Deutsches Nachkriegskaleidoskop
Ein opulenter Band stellt das Werk des Fotografen Hannes Kilian vor
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuch wenn es für einen Zeitgenossen des frühen 21. Jahrhunderts merkwürdig klingen mag, eine Ära ist vorüber, ein historischer Raum, den wir zumeist als Nachkriegszeit bezeichnet haben und der eigentlich nicht erst mit dem Mai 1945 begann. Geprägt wurden diese Nachkriegsjahrzehnte durch Politiker, Journalisten, Autoren, Unternehmer und Künstler, die ihre Sozialisation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfahren hatten und die nun, befreit vom nationalsozialistischen Regime, der Moderne erst ihr Gesicht zu geben vermochten, die in eine offene Auseinandersetzung mit ihr eintraten, an der auch die Restaurationsjahre und die Ideen der formierten Gesellschaft nichts haben ändern können.
Dabei blieben alle Akteure entscheidend von den Jahren zwischen 1910 und 1945 geprägt, von den Extremen der beiden Weltkriege, der ersten deutschen Republik, ihres Alltags und ihrer politischen Auseinandersetzungen und den Avantgarden. Um es auf die Kunst zu fokussieren: Den Werken der Nachkriegsjahrzehnte ist dieses Wissen um die Abgründe und die persönliche Erfahrungen, die die einzelnen Künstler gemacht haben, anzumerken. Ihnen fehlt der Unbedingtheitsgestus, der noch den historischen Avantgarden um 1910 anhaftete, die vorbehaltlose Erkundung des künstlerischen wie sozialen und politischen Geländes. Der offene Horizont der Avantgarden um 1910, von dem Theodor W. Adorno sprach, war ihnen verstellt.
Das fotografische Werk Hannes Kilians, das der von Klaus Honnef herausgegebene Band in einem Querschnitt vorstellt, ist für dieses Phänomen eines der aussagekräftigsten Beispiele.
Keine Frage, Kilian war einer der Großen seines Fachs: Es gibt nur wenige Kollegen, die es in der Aufteilung der Fläche, in der Präsentation seiner Objekte, in der Spannung zwischen Porträtiertem und Ambiente zu einer solchen Meisterschaft gebracht hätten. Und auch wenn der Band Kilian vor allem als einen der Großen der Theater- und Ballettfotografie einführt, der Querschnitt seines Werks zeigt, welche Qualitäten er auch in anderen Genres hatte.
Zweifelsohne sind seine Aufnahmen vor allem des Stuttgarter Balletts, dessen große Zeit unter der Leitung John Crankos Kilian begleitet hatte, beeindruckend, gerade weil sie die Dynamik und schwebende Eleganz des Ensembles in außergewöhnlicher Weise festzuhalten, ja fortzuschreiben scheinen.
Aber daneben können seine umfangreichen Reportagearbeiten nicht nur bestehen, sondern zeigen die eigene Handschrift des Fotografen, in denen die grafische Auflösung der fotografischen Fläche die Verbindung zwischen den verschiedenen Werkgruppen darstellt. Ob nun der Rote Platz in Moskau 1972, die Volkstänzer auf Rhodos 1959, das Oktoberfest in München 1953, die Stalinallee 1959 oder auch die zahlreichen Fotografien aus dem Stuttgart der letzten Kriegsjahre und der ersten Nachkriegsjahre: Kilians Arbeiten sind nicht nur handwerklich saubere Reportagefotografien, sondern weisen eine Substruktur auf, die Sujet und Interpretation weiter tragen als es für den Einsatz in der Massenpresse nötig wäre.
Das wird vor allem am teilweisen Nachdruck einer Serie des Journalisten Peter Kümmel erkennbar, der 1995 insgesamt 23 Fotos Kilians mit kurzen Texten kommentiert in den „Stuttgarter Nachrichten“ abdruckte. Zu sehen sind im Band Fotos aus den Bombardements der letzten Kriegsjahre, Theodor Heuss, der Zigarre rauchend neben einem amerikanischen Besatzungsoffizier sitzt, die Verleger Ernst Rowohlt und Heinrich Maria Ledig Rowohlt, Augenblicksaufnahmen aus der Zeit der Währungsreform – als essayistische Aufnahmen bezeichnete Kümmel Kilians Fotografie, und seine Texte dienten dazu, die Themen und Hintergründe der Fotografien auszuloten und zu öffnen.
Bemerkenswert sind auch die frühen Arbeiten aus den 1930er-Jahren, aus Italien oder von der Pariser Weltausstellung, die er als Reisebegleiter und eben nicht als Fotograf besuchen konnte.
Und damit fangen die Fragen schließlich an, die der einleitende biografische Essay Klaus Honnefs eben nicht beantwortet, ganz im Gegenteil, vor denen der sich anscheinend bewusst abgrenzt. Denn wie kommt Kilian in den 1930er-Jahren nach Italien und nach Frankreich, Länder, in die er ja nicht als Exilant reiste?
