Künstlerträume
Adelheid Koch-Didier gibt den „Hyle“-Roman aus dem Nachlass des Dadaisten Raoul Hausmann heraus
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Einfluss das Dadaismus auf die Kultur der Moderne ist kaum zu überschätzen. Bildende Kunst, Literatur und Musik haben aus dem artifiziellen Feuerwerk, das die genialen Dilettanten zu Beginn des 20. Jahrhunderts entfachten, weit reichende Anregungen entlehnt. Die Entgrenzung der formalen Mittel ebenso wie die der inhaltlichen Bestimmungen wie der gesellschaftlichen Funktion von Kunst ist (neben den anderen, zeitgleichen Avantgarden) vom Dadaismus radikal betrieben worden. Und hinter diese Möglichkeiten kann seitdem Kunst im Ganzen nicht mehr zurück, ebenso wenig wie Gesellschaft.
Allerdings haben die Dadaisten selbst davon nicht durchgehend profitiert. Insbesondere extreme Gestalten wie Raoul Hausmann, die sich noch nach dem Höhe- und wohl auch Endpunkt des Dadaismus 1920 (mit Dada Berlin) dem dadaistischen Projekt verschrieben, haben sich nur mit Mühe etablieren können, mussten sich nach dem Krieg intensiv um die Anerkennung ihrer eigenen Leistungen bemühen und dabei auch den Vorrang etwa gegen die Neomoderne und insbesondere Neo-Dada behaupten.
Die Bedeutung des 1886 in Wien geborenen und 1971 in Limoges gestorbenen Raoul Hausmann für die Literatur- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts dürfte unbestritten sein, und zwar obwohl Hausmann als Autor wie als Künstler wie als Person ein Mann der Extreme war und anscheinend keinen Widerspruch gescheut hat, um das künstlerische Projekt, mit dem er permanent befasst war, weiter voranzutreiben. Dabei gehört das „Hyle“-Projekt zu seinen Arbeitsvorhaben, die er nach dem Ende von Dada Berlin begann, in etwa zeitgleich zum Beginn seiner Beschäftigung mit der Fotografie, zu deren Etablierung als Kunstform wie zu deren stilistischer Entwicklung Hausmann gleichfalls beigetragen hat. An „Hyle“, das als, wie die Herausgeberin Adelheid Koch-Didier berichtet, eines der legendären Dada-Romanprojekte gilt, hat Hausmann zwischen 1926 und 1958 gearbeitet. Die von Koch-Didier vorgelegte zweite Fassung „Hyle II“ stammt aus den Jahren 1946 bis 1958. Hausmann hat an dem Projekt mit Unterbrechungen gearbeitet. Ende der 1960er-Jahre nahm er das Manuskript nach mehreren vergeblichen Versuchen es zu publizieren nochmals vor, um es für die Publikation im Frankfurter-Heine-Verlag fertig zu stellen, der es 1969 vorlegte. Allerdings war das Buch nach dem kurz darauf erfolgten Zusammenbruch des Verlags schnell wieder vom Markt verschwunden und ist seitdem eher als Rarität zu sehen.
Der nun vorgelegte Band ist von Koch-Didier, die seit Jahren das Werk Hausmanns intensiv betreut und eine Reihe von Studien und Editionen zu Hausmann publiziert hat, auf der Basis des im Musée départemental d’art contemporain in Rochechouart liegenden Nachlasses herausgegeben worden. Als Grundlage diente neben der Publikation des Jahres 1969 ein Manuskript-Konvolut von 289 Blatt, das den ungekürzten Text des „Hyle II“-Projektes enthielt. Die größeren Abweichungen zur alten Fassung sind in der nun vorliegenden Edition mit eckigen Klammern gekennzeichnet – eine weitere editorische Aufbereitung etwa im Sinne einer historisch-kritischen Ausgabe hat die Herausgeberin zugunsten der nun vorliegenden Leseausgabe nicht vorgenommen, eine editorische Entscheidung, die dem puristischen Editorengemüt wohl nicht gefallen wird, die aber den Text essentiell nicht berührt. Und das aus drei Gründen: Zum einen ist die Herstellung eines Textes, der neben den beiden Hauptmanuskripten in einer Vielzahl von kleineren Bearbeitungsstufen und Verweisen aufgeht, anders kaum zu bewältigen. Zum anderen sind Hausmanns Projekt, seine Themen, Inhalte und stilistischen Mittel deutlich genug erkennbar. Und schließlich sind die stilistischen Schwankungen zwischen den Bearbeitungsstufen immer noch zu sehen. Notizen und unausgearbeitete Passagen stehen neben elaborierten Textabschnitten, die – wenn man den Kennzeichnungen der Editorin folgen darf – so in der Publikation von 1969 standen.
