Instabile Aufzeichnungen zwischen ‚tagheller Mystik‘ und Statistik

Constanze Breuers Monografie über die Tagebücher Robert Musils zeugt vom schwierigen Umgang mit dem Genre

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Tagebücher? Ein Zeichen der Zeit. So viele Tagebücher werden veröffentlicht. Es ist die bequemste, zuchtloseste Form“, notierte Robert Musil selbst in einem seiner Tagebücher. Mehr als 100 Jahre später ist dieses Urteil wieder höchst aktuell, denkt man allein an die unüberschaubare Masse im Internet publizierter ‚Blogs‘ oder ‚Online-Tagebücher‘. Schon diese moderne ubiquitäre Form des Tagebuchs lässt die Auseinandersetzung mit dem Genre reizvoll erscheinen, das seit den Tagebüchern Samuel Pepys’ oder den diaristischen Zeugnissen der Empfindsamkeit nichts an Faszinationskraft eingebüßt hat. Die Ausstellung „@bsolut privat? Vom Tagebuch zum Weblog“, die in den letzten eineinhalb Jahren mit großem Erfolg u.a. im Frankfurter „Museum für Kommunikation“ präsentiert wurde, belegte dies eindrucksvoll. An Bedeutung haben ‚kleine‘ Formen wie Tagebuch oder Brief nicht zuletzt gewonnen, seit mit dem ‚cultural turn‘ in der Literaturwissenschaft zunehmend nicht-kanonische Texte in den Blick genommen wurden und seit, im Zuge der Diskussion über Medialität und Materialität, den Quellen wieder ein größeres Gewicht zugemessen wird.

Ein Text, der – den Diarien Franz Kafkas vergleichbar – in gattungstheoretischer Hinsicht besondere Aufmerksamkeit verdient, ist das Tagebuch Robert Musils, dessen Charakter zwischen Arbeitsjournal, Ideenmagazin und Notizbuch changiert – bis hin zu Exzerpten zu mathematischen Theorien oder aus „Statistischen Jahrbüchern“. Die Dissertation von Constanze Breuer „Werk neben dem Werk. Tagebuch und Autobiographie bei Robert Musil“ bietet als erste umfassende Darstellung genaueren Einblick in dieses faszinierende Panorama von Musils Tagebüchern, die, wie Breuer bemerkt, bislang „kaum gelesen“ wurden.

Mit der Frage, ob es sich überhaupt um ein Tagebuch oder nicht eher um Notizen oder Aufzeichnungen handelt, geht die Autorin pragmatisch um, indem sie zu Recht auf den offenen Charakter des Genres verweist und das Gattungsproblem zudem als ein auch editionswissenschaftliches Problem analysiert. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus legitim, dass eine Auswahl aus den Tagebüchern getroffen wird, indem der Fokus auf das „autobiographische Schreiben“ gerichtet wird, wie es innerhalb von Musils Heften in den unterschiedlichsten Facetten zu beobachten ist. So finden sich zahlreiche Ansätze zu einem „fingierten autobiographischen Schreiben“ in den zumeist fragmentarischen Entwürfen zu fiktiven Tagebüchern, so den „Blättern aus dem Nachtbuche des monsieur le vivisecteur“ (um 1900), dem „Tagebuch Hippolyte“ (um 1903), der „Versuchung der stillen Veronika“ (seit 1908), dem „Kriegstagebuch eines Flohs“ (seit etwa 1924) oder, im Kontext der geplanten Fortsetzung des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“, dem Tagebuch Ulrichs (seit 1934). Daneben gibt es „autobiographisch angelegte Notizen“, die das eigene Leben und Schaffen Musils reflektieren.

