprochen und ausgespielt werden, geben sich die Figuren einerseits keinerlei Illusionen über ihre Stellung im Ensemble hin. Die scheinbar weit reichende Selbsterkenntnis aber führt andererseits zu keinem Lernprozess, auch zu keiner Entwicklung.

Das wird unterstützt durch die Sprache, die Jonigk seinen Figuren verleiht. Sie verwenden keine Alltagssprache, verfügen kaum über einen persönlichen Ton, sondern führen eine Kunstsprache vor, die in ihrer Virtuosität den Vorbildern in der Wirklichkeit nicht entsprechen dürfte. Häufig funktioniert das über klangliche Assoziationen, die jedoch auch inhaltliche Dimension haben können: „Taten warten. Krieg. Sieg“, räsoniert der Mann, der sich gern erinnert: „Da war doch diese Bude und der Jude. Ich wollt rein und einer kam raus, den ich erschoss, was ich genoss.“

Die Erinnerung an den Faschismus ist in den drei ersten, im Herbst 1994 im Monatsabstand uraufgeführten Stücken stets präsent. In „Rottweiler“ besucht eine dominante Mutter ihre Tochter und zwingt sie zu Liebes- und Unterwerfungsbekenntnissen, die doch nie ausreichen. Dabei soll doch ein Festtag sein: „Es ist der zwanzigste April, und da will ich nicht streiten. Ich bin noch da. Wir sind alle noch da.“

Hitlers Geburtstag verewigt die Zeit, in der die Mutter „Blut und Boden“ für ihre Tochter geschwitzt haben will. Dass die Ältere versichern muss, noch da zu sein, verweist auf den einzigen Trumpf der Jüngeren: wahrscheinlich länger zu leben als ihre Unterdrückerin. Folgerichtig weitet die Mutter ihr Dasein ins Kollektive aus und wird bestätigt vom alsbald eintreffenden Freund der Tochter. Dieser, so schwächlich und verdruckst er auftritt, geriert sich als Sexprotz: „So wie ich hier stehe, gestehe ich: Alles an einem Mann muss standfest sein. Alles muss stehen. (Fasst sich an die Hose) Wollen die Damen den Stand der Dinge mal sehen?“

Er ist kriegslüstern wie der Vater aus „Von blutroten Sonnen, die am Himmelszelt sinken“: „Ein Mann muss ein Heer haben. Her mit dem Heer, hört die schaudernde Menschheit den Ruf des Helden.“ Eine Generation von schwachen Jungen bedeutet keine Hoffnung. Der Sohn in „Du sollst mir Enkel schenken“ ist homosexuell und schon deshalb kein geeigneter Kandidat, den völkisch motivierten Träumen seiner Mutter, die eine unüberschaubare Enkelschar wünscht, nachzukommen. „Jedes eurer zwölf Kinder soll Bundespräsident werden und auch noch im Alter aktiv sein“ – absehbar ist, dass aus dieser Zukunftsvision nichts wird. Doch taugt der Sohn, der zum Entsetzen seiner Mutter von der Norm abweicht, keineswegs zum Hoffnungsträger. Mit seinem verstorbenen Vater, der als Mediziner in der Nazi-Zeit eine Tätigkeit ausgeübt hat, von der sein Name „Klaus Lager“ eine grausige Ahnung vermittelt, teilt er die Verachtung alles Weiblichen. Es handelt sich um einen Fall von Homosexualität aus patriarchaler Überzeugung; und wenn die Soziologiestudentin, die seine Mutter ihm als Heiratskandidatin zuführt, dies nur interessant findet und vorurteilslos betrachten will, so wird deutlich, dass auch von akademischer Toleranz wenig zu erwarten ist.

Es ist dies das handlungsreichste der drei frühen Stücke, komödienartig, mit überraschenden Umschwüngen und viel Situationskomik. Ute Nyssen berichtet in einem instruktiven Nachwort davon, wie vor der Premiere im katholischen Bonn Angst vor einem Skandal geherrscht habe – schließlich tritt auch ein so unbeholfener wie geldgieriger Priester auf, der als Helfer der enkelgierigen Mutter agiert und zudem eine Stiftung für „Opfer einer jüdischen Justiz“ in der Nachkriegszeit leitet. Der Skandal blieb freilich aus, das Publikum reagierte freundlich. Das verweist auf eine mögliche Schwäche der Konzeption. Jonigk stellte mit überzeugenden Kunstmitteln eine Konstellation bloß, die es 1994 bis auf Restbestände schon nicht mehr gab. Grundstrukturen mögen erhalten sein – die aktuelle Panik angesichts einer geringfügig schrumpfenden Bevölkerung zeigt deutlich völkische Züge. Doch hatten sich die Begründungen auf der Oberfläche schon vor fünfzehn Jahren soweit modernisiert, dass die ganz primitiven Formen verlacht werden konnten.

