Onkel und Neffe
Reggie Nadelsons Krimi arbeitet sich an einem anthropologischen Archetypus ab
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Beziehung zwischen einem jungen Mann und dem Bruder seiner Mutter ist in den europäischen Gesellschaften (und nicht nur dort) etwas Besonderes. Nicht weil die emotionale Bindung zwischen Onkel und Neffen generell groß wäre, sondern weil der Mutterbruder die frauengebende Familie vertritt und weil der Spross der Schwester der erste echte gemeinsame Verwandte beider Familien ist. Das spielt in Gesellschaften eine Rolle, in denen die sozialen Beziehungen vor allem über Verwandtschaft geregelt werden.
In den modernen Gesellschaften spielen Verwandtschaftsbeziehungen zwar keine größere Rolle mehr (außer bei Handwerker- und Ganovendynastien), Reste der alten Verhaltensschemata sind aber geblieben und harren der Gestaltung. In Reggie Nadelsons New York-Krimi, der im russischen Emigrationsmilieu spielt, sind es der Polizist Artie Cohen und sein Neffe Billy Farone, die in dieser archetypischen Bindung gefangen sind.
Dabei hat das noch eine besondere Geschichte: Billy kehrt für zwei Wochen aus einer Besserungsanstalt nach New York zurück, wohin ihn Artie drei Jahre zuvor hat verfrachten können, nachdem er – auch noch von Artie – neben der Leiche eines geistig etwas zurückgebliebenen Mannes gefunden wurde, den er anscheinend über mehrere Tage systematisch zu Tode gequält hat. Der 11jährige kommt dafür aber nicht ins Gefängnis oder wird zum Tode verurteilt, sondern wird in psychiatrische Behandlung gegeben.
Nun, als 14jähriger, darf er das erste Mal wieder nach New York, und weil seine Eltern lieber für eine Woche nach London fliegen, statt ihren verlorenen Sohn daheim zu empfangen (welches daheim? Billys Zimmer ist ausgeräumt und neu tapeziert, seine Sachen stehen in der Garage und sein Aquarium gammelt im Garten herum), muss Onkel Artie einspringen. Ein Glück, dass seine Frau gerade mit den Kindern auf Urlaub ist, so hat er die Zeit, sich um Billy zu kümmern.
Von Beginn aber liegt ein Schatten über der Begegnung von Onkel und Neffen, wie allerdings kaum anders zu erwarten gewesen wäre: Was ist aus dem Jungen geworden? Ist er von seiner merkwürdigen Krankheit, was immer diese war, geheilt? Ist er nun ein normaler 14jähriger, der sich für Mädchen zu interessieren beginnt und der froh ist, in seine Heimat zurückzukehren? Artie stellt sich diese Fragen permanent und den ganzen Krimi lang, und beantwortet sie immer wieder positiv: Ja, Billy ist ein ganz normaler junger Mann.
Nur die Handlung, die Nadelson um diese Kernsituation spinnt, will ihm so gar nicht Recht geben. Das fängt schon mit der ersten Szene auf Coney Island an, bei der eine einmotorige Maschine vor den Augen der beiden abstürzt. Die Begegnung mit Arties ehemaligem Chef Sonny Lippert kurze Zeit später ist auch nicht gerade entspannt, als Sonny Billy erkennt. Kurze Zeit später trudeln auch schon die ersten Drohanrufe ein, dass Billy so schnell wie möglich das Weite suchen soll. Die beiden werden auf ihren Fahrten durch die Stadt verfolgt. Hinzu kommt eine merkwürdige Mordserie an kleinen Kindern und das nicht minder merkwürdige Verschwinden des Mannes einer entfernten Verwandten von Sonnys Freundin, um die sich Artie kümmern soll.
Artie kümmert sich um Billy, und kann es am Ende doch nicht so, wie er gerne möchte, denn ohne es zu wollen wird er in die Ermittlungen um die Kindermorde eingebunden, muss er sich um die vermeintlichen oder tatsächlichen Verfolger und Drohanrufe kümmern und schlägt sich auch noch telefonisch mit seiner Frau herum, die nicht will, dass das ehemalige Mörderkind in der gemeinsamen Wohnung ist.
Ob nun das im Laufe der turbulenten Handlung wachsende Misstrauen gegen Billy gerechtfertigt ist oder nicht, bleibt lange unklar. Klar ist aber, dass Billy um die Zuneigung Arties kämpft, dass er ein Leben in seiner Nähe wünscht, und dass er nur mit Unwillen an seine Rückkehr ins Heim denkt. Nähe und Misstrauen wechseln in der Beziehung der beiden beständig, wobei Nadelson die Geschichte des Paares aus der Perspektive Arties erzählt. Billy bleibt für die Leser bis zum Schluss eine black box, in die niemand hinein blickt.
Allerdings legt Nadelson die Linien ihrer Handlung klar genug an, dass deren Ende einigermaßen absehbar ist. Denn selbstverständlich ist aus dem genüsslichen Mörder kein empfindsamer Junge geworden, der unter den üblichen Adoleszenzkrisen Pubertierender leidet: Billy ist ebensosehr ein Waise, der um Anerkennung und Nähe kämpft, wie die kleine Luda, die Freunde Arties aus Russland in die USA geschmuggelt haben. Wo der Unterschied zwischen einem kaltherzigen Elternhaus und fehlenden Eltern sein soll, verschwimmt auf diese Weise, man kann einräumen, zurecht.
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