Im Mittelpunkt von Breuers Studie stehen die Konstellationen, die sich zwischen Tagebuch-Notizen und literarischem Werk beobachten lassen – ganz konkret etwa, indem Entwürfe in Musils Heften skizziert werden, aber auch indem die Bedingungen und Möglichkeiten des Schreibens reflektiert werden. Anders als bei Thomas Mann oder, auf andere Weise, bei Harry Graf Kessler, stiften die Tagebücher jedoch keine Stabilität innerhalb der literarischen Existenz; dem teils emphatischen „Vorsatz zum Tagebuchschreiben“ folgt häufig schon bald der „Abbruch der Aufzeichnungen“. Als konstitutiv für das diaristische Schreiben erscheinen „eine sich in zahllosen Einfällen ergehende Bewegung der Möglichkeiten und eine auf die problematischen Bedingungen dieser Bewegung gerichtete Reflexion“. Die Tagebücher geben aber nicht nur Einblick in die produktionsästhetischen Probleme des zunehmend unter Schreibhemmungen leidenden Autors, sie fungieren vielmehr geradezu als beredte Zeugen einer „Emigration in eine individualistische Utopie“. In diesem Zusammenhang gelingen Experimente, die von höchstem poetischem Wert sind. So nähert sich Musil in den späten, um 1940 entstandenen Genfer Garten-Schilderungen dem Ideal einer reinen, die Gegenstände ekstatisch ‚bei sich’ lassenden Beschreibung als einer Form ‚tagheller Mystik‘.

In Breuers Monografie stellt die eindringliche Analyse von Musils später Garten-Diaristik jedoch leider eher die Ausnahme dar. Poetologische und gattungstheoretische Fragestellungen werden zwar einleitend thematisiert, im weiteren Verlauf aber dem Bestreben geopfert, eine möglichst umfassende Darstellung der Aufzeichnungen zu liefern. Es handelt sich somit über weite Strecken um einen langatmigen Durchgang durch viele, qualitativ sehr unterschiedliche Tagebuch-Texte, ohne dass ein gattungstheoretischer Ertrag erzielt würde. Nicht zufällig fehlt daher am Schluss der Arbeit ein Fazit. Aber auch für die Interpretationsarbeit selbst wirkt sich das Fehlen der gattungstheoretischen Meta-Ebene verhängnisvoll aus. So wird die Tatsache, dass sich Musil in einem Tagebucheintrag vom Sommer 1914 dem Krieg gegenüber wesentlich kritischer äußert als in seinem Propagandaartikel „Europäertum, Krieg, Deutschtum“, durch eine biografische Entwicklung zu erklären versucht anstatt durch das Vorliegen zweier unterschiedlicher Textsorten.

Damit ist das größte Manko bereits angedeutet. Es ist darin zu sehen, dass der Untersuchung ein völlig unklarer Textbegriff zugrundeliegt und neuere theoretische Ansätze, gerade der Autobiografie-Forschung, nicht nutzbar gemacht werden. Von einer Selbsthervorbringung des Subjekts in der Autobiografie oder Strategien der Selbstinszenierung oder Selbstüberredung ist kaum die Rede. Praktiziert wird auf der Suche nach einer „Erkenntnis der Inhalte“ vielmehr eine geradezu naive hermeneutische Herangehensweise, „eine Art mimetisches Hineindenken […], um ihn [den Text] von innen, d.h. aus seinen eigenen Bedingungen heraus zu verstehen“. Von Interesse ist das Subjekt des Autors, etwa das „bedrohliche […] existenzielle […] Ungleichgewicht […], von dem Musils Leben […] geprägt war“ – das Tagebuch, so die Verfasserin, nehme „die existenziellen und künstlerischen Sorgen Musils in sich auf“. Das erinnert an die längst überwunden geglaubte Forschungstradition, Tagebücher als Zeugnisse für das Leben eines Dichters anzusehen, statt sie als eigenständige Texte ernst zu nehmen. Dieses methodisch nicht ausreichend reflektierte Vorgehen setzt sich fort bis in die teilweise sehr ungenaue Terminologie, etwa wenn von einer „Zusammensetzung verschiedener Ereignisbilder“, „ästhetische[r] Anteilnahme“ oder dem „semantischen Grundriss einer Autobiografie“ die Rede ist oder wenn schließlich gar ein Tagebucheintrag „aufscheint“. Zu einer streckenweise unerfreulichen Lektüre wird Breuers Dissertation zudem durch sprachlich-stilistische Fehler („das“ und „dass“ werden andauernd verwechselt) und durch eklatante historische Fehleinschätzungen, etwa im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg. Der Untersuchung kommt somit zwar das Verdienst zu, eine Schneise in das wenig zugängliche Terrain von Musils Tagebüchern geschlagen zu haben; dem eingeschlagenen Weg ist aber nicht unbedingt Folge zu leisten.

Titelbild

Constanze Breuer: Werk neben dem Werk. Tagebuch und Autobiographie bei Robert Musil.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2009.
357 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783487139449

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