Dies gilt viel weniger für „Täter“, uraufgeführt 1999. Das Thema sexueller Kindesmissbrauch war und ist aktuell. Das Stück unterscheidet sich in mehrerer Hinsicht deutlich von den früheren: Die Sprache ist stark vereinfacht, die Figuren sind nur noch auf der Ebene der Täter, die bei Jonigk durchweg aus höheren Schichten kommen, typisiert. Die Opfer dagegen entwickeln sich nun, entdecken vorsichtig eigene Gefühle und Möglichkeiten, sich über das Geschehene zu verständigen. Das ist in diesem Kontext notwendig: Jonigks Täter bekennen sich am Ende dreist zu ihren Verbrechen und behaupten, dass die Kinder doch auch Lust gewollt hätten. Die Opfer zu Schablonen zu reduzieren, hätte die Position der Täter unangemessen verstärkt.

Zu fragen ist freilich auch hier, wie stimmig die Konzeption ist. Dass sexuelle Kindesmisshandlung ein Verbrechen ist, wurde zum Glück auch 1999 kaum bestritten; das Stück ermöglicht also eine allzu einfache Identifikation mit der Opferposition. Die Komplexität der berechtigten allgemeinen Empörung über die missverständlich so bezeichneten „Kinderschänder“ gerät dabei nicht in den Blick. Kaum zufällig handelt es sich um eine Figur, die erst in der Zeit des Neoliberalismus Aufmerksamkeit findet: nicht, weil sie nun häufiger erscheinen würde, sondern weil sie sich zum individuellen Sündenbock eignet. Wer sich an den Schwächsten vergreift, ist der moralisch Böse schlechthin – so geraten strukturelle Gewaltverhältnisse, die politisch gewollt etabliert werden, aus dem Blick. Noch der übelste Gewaltverbrecher im Gefängnis fühlt sich berechtigt, es dem Sexualtäter in der Nachbarzelle zu besorgen. Angesichts all dessen überrascht, wie Jonigk, der zuvor strukturelle Gewalt nachzuzeichnen verstand, zwar zutreffend die individuelle Verantwortung der Täter benennt – doch die gesellschaftliche Funktion dieses neuen Täterdiskurses ausblendet.

Ganz anders stellt sich „Heliogabal“ dar, das Libretto für eine 2003 uraufgeführte Rockoper über die nur vier Jahre währende Regierungszeit dieses römischen Kaisers. Die Titelgestalt hat dabei nur wenige Worte zu sprechen oder zu singen: Wirtschaft, Militär und Familie regeln Aufstieg und Niedergang des Imperators. Das Stück beginnt wieder als Drama mit Müttern: Die mächtige Großmutter Maesa entscheidet, welcher ihrer Enkel Kaiser wird. Doch selbst wenn die Mütter ihre Söhne protegieren, bleibt diesmal doch der Kampf der Emotionen aus und entscheiden zuletzt die Zahlen, die der Senator und Unternehmer Claudius verkündet: „Umsatzverluste überall unter Heliogabal!“ Dagegen entwickeln sich die Werte von dessen Cousin Alexander prächtig: „Verkauf der Alexanderbiographie: plus 73 %! Alexanderpräsenz in den Medien: plus 80 %!“ So nimmt es nicht wunder, dass das Stück, das mit einem Blick auf die Leiche des Vorgängers Macrinus begann, mit dem Anblick des „beinahe unkenntlichen“ toten Heliogabal endet.

Der Ablauf hat keinen Sinn. Ein General fürchtet zwar, unter Heliogabal könnte Demokratie, gar Anarchie einreißen – doch handelt es sich nur um ein paar sexuelle Ausschweifungen, die keine Macht bedrohen. Dass die Gewalt nicht endet, dass es immer so weiter geht, scheint die Botschaft dieser Stücke. Der äußerste Fall einer konsequenten Opposition, zu dem sich die missbrauchten Kinder in „Täter“ durchringen, besteht darin, Verbrechen öffentlich anzuklagen und künftig dem Mittel dieses Verbrechens, der Sexualität, zu entsagen. Doch ist diese biografisch verständliche Askese kaum zukunftsweisender als der Sinnesrausch, den Heliogabal die vier Jahre seiner Regierungszeit feiern kann.

Doch durchzieht eine Reihe seltsam bukolischer Szenen das Stück „Täter“: heitere Zwiegespräche eines Schäfers mit seinem Schaf, deren letztes in einer Vorstellung schöner Kunst gipfelt. Das scheint mit dem Gezeigten nicht vermittelbar, ist aber besonders in den frühesten Stücken durch eine spielerische Behandlung der Sprache präsent, die der Ausweglosigkeit des Gezeigten widerspricht.

Dies ist eine durch politische Kunst vermittelte Hoffnung; als politische Hoffnung ist sie freilich kläglich, insofern sie nicht mehr aus einer der Sache abgewonnenen Handlung entsteht, sondern aus einem Darüberstehen des Autors, der seine Kunstmittel beherrscht.

Titelbild

Thomas Jonigk: Theater eins.
Mit einem Nachwort von Ute Nyssen.
Literaturverlag Droschl, Graz 2008.
288 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207405

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