Adelheid Koch-Didier verortet das „Hyle“-Projekt im Spannungsfeld der großen, avantgardistischen und modernistischen Romanprojekte des 20. Jahrhunderts. Ihre Referenzen sind neben Carl Einstein (dessen Verweis nahe liegt) Franz Kafka, Alfred Döblin, Hermann Broch und Robert Musil, die – jeder auf seine Weise – an der Entwicklung (und eben nicht Auflösung) der Romanform mitgewirkt haben.
Lässt man das Bemühen um die Aufwertung des Textes beiseite, bleibt freilich in der Tat ein stilistisch und formal interessanter Text, der sich zwar einerseits als groß angelegtes Prosaprojekt präsentiert, dabei jedoch die Eckelemente des realistischen Romans, auch in seiner modernen Form, hinter sich lässt.
Zwar ist der zeitliche und örtliche Rahmen von Hausmanns Prosa erkennbar genug. Der Text referiert auf die Exilzeit Hausmanns in Spanien und beginnt mit der Ankunft aus der spanischen Insel Ibiza im März 1933 und endet mit der Abreise im September 1936, die aufgrund der instabilen spanischen Verhältnisse notwendig wurde und die weitere Exilierung Hausmanns und seiner Frau Elfriede Mankiewicz zur Folge hatte. Erst spät, 1944, kam Hausmann in Limoges zu einem ständigen Wohnsitz, wenn auch wohl nicht zur Ruhe.
Die Kreisstruktur des Textes, der sich als Collage unterschiedlicher Textformen präsentiert, verweist, so Koch-Didier, auf die „permanente Emigration“ als Haltung und Lebensform. Thematisch stehen jedoch allgemeine Reflexionen neben Beobachtungen der spanischen Lebensformen, der Landschaft oder der Erfahrungen, die der Ich-Erzähler Gal mit seinen Lebensgefährtinnen „die Kleine“ und Ara macht.
Im Zentrum des Textes, der keine Handlung hat, sondern als Abfolge von reflektierenden Textpassagen zu verstehen ist, die um Stationen und Themen versammelt sind, steht allerdings die Auseinandersetzung Gals mit Ara, die sich aus der Dreiecksbeziehung zu lösen versucht. Reflexionen über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen stehen neben Diskussionen über die sexuelle Performance der Beteiligten. Der zunehmend eifersüchtige Gal betrachtet Ara mit immer größerer Sorge, was die Trennung schließlich nicht verhindert, die in einem in Paris angesiedelten Exkurs einer intensiven Nachbetrachtung unterzogen wird.
Nun sind Hausmanns Dreiecksbeziehungen vielleicht eine eher amüsante Spätfolge der Enttabuisierung der Geschlechterverhältnisse, die die Person Hausmann diskreditiert. Im Text hingegen, der passagenweise aus der Perspektive Aras geschrieben ist, geht Hausmann mit seiner Figur Gal allerdings teilweise selber scharf ins Gericht, ohne allerdings die Selbstverständlichkeit der Dreiecksbeziehung je in Zweifel zu ziehen.
Beinahe amüsant sind dabei die reflexiven Passagen, die sich anderen Themen wie der Zeitwahrnehmung oder der Mathematik („Die Mathematik ist darum so schwer, weil sie unverständlich zu handhaben ist.“) widmen, allerdings auch an den gewohnten dadaistischen Sprechgestus anschließen: „Rot spricht die Granatblüte vom Munde Tanits, die ihren Klang überhört, ihr Leuchten nicht sieht, nicht den Donner erkennt als der Olivenblätter Beben im blutig-wasserigen, ja, im weindunkeln Meerwasser, das Ebusos bedeckt.“ Eine Aufgabe für Entschlüsseler, die nicht sicher sein können, ob die Bilder am Ende aufgehen.
Aber auch sie verweisen auf die Wahrnehmungsskizzen, die Hausmanns literarische Arbeit an sein fotografisches Werk anschließbar machen. Koch-Didier hat dankenswerter Weise dem Band Fotografien Hausmanns beigegeben, die sein Interesse für Strukturen und für die Grafik des Wiederzugebenen zeigen.
Der Band ist mithin als aufschlussreiches Stück einer Literatur- und Kunstgeschichte des Dadaismus nach seinem vermeintlichen Untergang um 1920 zu sehen. Er lässt erkennen, welchen Weg Hausmann gegangen ist und welche formalen Mittel und welche Medien er sich dabei erschlossen hat. Zumindest das macht die Edition Koch-Didiers verdienstvoll. Um den Rest werden sich Leser und Forscher gleichermaßen kümmern müssen.
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