Die Biografie kann bei Fragen dieser Art vielleicht helfen: Der 1909 in Ludwigshafen geborene Hannes Kilian absolvierte zwischen 1928 und 1931 eine Fotografenlehre n der Schweiz, konnte sich nach der Lehre dort für zwei Jahre etablieren, bis er das Land verlassen musste, da er anscheinend die Staatsangehörigkeit aus finanziellen Gründen nicht erwerben konnte. Der knapp 24jährige ging danach, folgt man Honnefs Darstellung, aufgrund der politischen Verhältnisse in Deutschland in die Emigration nach Italien, das allerdings gleichfalls ein faschistisches Land war und insofern, politisch gesehen, keine Alternative. Ab etwa 1936 arbeitete Kilian dann wieder in Deutschland, veröffentlichte in der „Stuttgarter Illustrierten“ und im „Schwäbischen Bilderblatt“, ging dann aber als Reiseleiter nach Frankreich, wo er bis 1938 blieb. Bilder aus diesen Jahren wurden weiterhin in Deutschland publiziert, etwa in Lifestyle- und Kultur-Blättern wie „die neue linie“ oder in „Die Kunst“. 1941 einberufen, arbeitete Kilian als Fotograf und Kameramann in den Propagandakompanien der Wehrmacht, bis er Anfang 1944, mittlerweile aufgrund einer Kriegsverletzung ausgemustert, wieder nach Stuttgart zurückkehrte.
Hinweisen aus Honnefs Essay ist zu entnehmen, dass Aufnahmen aus der Wehrmachtszeit in den üblichen Propagandapublikationen verwendet worden sind, etwa – wie anzunehmen ist – in Zeitschriften wie „Signal“ oder „Echo“. Auch Kilians Publikationen in Deutschland nach 1933, für der Fotograf auch (anscheinend 1936) in den „Reichsausschuss der Bildberichterstatter“ eintrat, sind Honnef erklärungsbedürftig.
Dennoch wird er in seiner Darstellung in diesen Passagen merkwürdig unscharf und lavierend: Zweifelsohne ist jeder Autor oder Künstler, der nach 1933 in Deutschland blieb oder dort publizierte, in das gesellschaftliche System integriert und insofern auch mitverantwortlich für das, was darin geschieht. Davor ist weder heute noch damals jemand geschützt, so sehr er sich auch seine Unabhängigkeit bewahrt haben mag. Es gibt kein Jenseits der Gesellschaft. Und je mehr ein Autor oder Künstler ein System beliefert und unterstützt, desto stärker ist er ihm verbunden und damit mit den Zielen und Handlungen, die von ihm ausgehen.
Gerade in der Unhinterschreitbarkeit mindestens der moralischen, wenn nicht der politischen Verantwortung jedes Deutschen für das NS-Regime und seine Verbrechen steckt das Erbe jener Jahre. Gerade die NS-Verbrechen sind es, die den offenen Horizont der Avantgarden, um darauf zurückzukommen, verstellen.
Hinzu kommt, dass Kilian nach allem, was Honnef berichtet, eben nicht als gescheiteter Exilant (und hier ist noch einmal auf den Unterschied zwischen Emigration und Exil zu bestehen) zu verstehen ist, sondern als jemand, der sich, soweit das ging, ohne die schlussendliche Konsequenz zu ziehen, dem NS-Regime zu entziehen hoffte, und sei es, indem er ins faschistische Italien ging.
Dies war zweifelsohne für Kilian, dem damit keineswegs eine Verstrickung ins NS-Regime nachgesagt werden soll – dafür besteht kein Anlass –, damals eine schwierige Situation und macht seine Biografie in der Rücksicht keineswegs einfacher. Das Problem, das offensichtlich auch Honnef gesehen hat, aber mit einem Zitatverschnitt aus Helmut Kohl und Bertolt Brecht und einem Generalurteil über die Nachgeborenen („gerüttelt Maß an Selbstgerechtigkeit“) zu lösen, ist, wenn nicht billig, so doch nicht angemessen.
So bleibt nach der Lektüre des Bandes trotz des hervorragenden Eindrucks, den das Fotomaterial hinterlässt, doch der Wunsch nach einer genaueren und sachlicheren Darstellung der frühen Biografie Kilians zurück. Und zwar vor allem, um sich dessen klarer zu werden, dass jede Biografie an ihre Bedingen unhinterschreitbar geknüpft ist. Für eine Publikation, die immerhin eine Ausstellung im von der Bundesregierung geförderten Berliner Martin-Gropius-Bau (erneut 2010 in Stuttgart) begleiten soll, wäre das mindestens Pflicht.
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